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II

Dick präsentierte Nicole eine zurechtgemachte Version der Katastrophe in Rom – nach seiner Darstellung war er aus purer Menschenfreundlichkeit einem betrunkenen Freund zu Hilfe gekommen. Er konnte sich darauf verlassen, daß Baby Warren den Mund hielt, denn er hatte ihr die katastrophale Wirkung geschildert, die die Wahrheit auf Nicole haben würde. All dies jedoch war eine geringfügige Schwierigkeit, verglichen mit der nachhaltigen Wirkung, die die Episode auf ihn selbst hatte.

Als Reaktion warf er sich noch intensiver auf seine Arbeit, so daß Franz, der mit ihm brechen wollte, keinen Grund fand, um Streit mit ihm anzufangen. Eine Freundschaft, die diese Bezeichnung verdient, wird nicht innerhalb einer Stunde zerstört, ohne daß ein Stück Fleisch schmerzhaft mit weggerissen wird – so redete sich Franz mit wachsender Überzeugung ein, Dick schlage intellektuell und gefühlsmäßig ein solches Tempo an, daß ihm die Erschütterungen schaden mußten; ein Gegensatz war das, der früher in ihrem Verhältnis als Vorzug gewertet worden war. So werden Schuhe, wenn Not am Mann ist, aus vorjährigen Fellen gearbeitet.

Erst im Mai fand Franz die erste Gelegenheit zum Einhaken. Dick kam eines Mittags blaß und abgespannt in sein Büro, setzte sich hin und sagte:

»Es ist vorbei mit ihr.«

»Ist sie tot?«

»Das Herz hat versagt.«

Dick saß erschöpft auf dem Stuhl gleich neben der Tür. Drei Nächte lang war er nicht von der mit Schorf bedeckten namenlosen Künstlerin gewichen, die er lieben gelernt hatte – offiziell, um das Adrenalin zu dosieren, in Wahrheit aber, um, soweit er konnte, etwas Licht in die Finsternis zu werfen, die vor ihr lag.

Franz, der einiges Verständnis für Dicks Gefühl hatte, beeilte sich, ein Urteil abzugeben:

»Es war Nervensyphilis. Alle Wassermanns, die wir gemacht haben, werden mir nicht das Gegenteil beweisen. Die Sekretion des Rückenmarks –«

»Laß nur«, sagte Dick. »Mein Gott, laß nur! Wenn ihr soviel daran lag, ihr Geheimnis mit sich zu nehmen, so laß es schon geschehen.«

»Du solltest einen Tag ausspannen.«

»Mach dir keine Sorgen, ich werde es tun.«

Hier hakte Franz ein; er blickte von dem Telegramm hoch, daß er an den Bruder der Frau aufsetzte, und fragte:

»Oder möchtest du eine kleine Reise machen?«

»Jetzt nicht.«

»Ich meine keine Urlaubsreise. Da ist ein Fall in Lausanne. Ich habe den ganzen Vormittag mit einem Chilenen telefoniert-«

»Sie war verdammt tapfer«, sagte Dick. »Und sie mußte sich so lange quälen.« Franz schüttelte teilnahmsvoll den Kopf, und Dick riß sich zusammen. »Entschuldige, daß ich dich unterbrach.«

»Es wäre eine Ablenkung – die Situation: Schwierigkeiten eines Vaters mit seinem Sohn – der Vater kann den Sohn nicht dazu kriegen, herzukommen. Er möchte, daß jemand hinkommt.«

»Worum handelt es sich? Alkoholismus? Homosexualität? Wenn du sagst Lausanne –«

»Ein wenig von jedem.«

»Ich werde hinfahren. Ist Geld vorhanden?«

»Haufenweise, möchte ich sagen. Richte dich auf zwei oder drei Tage ein, und bring den Jungen mit, wenn er beobachtet werden muß. Auf alle Fälle laß dir Zeit, mach es dir bequem, verbinde das Nützliche mit dem Angenehmen.«

Nach zwei Stunden Schlaf in der Bahn fühlte sich Dick wie neugeboren und sah der Unterredung mit Señor Pardo y Cuidad Real zuversichtlich entgegen.

Solche Unterredungen waren stets von gleicher Art. Oft war die offenkundige Hysterie des Familienoberhauptes psychologisch ebenso interessant wie der Zustand des Patienten. Diese Unterredung bildete keine Ausnahme: Señor Pardo y Cuidad Real, ein schöner, eisengrauer Spanier von vornehmem Gebaren, mit allen Merkmalen von Reichtum und Macht, lief in seiner Zimmerflucht im Hotel des Trois Mondes erregt hin und her und erzählte die Geschichte seines Sohnes mit genau so wenig Selbstbeherrschung wie eine betrunkene Frau.

»Ich bin am Ende meiner Erfindungskraft. Mein Sohn ist verderbt. Er war verderbt in Harrow, er war verderbt in King's College, Cambridge. Er ist unverbesserlich verderbt. Jetzt, wo er auch noch trinkt, zeigt es sich mehr und mehr, wie er ist, und es gibt dauernd Unannehmlichkeiten. Ich habe alles versucht – ich habe mit einem befreundeten Arzt einen Plan ausgearbeitet und sie zusammen auf eine Reise durch Spanien geschickt. Jeden Abend bekam Francisco eine Einspritzung mit Kantharidin, und dann gingen die beiden in ein anständiges Bordell – eine Woche etwa schien es zu funktionieren, aber das Ergebnis war gleich Null. Vorige Woche schließlich, in diesem Zimmer, vielmehr in dem Badezimmer dort –«, er deutete auf die Tür, »mußte sich Francisco bis zur Taille entkleiden, und ich habe ihn mit der Peitsche traktiert –«

Von innerer Erregung erschöpft, setzte er sich, und Dick sagte:

»Das war töricht – die Reise durch Spanien war ebenfalls nutzlos –« Er kämpfte gegen eine aufsteigende Heiterkeit an – daß sich ein Arzt, der auf sich hielt, zu einem so dilettantischen Experiment hergeben konnte! – »Señor, ich muß Ihnen sagen, daß wir bei solchen Fällen nichts versprechen können. Wenn es sich um Trinken handelt, können wir häufig etwas erreichen – bei richtiger Zusammenarbeit. Das erste ist, sich den Jungen anzusehen und sein Vertrauen so weit zu gewinnen, daß man feststellen kann, ob er in der Sache irgendwelche Einsicht besitzt.«

– Der Junge, mit dem er auf der Terrasse saß, war etwa zwanzig Jahre alt, hübsch und beweglich.

»Ich möchte Ihre Einstellung kennenlernen«, sagte Dick. »Haben Sie den Eindruck, als verschlimmere sich der Zustand? Und möchten Sie etwas dagegen unternehmen?«

»Ich glaube schon. Ich bin sehr unglücklich.«

»Glauben Sie, daß es vom Trinken kommt oder von der Anomalie?«

»Ich glaube, das Trinken ist die Folge von dem anderen.« Eine Weile war er ernst – plötzlich brach eine nicht zu unterdrückende Heiterkeit hervor, und lachend sagte er: »Es ist hoffnungslos. In King's hieß ich die Königin von Chile. Und diese Reise durch Spanien – der einzige Erfolg war, daß mir beim Anblick einer Frau übel wurde.«

Dick nahm ihn tüchtig hoch.

»Wenn Sie sich bei dieser Schweinerei wohl fühlen, kann ich Ihnen nicht helfen und vergeude nur meine Zeit.«

»Nein, wir wollen darüber sprechen – die anderen verachte ich eigentlich alle.« In dem Jungen steckte eine gewisse Männlichkeit, die sich jetzt in aktiven Widerstand gegen seinen Vater umgesetzt hatte. Aber er hatte den typisch schelmischen Ausdruck in den Augen, den Homosexuelle annehmen, wenn sie über das Thema sprechen.

»Im besten Fall ist es eine lichtscheue Angelegenheit«, sagte Dick. »Mit ihr und ihren Konsequenzen werden Sie Ihr Leben lang zu tun haben und werden weder die Zeit noch die Energie für irgendeine anständige oder soziale Tat aufbringen. Wenn Sie der Welt die Stirn bieten wollen, so müssen Sie damit beginnen, Ihre Sinnlichkeit zu zügeln – und vor allem das Trinken zu lassen, das sie steigert –«

Obwohl er den Fall zehn Minuten zuvor ad acta gelegt hatte, sprach er automatisch weiter. Sie unterhielten sich noch eine Stunde über des Jungen Heim in Chile und über seine Pläne. Dick kam dem Verständnis eines solchen Charakters von einem anderen als nur dem pathologischen Blickfeld her näher denn je. Er erkannte, daß gerade Franciscos Scharm es ihm ermöglichte, seine Exzesse zu verüben, und für Dick besaß Scharm immer eine gesonderte Existenz, ob es nun die maßlose Tapferkeit der armen Elenden war, die am gleichen Morgen in der Klinik gestorben war, oder die unbekümmerte Anmut, die den verlorenen jungen Menschen in den Sumpf dieser alten Geschichte führte. Dick versuchte, sie in einzelne kleine Teile zu zerlegen, die er seinem Gedächtnis einprägen konnte – denn er sah ein, daß die Gesamtheit seines Lebens, was den Wert betrifft, verschieden von dem seiner Teile sein kann, und ebenso, daß das Leben in den vierziger Jahren vielleicht nur in Abschnitten betrachtet werden kann. Seine Liebe zu Nicole und zu Rosemarie, seine Freundschaft mit Abe North und mit Tommy Barban in dem in Brüche gegangenen Universum des Kriegsendes – innerhalb solcher Beziehungen schienen sich ihm die Persönlichkeiten so nah aufzudrängen, daß er selbst zu der betreffenden Persönlichkeit wurde – anscheinend bestand die Notwendigkeit, alles oder nichts in sich aufzunehmen. Es war, als sei er für den Rest seines Lebens dazu verdammt, das ego gewisser Leute in sich zu tragen, die ihm früh begegnet waren und die er früh geliebt hatte und nur so weit vollkommen zu sein, wie sie selbst vollkommen waren. Ein Moment der Einsamkeit war darin enthalten – es war so leicht, geliebt zu werden – so bitter, zu lieben.

Als er so mit dem jungen Francisco auf der Veranda saß, geriet ein Gespenst der Vergangenheit in sein Gesichtsfeld. Ein langes, eigentümlich schwankendes männliches Wesen löste sich aus dem Buschwerk und näherte sich Dick und Francisco mit zögerndem Entschluß. Zuerst bildete es so sehr einen Teil der pulsierenden Landschaft, daß Dick es kaum bemerkte – dann stand Dick da, schüttelte ihm mit abwesender Miene die Hand und dachte: »Mein Gott, ich habe ein ganzes Nest aufgestöbert!« Dabei versuchte er, sich an den Namen des Mannes zu erinnern.

»Sie sind doch Doktor Diver, nicht wahr?«

»Jawohl – Herr Dumphry, nicht wahr?«

»Royal Dumphry. Ich habe das Vergnügen gehabt, an einem Abend bei Ihnen in Ihrem entzückenden Garten zu dinieren.«

»Richtig.« In dem Versuch, Herrn Dumphrys Begeisterung zu dämpfen, erging sich Dick in unpersönlichen, chronologischen Bemerkungen. »Das war neunzehnhundert – vierundzwanzig oder fünfundzwanzig –«

Dick hatte sich nicht wieder gesetzt, aber Royal Dumphry, der anfänglich schüchtern gewirkt hatte, war nicht träge mit seinem Mundwerk; er sprach mit Francisco in einer schnellen, intimen Weise; dieser jedoch schämte sich seiner und stellte sich zu Dick, um den anderen wegzuekeln.

»Doktor Diver, eins möchte ich Ihnen noch sagen, bevor sie gehen. Ich habe den Abend in Ihrem Garten nicht vergessen und wie nett Sie und Ihre Frau waren. Für mich bedeutet es eine der schönsten Erinnerungen meines Lebens, eine der glücklichsten. Ich habe es immer als die kultivierteste Gesellschaft empfunden, die ich je erlebt habe.«

Dick setzte seinen krebsartigen Rückzug zur nächsten Tür des Hotels fort.

»Es freut mich, daß Sie es in so angenehmer Erinnerung behalten haben. Jetzt muß ich aber zu –«

»Ich verstehe«, meinte Royal Dumphry teilnehmend. »Wie ich gehört habe, liegt er im Sterben.«

»Wer?«

»Vielleicht hätte ich nicht darüber sprechen sollen – aber wir haben denselben Arzt.«

Dick hielt inne und sah ihn erstaunt an. »Von wem sprechen Sie eigentlich?«

»Nun, vom Vater Ihrer Frau – vielleicht hätte ich –«

»Von wem?«

»Wahrscheinlich meinen Sie – daß ich der erste bin –«

»Sie wollen sagen, daß der Vater meiner Frau in Lausanne ist?«

»Nun, ich dachte, Sie wüßten es – ich dachte, das sei der Grund Ihres Hierseins.«

»Welcher Arzt behandelt ihn?«

Dick kritzelte den Namen in ein Notizbuch, entschuldigte sich und ging eilig in eine Telefonzelle.

Es paßte Doktor Dangeu, Herrn Doktor Diver sofort bei sich zu empfangen.

Doktor Dangeu war ein junger Genfer; zuerst fürchtete er, einen einträglichen Patienten zu verlieren, aber als Dick ihn über diesen Punkt beruhigt hatte, unterrichtete er ihn davon, daß Herr Warren wirklich im Sterben lag.

»Er ist zwar erst fünfzig, aber die Leber macht nicht mehr mit; was den Verfall beschleunigt hat, ist der Alkohol.«

»Arbeitet die Leber überhaupt noch?«

»Der Mann ist nur imstande, Flüssigkeiten zu sich zu nehmen – ich gebe ihm noch drei Tage oder höchstens eine Woche.«

»Ist seine älteste Tochter, Fräulein Warren, über seinen Zustand unterrichtet?«

»Auf seinen Wunsch weiß niemand etwas, außer seinem Diener. Erst heute früh fühlte ich mich verpflichtet, ihm reinen Wein einzuschenken – er nahm es mit Erregung auf, wenngleich er sich seit dem Beginn seiner Krankheit in einer ausgesprochen religiösen und gottergebenen Stimmung befindet.«

Dick überlegte. »Nun –«, entschied er zögernd, »auf alle Fälle werde ich die Interessen der Familie wahrnehmen. Aber ich nehme an, man wird auf einem Konzilium bestehen.«

»Wie Sie wünschen.«

»Ich spreche im Sinne der Angehörigen, wenn ich Sie bitte, einen der bekanntesten Ärzte hier am See hinzuzuziehen – Herbrugge aus Genf.«

»Ich habe auch an Herbrugge gedacht.«

»Ich werde mindestens noch einen Tag hierbleiben und mit Ihnen Kontakt halten.«

Am selben Abend ging Dick zu Señor Pardo y Ciudad Real, und sie sprachen miteinander.

»Wir haben ausgedehnte Besitzungen in Chile«, sagte der alte Mann. »Mein Sohn könnte sie übernehmen. Oder ich könnte ihn in eine der vielen Unternehmungen in Paris stecken –« Er schüttelte den Kopf und trat durch die Glastür in den Frühlingsregen hinaus. »Mein einziger Sohn! Können Sie ihn nicht mit sich nehmen?«

Plötzlich kniete der Spanier vor Dick nieder.

»Können Sie meinen einzigen Sohn nicht heilen? Ich glaube an Sie – Sie können ihn mit sich nehmen – heilen Sie ihn.«

»Es ist unmöglich, einen Menschen aus solchen Gründen einzusperren. Ich täte es nicht, selbst wenn ich es könnte.«

Der Spanier stand wieder auf.

»Ich war übereilt – es war stärker als ich.«

Als er in die Halle hinunterfuhr, traf Dick im Fahrstuhl mit Doktor Dangeu zusammen.

»Ich hatte die Absicht, zu Ihnen aufs Zimmer zu kommen«, sagte dieser. »Können wir draußen auf der Terrasse miteinander reden?«

»Ist Herr Warren tot?«

»Sein Befinden ist unverändert – die Konsultation wird am Vormittag stattfinden. Inzwischen verlangt er mit größter Heftigkeit nach seiner Tochter – Ihrer Frau. Da scheint ein Zerwürfnis gewesen zu sein –«

»Ich weiß darüber Bescheid.«

Die Ärzte sahen sich nachdenklich an.

»Vielleicht sprechen Sie mit ihm, bevor Sie einen Entschluß fassen«, schlug Dangeu vor. »Er wird einen leichten Tod haben – nur ein Schwächerwerden und Verlöschen.«

Mit einiger Überwindung willigte Dick ein.

»Es ist gut.«

Die Zimmerflucht, in der Charles Warren allmählich schwächer wurde und verlöschte, war ebenso groß wie die von Señor Pardo y Cuidad Real – in diesem Hotel gab es viele solcher Räumlichkeiten, in denen abgewirtschaftete Reiche, Verfolgte des Gesetzes und Anwärter auf Throne mediatisierter Fürstentümer von Opium- oder Barbiturpräparaten lebten und ständig, wie einem unentrinnbaren Radio, den garstigen Melodien alter Sünden lauschten. Es ist weniger so, daß dieser Winkel Europas die Menschen anzieht, als vielmehr daß er sie ohne unbequeme Fragen aufnimmt. Hier kreuzen sich Lebenswege – Leute, deren Bestimmungsorte Privatsanatorien oder Lungenheilstätten in den Bergen sind, Leute, die aufgehört haben, in Frankreich oder Italien Persona grata zu sein.

Das Zimmer war verdunkelt. Eine Nonne mit heiligem Gesicht war um den Mann bemüht, dessen abgemagerte Hände auf dem weißen Laken einen Rosenkranz bewegten. Er war immer noch schön, und seine Stimme nahm eine charakteristisch kehlige Klangfarbe an, als er mit Dick sprach, nachdem Dangeu sie allein gelassen hatte.

»Am Ende unseres Lebens wächst die Erkenntnis. Jetzt erst, Doktor Diver, bin ich mir bewußt, was es auf sich hatte.«

Dick wartete.

»Ich bin ein schlechter Mensch gewesen. Sie wissen, daß ich nicht das Recht habe, Nicole noch einmal zu sehen, und dennoch – ein Größerer als wir beide es sind, hat gesagt, man soll vergeben und Mitleid haben.« Der Rosenkranz entglitt seinen schwachen Händen und fiel von der glatten Steppdecke herunter. Dick hob ihn auf. »Wenn ich Nicole nur für zehn Minuten sehen könnte, würde ich glücklich aus diesem Leben scheiden.«

»Das ist etwas, worüber ich nicht allein entscheiden kann«, sagte Dick. »Nicole ist nicht kräftig.« Er hatte seinen Entschluß gefaßt, tat aber, als zögere er. »Ich muß es meinem Fachkollegen überlassen.«

»Ich füge mich dem, was Ihr Kollege sagt, Doktor – es ist gut. Ihnen möchte ich sagen, wie sehr ich mich in Ihrer Schuld fühle -«

Dick stand hastig auf.

»Doktor Dangeu wird Ihnen das Ergebnis mitteilen.«

Als er in seinem Zimmer war, rief er die Klinik am Zugersee an. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich Käthe aus ihrem eigenen Haus meldete.

»Ich möchte mit Franz verbunden werden.«

»Franz ist auf dem Berg. Ich gehe ebenfalls hinauf – kann ich ihm irgend etwas ausrichten, Dick?«

»Es handelt sich um Nicole – ihr Vater liegt hier in Lausanne im Sterben. Sag das Franz, damit er weiß, es ist wichtig, und bitte ihn, mich von oben anzurufen.«

»Es ist gut.«

»Sag ihm, ich werde von drei bis fünf und wieder von sieben bis acht hier in meinem Hotelzimmer sein, und danach kann ich aus dem Speisesaal gerufen werden.«

Indem er diese Zeiten festlegte, vergaß er hinzuzufügen, daß Nicole nichts davon gesagt werden sollte; als es ihm einfiel, sprach er in eine tote Leitung. Nun, Käthe würde sicher daran denken.

... Käthe hatte nicht die Absicht, Nicole von dem Anruf zu erzählen, als sie den verlassenen Hügel mit seinen wilden Bergblumen und geheimen Windungen hinauffuhr; hierher wurden die Patienten im Winter zum Skilaufen und im Frühling zum Kraxeln mitgenommen. Als sie aus dem Zug stieg, sah sie Nicole, die die Kinder bei einer Scheinbalgerei anführte. Sie näherte sich, legte den Arm sanft um Nicoles Schulter und sagte: »Du verstehst gut mit Kindern umzugehen – du mußt ihnen im Sommer das Schwimmen beibringen.«

Beim Spielen war ihnen warm geworden, und als sich Nicole dem Arm von Käthe entzog, war das ein automatischer Reflex, der an Unhöflichkeit grenzte. Käthes Hand fiel unbeholfen zurück, und dann kam auch bei ihr die Reaktion, mündlich und wenig schön.

»Dachtest du, ich wollte dich küssen?« fragte sie spitz. »Es handelt sich nur um Dick. Ich sprach ihn am Telefon, und es tat mir leid –«

»Ist etwas mit Dick?«

Plötzlich sah Käthe ihren Mißgriff ein; aber sie hatte nun einmal diese Taktlosigkeit begangen und mußte wohl oder übel antworten, denn Nicole bestürmte sie mit fortgesetzten Fragen:

»... also was tat dir leid?«

»Nichts, was Dick betrifft. Ich muß mit Franz sprechen.«

»Es betrifft doch Dick.«

Ihre Züge drückten Entsetzen aus, und in den Gesichtern der Diverschen Kinder, die in der Nähe standen, lag Angst. Käthe gab nach: »Dein Vater liegt krank in Lausanne – Dick möchte mit Franz darüber sprechen.«

»Ist er sehr krank?« fragte Nicole im selben Augenblick, als Franz in seiner munteren Krankenhausmanier auf sie zukam. Erleichtert ließ Käthe ihn die Suppe auslöffeln – aber das Unheil war geschehen.

»Ich fahre nach Lausanne«, verkündete Nicole.

»Einen Moment mal«, sagte Franz. »Ich weiß nicht, ob es ratsam ist. Ich muß erst mit Dick telefonieren.«

»Dann verpasse ich den Zug«, widersprach Nicole, »und dann kriege ich den Dreiuhrzug von Zürich nicht! Wenn mein Vater stirbt, muß ich –« Sie ließ es in der Schwebe, aus Angst, es in Worte zu fassen. »Ich muß hin. Ich werde laufen müssen, um den Zug zu erwischen.« Während sie noch sprach, lief sie auf die Reihe flacher Wagen zu, die dampfend und fauchend auf der Spitze des kahlen Hügels standen. Über die Schulter rief sie zurück: »Wenn du mit Dick telefonierst, sage ihm, daß ich komme, Franz!«

... Dick befand sich in seinem Zimmer und las im New York Herald, als die Nonne wie eine Schwalbe hereingeschossen kam, und gleichzeitig läutete das Telefon.

»Ist er tot?« fragte Dick die Nonne voller Hoffnung.

»Monsieur, il est parti – er ist fort.«

»Comment?«

»Il est parti – sein Diener und sein Gepäck sind ebenfalls fort!«

Es war nicht zu glauben, daß ein Mann in seinem Zustand sich erheben und auf und davon gehen konnte.

Dick nahm den Anruf von Franz entgegen. »Du hättest es Nicole nicht sagen dürfen«, meinte er.

»Käthe hat es ihr unbesonnenerweise gesagt.«

»Ich finde, es war meine eigene Schuld. Man soll einer Frau nichts erzählen, bevor es eine vollendete Tatsache ist. Na, jedenfalls werde ich Nicole abholen ... übrigens, Franz, hier hat sich etwas ganz Verrücktes ereignet – der alte Knabe nahm sein Bett und wandelte ...«

»Nahm was? Ich verstehe kein Wort.«

»Ich sage, er ist gegangen, der alte Warren – er ist gegangen!«

»Und warum nicht?«

»Man erwartete, daß er infolge allgemeinen Kräfte Verfalls sterben würde ... und er stand auf und ging fort, nach Chicago zurück, wie ich annehme – ich weiß nicht, die Schwester ist gerade hier ... ich weiß nicht, Franz – ich habe es eben erst erfahren ... Ruf mich später an.«

Er verbrachte den größten Teil der nächsten zwei Stunden damit, Warrens Schritten nachzuspüren. Der Patient hatte zwischen der Ablösung von Tag- und Nachtschwester Gelegenheit gefunden, sich in die Bar zu begeben, wo er vier Whiskys hinuntergegossen hatte; er bezahlte seine Hotelrechnung mit einer Tausenddollarnote, ordnete im Büro an, daß ihm das Geld, das er herauszubekommen hatte, nachgeschickt würde und begab sich fort, vermutlich nach Amerika. Ein in letzter Minute in wilder Hetze unternommener Versuch, ihn am Bahnhof abzufangen, hatte lediglich zur Folge, daß Dick Nicole verfehlte. Als sie sich in der Hotelhalle trafen, schien sie mit einemmal müde zu sein, und ihre Lippen waren in einer Weise zusammengepreßt, die Dick beunruhigte.

»Wie geht es Vater?« fragte sie.

»Es geht ihm viel besser. Er scheint doch noch einen guten Teil Lebenskraft in Reserve gehabt zu haben.« Er zögerte: »Tatsache ist, daß er aufgestanden und weggegangen ist.«

Er fühlte das Bedürfnis, etwas zu trinken, denn die Jagd hatte während der Dinnerstunde stattgefunden, darum führte er sie, die ganz verwirrt war, in den Grillraum, und nachdem sie in Lederklubsesseln Platz genommen und einen Whisky-Soda und ein Glas Bier bestellt hatten, fuhr er fort: »Der Arzt, der ihn behandelt hat, muß eine falsche Diagnose gestellt haben oder etwas – warte mal, ich selbst habe noch kaum Zeit gehabt, die Sache zu überdenken.«

»Er ist fort?«

»Er hat den Abendzug nach Paris erwischt.«

Sie saßen schweigend da, Nicole in tragischer Apathie.

»Es war Instinkt«, sagte Dick endlich. »Er lag wirklich im Sterben, doch er versuchte, einen Rhythmus wiederzuerlangen – er ist nicht der erste Mensch, der von seinem Totenbett aufstand – weißt du, das ist wie bei einer alten Uhr – man schüttelt sie, und aus reiner Gewohnheit geht sie wieder. Bei deinem Vater –«

»Sage mir nichts«, sagte sie.

»Was ihn antrieb, war Furcht«, fuhr er fort. »Er kriegte es mit der Angst und ging auf und davon. Wahrscheinlich wird er neunzig Jahre alt werden –«

»Bitte sag mir nichts weiter«, sagte sie. »Bitte tu es nicht – ich könnte es nicht ertragen.«

»Also gut. Der kleine Nichtsnutz, dessentwegen ich hergekommen bin, ist ein hoffnungsloser Fall. Wir können geradeso gut morgen zurückfahren.«

»Ich sehe nicht ein, warum du – mit all diesen Dingen – in Berührung kommen mußt«, stieß sie hervor.

»Ach, wirklich? Manchmal weiß ich es selbst nicht.«

Sie legte ihre Hand auf die seine: »Oh, es tut mir leid, daß ich das gesagt habe, Dick.«

Jemand hatte ein Grammophon in die Bar gebracht, und sie saßen und hörten sich »Die Hochzeit der gemalten Puppe« an.


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