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Am Tag, bevor Doktor Diver die Riviera verließ, verbrachte er die ganze Zeit mit seinen Kindern. Er war nicht mehr jung genug, um, was ihn selbst betraf, den Kopf voll angenehmer Gedanken und Träume zu haben, darum wollte er eine schöne Erinnerung an die Kinder mitnehmen. Es war ihnen gesagt worden, daß sie diesen Winter bei ihrer Tante in London zubringen würden und daß sie ihren Vater bald in Amerika besuchen sollten.
Er war froh, daß er sich so viel mit seinem kleinen Mädchen beschäftigt hatte – über den Jungen war er sich weniger klar – er hatte nie so recht gewußt, was er mit dem lebhaften, zärtlichen, grüblerischen Knaben anfangen sollte. Aber als er ihnen Lebewohl sagte, hätte er ihre schönen Köpfe am liebsten zu sich hochgehoben und stundenlang an sich gepreßt.
Er umarmte den alten Gärtner, der vor sechs Jahren den ersten Garten der Villa Diana angelegt hatte; er küßte das provenzalische Mädchen, das die Kinder betreute. Sie war fast zehn Jahre bei ihnen gewesen, und jetzt warf sie sich auf die Knie und weinte, bis Dick sie aufrichtete und ihr dreihundert Franken gab. Nicole war, ihrer Vereinbarung gemäß, noch nicht aufgestanden; er hinterließ einen Brief für sie und einen für Baby Warren, die gerade von Sardinien zurückgekehrt war und sich bei ihnen aufhielt. Dick goß sich ein großes Glas Weinbrand aus einer riesigen Flasche ein, die mehr als zehn Liter faßte und ihnen von irgend jemand geschenkt worden war.
Dann beschloß er, sein Gepäck am Bahnhof von Cannes zu lassen und einen letzten Blick auf Gausses Strand zu werfen.
Am Strand befanden sich nur einige Kinder, als Nicole und ihre Schwester an jenem Morgen hinkamen. Eine weiße Sonne, deren Umriß von einem weißen Himmel aufgesogen wurde, brütete über einem windstillen Tag. Kellner schafften zusätzliches Eis in den Ausschank; ein amerikanischer Photograph arbeitete mit seiner Ausrüstung auf einem schattigen Plätzchen und blickte jedesmal schnell hoch, wenn er Schritte die Steinstufen herunterkommen hörte. Im Hotel, in verdunkelten Zimmern, schliefen seine voraussichtlichen Kunden nach ihren bei Morgengrauen genommenen Schlafmitteln bis in den Vormittag hinein.
Als Nicole zum Strand kam, sah sie Dick – nicht im Badekostüm – oben auf einem Felsen sitzen. Sie zog sich schnell in den Schatten ihres Badehauses zurück. Gleich darauf kam Baby zu ihr und sagte:
»Dick ist immer noch hier.«
»Ich habe ihn gesehen.«
»Ich finde, er könnte den Takt besitzen zu verschwinden.«
»Das ist sein Strand – in gewisser Weise hat er ihn entdeckt. Der alte Gausse sagt immer, er verdanke Dick alles.«
Baby sah ihre Schwester ruhig an.
»Wir hätten ihn bei seinen Radtouren lassen sollen«, stellte sie fest. »Wenn Menschen aus ihrer Sphäre herausgehoben werden, verlieren sie den Maßstab, einerlei wie bezaubernd sie sich geben.«
»Dick war mir sechs Jahre lang ein guter Mann«, sagte Nicole. »Während der ganzen Zeit habe ich um seinetwillen keine Minute Schmerzen gelitten, und er hat stets alles getan, um mich vor Kummer zu bewahren.«
Babys Unterkiefer schob sich etwas vor, als sie sagte:
»Dazu hat er seine Ausbildung genossen.«
Die Schwestern saßen schweigend da; Nicole beschäftigte sich in Gedanken müde mit den Dingen, und Baby überlegte, ob sie einen der letzten Anwärter auf ihre Hand und ihr Geld, einen wirklichen Habsburger, heiraten sollte. Eigentlich dachte sie nicht darüber nach. Babys Affären waren sich allmählich so ähnlich geworden, daß sie ihr, als sie älter wurde, ihres Gesprächswertes wegen wichtiger schienen als wegen ihres Inhalts. Ihre Gefühle existierten in Wahrheit in der Tatsache, daß über sie geredet wurde.
»Ist er weggegangen?« fragte Nicole nach einer Weile. »Ich glaube, sein Zug fährt zu Mittag.«
Baby sah nach.
»Nein, er sitzt weiter oben auf der Terrasse und spricht mit irgendeiner Frau. Jedenfalls sind jetzt so viele Menschen hier, daß er uns nicht zu sehen braucht.«
Und doch hatte er sie gesehen, als sie den Pavillon verlassen hatten, und folgte ihnen mit den Augen, bis sie wieder verschwanden. Er saß mit Mary Minghetti und trank Anisette.
»In der Nacht, als du uns geholfen hast, warst du so, wie du früher warst«, sagte sie, »außer zum Schluß, als du häßlich zu Caroline warst. Warum bist du nicht immer so nett? Du kannst es doch sein.«
Es schien Dick unwirklich, daß er sich in einer Situation befand, in der Mary mit ihm über diese Dinge reden konnte.
»Deine Freunde haben dich immer noch gern, Dick. Aber du sagst furchtbare Sachen zu den Leuten, wenn du getrunken hast. Ich habe dich diesen Sommer immerzu verteidigen müssen.«
»Diese Bemerkung ist einer von Doktor Eliots klassischen Aussprüchen.«
»Es ist wahr. Niemand fragt danach, ob du trinkst oder nicht.« Sie zögerte. »Als Abe am allerstärksten trank, hat er die Menschen niemals so beleidigt wie du.«
»Ihr seid alle so langweilig«, sagte er.
»Aber wir sind alles, was du hast«, schrie Mary. »Wenn du die netten Leute nicht leiden magst, so versuche es mit denen, die nicht nett sind, und du wirst sehen, wie dir das gefällt! Was die Leute wollen, ist, sich amüsieren, und wenn du sie unglücklich machst, beraubst du dich selbst der Nahrung.«
»Bin ich denn genährt worden?« fragte er.
Mary genoß die Situation, wenn sie es auch nicht wußte, denn sie hatte sich nur aus Angst zu ihm gesetzt. Wieder lehnte sie es ab zu trinken und sagte: »Mit dem Sichgehenlassen ist Schluß. Nach dem, was ich mit Abe erlebt habe, kannst du dir vorstellen, wie ich darüber denke – ich habe gesehen, wie ein wertvoller Mann dem Alkohol verfallen kann –«
Mit theatralischer Fröhlichkeit kam Lady Caroline Sibley-Biers die Stufen heruntergetrippelt.
Dick fühlte sich gut – er genoß den Tag im voraus; er war dort angelangt, wo ein Mann sich am Ende eines guten Essens befindet, doch zeigte er für Mary nur ein mäßiges, wohlerwogenes, zurückhaltendes Interesse. Seine Augen, die im Moment klar waren wie die eines Kindes, bettelten um ihre Sympathie, und er fühlte, wie ihn der alte Wunsch überkam, sie davon zu überzeugen, daß er der einzige Mann in der Welt sei und sie die einzige Frau.
... Dann brauchte er auch nicht diese beiden anderen Gestalten anzusehen, einen Mann und eine Frau, schwarz und weiß und metallisch gegen den Himmel ...
»Du hast mich doch einmal gern gehabt, nicht wahr?« fragte er.
»Gern gehabt? Ich habe dich geliebt. Jede hat dich geliebt. Du hättest jede, nach der du Verlangen hattest, umsonst haben können –«
»Es hat immer etwas zwischen dir und mir bestanden.«
Gierig ergriff sie den Köder. »Wirklich, Dick?«
»Immer – ich kannte deine Sorgen und wußte, wie tapfer du sie trugst.« Das alte inwendige Lachen meldete sich bei ihm, und er wußte, er würde es nicht lange zurückhalten können.
»Ich habe immer gefunden, daß du eine Menge wußtest«, sagte Mary überschwenglich. »Über mich mehr, als jemals einer von mir gewußt hat. Vielleicht hatte ich darum solche Angst, als wir uns nicht mehr so gut standen.«
Sein Blick tauchte sanft und gütig in den ihren, so als läge ihm ein Gefühl zugrunde; ihre Blicke vermählten sich plötzlich, versanken, sickerten ineinander. Dann, als das Lachen in ihm so laut wurde, daß es ihm schien, als müsse Mary es hören, knipste Dick das Licht aus, und sie befanden sich wieder in der Sonne der Riviera.
»Ich muß gehen«, sagte er. Als er aufstand, schwankte er ein wenig; er fühlte sich gar nicht mehr gut – sein Blut kreiste langsam. Er erhob seine rechte Hand und segnete den Strand von der Terrasse aus mit dem päpstlichen Kreuzeszeichen. Von verschiedenen Sonnenschirmen aus kehrten sich Gesichter nach oben.
»Ich gehe zu ihm«, sagte Nicole und kniete sich auf.
»Das wirst du nicht tun«, sagte Tommy, indem er sie mit festem Griff herunterzog. »Laß es gut sein.«