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Baby Warren lag bis ein Uhr im Bett und las eine von Marion Crawfords merkwürdig geistlosen römischen Geschichten; dann ging sie ans Fenster und blickte auf die Straße hinunter. Gegenüber vom Hotel sah sie zwei Karabinieri, grotesk in ihren Riesenumhängen und Harlekinhüten, massig von einer Seite auf die andere schwenken und wie Großsegel auf sich zukommen, und während sie sie betrachtete, mußte sie an den Gardeoffizier denken, der sie beim Lunch so angestarrt hatte. Er besaß die Arroganz eines großen Angehörigen einer kleinen Rasse, mit keinem anderen Vorzug als dem, groß zu sein. Wenn er auf sie zugekommen wäre und gesagt hätte: »Wollen wir beide zusammen ausgehen?«, hätte sie geantwortet: »Warum nicht?« Wenigstens schien es ihr jetzt so, denn die fremde Umgebung hatte sie noch nicht zu sich selbst kommen lassen.
Ihre Gedanken wanderten langsam zurück über den Gardeoffizier zu den beiden Karabinieri, zu Dick – sie ging ins Bett und knipste das Licht aus.
Kurz vor vier Uhr wurde sie durch ein lautes Klopfen geweckt.
»Ja – was ist los?«
»Der Portier, gnädige Frau.«
Sie zog ihren Kimono über und sah den Mann verschlafen an.
»Ihr Freund, er heißt Diver, ist in Not. Er hat einen Zusammenstoß mit der Polizei gehabt, und sie haben ihn ins Gefängnis gesteckt. Er hat ein Taxi hergeschickt, um Ihnen Bescheid zu geben; der Fahrer sagt, er hat ihm zweihundert Lire versprochen.« Vorsichtig machte er eine Pause, um eine Bestätigung zu erlangen. »Der Fahrer sagt, Herr Diver ist in einer schlimmen Patsche. Er hat eine Schlägerei mit der Polizei gehabt und ist schwer verletzt.«
»Ich werde gleich hinunterkommen.«
Unter bangen Herzstößen kleidete sie sich an, und zehn Minuten später trat sie aus dem Fahrstuhl in die dunkle Halle. Der Chauffeur, der die Nachricht überbracht hatte, war fort; der Portier rief einen anderen herbei und beschrieb ihm die Lage des Gefängnisses. Während sie fuhren, hob sich die Dunkelheit draußen und wurde durchscheinend, und Babys gerade erst erwachte Nerven verkrampften sich im unsicheren Schwanken zwischen Tag und Nacht. Sie fing an, gegen den Tag anzukämpfen; zuweilen auf den breiten Alleen gelang es ihr, aber jedesmal, wenn ihre Widerstandskraft einen Augenblick nachließ, kamen hier und da ungeduldige Windstöße auf, und das langsame Andrängen des Lichts begann von neuem. Der Wagen kam an einem geräuschvollen Springbrunnen vorbei, dessen Wasser in einen dichten Schatten klatschte, bog in eine Gasse ein, die so gekrümmt war, daß die an ihr liegenden Gebäude verbogen und verzerrt schienen, rumpelte und ratterte über Kopfsteinpflaster und hielt mit einem Ruck da, wo sich zwei Schilderhäuser hell von einer feuchten, grünen Mauer abhoben. Plötzlich ertönte aus der violetten Dunkelheit eines Torweges Dicks Stimme, brüllend und kreischend:
»Sind da Engländer? Sind da Amerikaner? Sind da Engländer? Sind da – oh, mein Gott! Ihr dreckigen italienischen Hunde!«
Seine Stimme erstarb, und sie hörte ein dumpfes Hämmern an der Tür. Dann ließ sich die Stimme von neuem hören:
»Sind da Amerikaner? Sind da Engländer?«
Dem Klang der Stimme folgend, rannte sie durch den Torbogen in einen Hof, drehte sich in momentaner Verwirrung um sich selbst und fand die kleine Wachstube, aus der die Schreie kamen. Zwei Karabinieri erhoben sich von ihren Sitzen, aber sie stürzte an ihnen vorbei zur Zellentür.
»Dick!« rief sie. »Was ist mit dir?«
»Sie haben mir ein Auge eingetreten«, schrie er. »Sie haben mir Handschellen angelegt und mich dann verprügelt, die gottverdammten – die –«
Baby fuhr herum und machte einen Schritt auf die Karabinieri zu.
»Was haben Sie mit ihm gemacht?« flüsterte sie so wild, daß die Männer vor ihrer geballten Wut zurückwichen. »Non capisco inglese.«
Also schrie sie ihnen ihre Verwünschungen auf französisch zu; ihre leidenschaftliche, überzeugte Wut erfüllte den Raum, deckte die Männer zu, bis sie unter der Fülle von Schuld, mit der sie sie bekleidete, zusammenschrumpften und sich wanden. »So tun Sie doch etwas! Tun Sie etwas!«
»Wir können nichts tun, bis wir Befehl dazu erhalten.«
»Bene. Bay-nay! Bene!«
Noch einmal ließ Baby ihren leidenschaftlichen Zorn vor den Männern aufflammen, so daß diese schließlich Bitten um Entschuldigung wegen ihrer Ohnmacht hervorstammelten und einander anblickten in dem Gefühl, es müsse doch wohl etwas furchtbar schiefgegangen sein. Baby ging zur Zellentür, lehnte sich, fast liebkosend, dagegen, als wenn dies Dick ihre Gegenwart und Macht spürbar machen müßte, und schrie: »Ich gehe zur Gesandtschaft. Ich komme wieder.« Und, einen letzten, unendlich drohenden Blick auf die Karabinieri werfend, lief sie hinaus.
Sie fuhr zur amerikanischen Botschaft, wo sie den Chauffeur auf seinen Wunsch entlohnte. Es war noch dunkel, als sie die Treppen hinauflief und die Klingel drückte. Sie mußte es dreimal tun, bevor ihr ein verschlafener englischer Portier die Tür öffnete.
»Ich möchte jemand sprechen«, sagte sie. »Irgend jemand – aber sofort.«
»Es ist niemand wach, gnädige Frau. Vor neun Uhr wird nicht geöffnet.«
Ungeduldig schob sie die Zeitfrage beiseite.
»Es ist wichtig. Ein Mann – ein Amerikaner ist fürchterlich verprügelt worden. Er ist in einem italienischen Gefängnis.«
»Jetzt ist niemand wach. Um neun Uhr –«
»Ich kann nicht warten. Man hat einem Mann das Auge eingetreten – es ist mein Schwager, und sie wollen ihn nicht aus dem Gefängnis herauslassen. Ich muß jemand sprechen – können Sie das nicht begreifen? Sind Sie verrückt? Sind Sie schwachsinnig, daß Sie mit so einem Ausdruck im Gesicht dastehen?«
»Ich bin außerstande, etwas zu tun, gnädige Frau.«
»Sie sollen jemand wecken gehen!« Sie packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn heftig. »Es handelt sich um Leben und Tod. Wenn Sie nicht sofort jemand wecken, wird es für Sie die schrecklichsten Folgen haben.«
»Wollen Sie so freundlich sein, und mich nicht anfassen, gnädige Frau.«
Von oben, hinter dem Portier, erklang eine gelangweilte Stimme.
»Was gibt es?«
Erleichtert antwortete der Portier:
»Hier ist eine Dame, und sie hat mich geschüttelt.« Er war zurückgetreten, als er sprach, und Baby stieß in die Halle vor. Auf einem oberen Treppenabsatz, gerade aus dem Schlaf geweckt und in ein weißes, besticktes, persisches Gewand gehüllt, stand ein seltsamer junger Mann. Sein Gesicht war von einem erschreckenden und unnatürlichen Rosa, glänzend und doch tot, und über seinem Mund war etwas befestigt, das wie ein Knebel aussah. Als er Baby erblickte, wich er mit seinem Kopf in den Schatten zurück.
»Was gibt es?« wiederholte er.
Baby erzählte es ihm, wobei sie in ihrer Aufregung allmählich gegen die Treppe vorrückte. Im Verlauf ihrer Geschichte erkannte sie, daß der Knebel in Wirklichkeit eine Bartbinde und das Gesicht des Mannes mit rosa Cold Cream eingeschmiert war, doch paßte die Tatsache gut in den Alptraum. Was er zu tun hätte, schrie sie leidenschaftlich, war, sofort mit ihr zum Gefängnis zu kommen und Dick herauszuholen.
»Das ist eine schlimme Sache«, sagte er.
»Ja«, stimmte sie versöhnlich zu. »Ja.«
»Dieser Versuch, der Polizei tätlichen Widerstand entgegenzusetzen.« Ein Unterton von persönlichem Gekränktsein kam in seine Stimme. »Ich fürchte, vor neun Uhr wird nichts zu machen sein.«
»Neun Uhr«, wiederholte sie schreckensstarr. »Natürlich können Sie etwas tun! Sie können mit mir zum Gefängnis kommen und dafür sorgen, daß man ihm nichts weiter antut.«
»Wir dürfen nichts Derartiges unternehmen. Mit diesen Dingen befaßt sich das Konsulat. Das Konsulat ist um neun geöffnet.«
Die durch die Bartbinde verursachte Bewegungslosigkeit seines Gesichtes versetzte Baby in Wut.
»Ich kann nicht bis neun warten. Mein Schwager sagt, sie haben ihm das Auge eingetreten – er ist ernstlich verletzt! Ich muß zu ihm hin. Ich muß einen Arzt ausfindig machen.« Sie ließ sich gehen und begann zornig zu weinen, während sie sprach; denn sie wußte, daß er eher auf ihre Aufregung als auf ihre Worte reagieren würde. »Sie müssen etwas in dieser Sache tun. Es ist Ihre Pflicht, amerikanische Bürger, die sich in Not befinden, zu schützen.«
Aber er stammte von der Ostküste und war zu dickfellig für sie. Er schüttelte den Kopf, voller Nachsicht für ihren Mangel an Verständnis für seine Lage, schlug das persische Gewand fester um sich und kam ein paar Stufen herunter.
»Schreiben Sie dieser Dame die Adresse des Konsulates auf«, sagte er zum Portier, »und suchen Sie Doktor Colazzos Adresse und Telefonnummer heraus und schreiben Sie die auch auf.« Er wandte sich Baby mit dem Ausdruck eines verärgerten Heilands zu. »Meine verehrte Dame, das diplomatische Korps repräsentiert der italienischen Regierung gegenüber die Regierung der Vereinigten Staaten. Es hat nichts mit dem Schutz von Bürgern zu tun, außer auf besonderen Befehl des State Department. Ihr Schwager hat die Gesetze dieses Landes verletzt und ist ins Gefängnis gesteckt worden, genau so, wie ein Italiener in New York ins Gefängnis gesteckt werden kann. Die einzigen, die ihn herauslassen können, sind die italienischen Gerichte, und im Fall einer Streitsache kann Ihr Schwager Rat und Hilfe beim Konsulat finden, das die Rechte amerikanischer Bürger vertritt. Das Konsulat wird nicht vor neun Uhr geöffnet. Wenn es mein eigener Bruder wäre – ich könnte nichts tun –«
»Können Sie das Konsulat anrufen?« unterbrach sie ihn.
»Wir können dem Konsulat nicht dreinreden. Wenn der Konsul um neun Uhr kommt –«
»Können Sie mir seine Privatadresse geben?«
Nach einer kleinen Pause schüttelte der Mann den Kopf. Er nahm dem Portier das Merkblatt ab und übergab es ihr.
»Nun muß ich Sie bitten, mich zu entschuldigen.«
Er hatte sie geschickt zur Tür manövriert: einen Augenblick fiel die violette Dämmerung grell auf seine rosa Maske und auf die Leinenbinde, die seinen Bart hielt; dann stand Baby allein auf der Eingangstreppe. Sie war zehn Minuten in der Botschaft gewesen.
Der Platz, auf den das Haus blickte, war menschenleer, abgesehen von einem alten Mann, der mit Hilfe eines Stockes mit Eisenspitze Zigarettenenden sammelte. Baby erwischte sofort ein Taxi und fuhr zum Konsulat, aber dort war niemand außer einem Trio jämmerlicher Frauen, die die Treppe scheuerten. Sie konnte ihnen nicht begreiflich machen, daß sie die Privatadresse des Konsuls wissen wollte. In einem neuerlichen Anfall von Angst stürzte sie wieder davon und sagte dem Chauffeur, daß er sie zum Gefängnis fahren solle. Er wußte nicht, wo es war, aber durch den Gebrauch der Wörter sempre diretto, destra und sinistra dirigierte sie ihn in die ungefähre Gegend, wo sie ausstieg und ein Labyrinth von bekannten Gassen durchirrte. Aber die Gebäude und die Gassen sahen alle gleich aus. Als sie aus einer Straße in die Piazza d'Espagna hinaustrat, erblickte sie die »American Express Company«, und ihr Herz hüpfte bei dem Wort »American« auf dem Schild. Im Fenster war Licht, sie eilte über den Platz und klinkte an der Tür, aber sie war verschlossen, und die Uhr drinnen zeigte auf sieben. Nun dachte sie an Collis Clay.
Sie erinnerte sich an den Namen seines Hotels, einer verstaubten Villa mit roten Plüschgarnituren gegenüber dem Excelsior. Die Diensttuende im Büro zeigte keine Neigung, ihr behilflich zu sein – sie hatte kein Recht, Herrn Clay zu stören, und weigerte sich, Fräulein Warren allein zu ihm ins Zimmer gehen zu lassen; als sie schließlich einsah, daß dies keine Liebesaffäre sei, begleitete sie Baby.
Collis lag nackt auf seinem Bett. Er war betrunken heimgekommen, und als er aufwachte, dauerte es einige Augenblicke, bis er sich seiner Nacktheit bewußt wurde. Er versuchte, es durch ein Übermaß an Beflissenheit wiedergutzumachen. Er nahm seine Kleider mit ins Badezimmer, zog sich eilig an und murmelte dabei vor sich hin: »Verflucht, sie hat mich sicher gründlich begutachtet.« Nach einigem Hin- und Hertelefonieren erfuhren sie, wo das Gefängnis war, und fuhren hin.
Die Zellentür stand offen, und Dick hatte sich auf einen Stuhl in der Wachtstube fallen lassen. Der Karabinieri hatte ihm das Blut ein wenig vom Gesicht gewaschen, hatte ihm das Haar gebürstet und ihm den Hut auf den Kopf gesetzt, um ihn den Blicken zu entziehen. Baby stand zitternd in der Tür.
»Herr Clay wird bei dir bleiben«, sagte sie. »Ich will den Konsul holen und einen Arzt.«
»Schon gut.«
»Verhalte dich ruhig.«
»Schon gut.«
»Ich komme wieder.«
Sie fuhr zum Konsulat; es war jetzt nach acht Uhr, und es wurde ihr gestattet, im Wartezimmer Platz zu nehmen. Gegen neun kam der Konsul, und Baby, erschöpft und außer sich über ihre eigene Ohnmacht, wiederholte ihre Geschichte. Der Konsul war beunruhigt. Er warnte sie davor, in einer fremden Stadt in einen Streit verwickelt zu werden; aber am meisten lag ihm daran, daß sie draußen wartete – voller Verzweiflung las sie in seinen ältlichen Augen den Wunsch, so wenig wie möglich in diese Katastrophe verwickelt zu werden. Während sie wartete, daß er handeln würde, brachte sie einige Minuten damit hin, daß sie telefonisch einen Arzt bat, zu Dick zu gehen. Es waren noch andere Leute im Wartezimmer, und mehrere von ihnen wurden in das Büro des Konsuls eingelassen. Nach einer halben Stunde nahm sie die Gelegenheit wahr, als jemand herauskam, und flitzte am Sekretär vorbei ins Zimmer.
»Das ist unerhört! Ein Amerikaner ist fast zu Tode geprügelt und ins Gefängnis gesteckt worden, und Sie machen keine Anstalten, zu helfen.«
»Einen Moment, Frau –«
»Ich habe lange genug gewartet. Sie kommen jetzt sofort zum Gefängnis und holen ihn heraus.«
»Frau –«
»Wir nehmen in Amerika eine beachtliche Stellung ein!« Ihr Mund wurde hart, als sie fortfuhr: »Wenn es nicht wegen des Skandals wäre, könnten wir – ich werde dafür sorgen, daß über Ihre Gleichgültigkeit in dieser Angelegenheit an geeigneter Stelle berichtet wird. Wenn mein Schwager britischer Staatsangehöriger wäre, würde er schon seit Stunden frei sein, aber Sie interessieren sich mehr dafür, was die Polizei darüber denken könnte, als dafür, wozu Sie da sind.«
»Frau –«
»Sie setzen Ihren Hut auf und kommen sofort mit mir.«
Die Erwähnung seines Hutes beunruhigte den Konsul, der hastig anfing, seine Brille zu putzen und seine Papiere durcheinander zu bringen. Das erwies sich als nutzlos: die amerikanische Frau, die in ihr erwacht war, war ihm über; das mitreißende, vernunftwidrige Temperament, das das moralische Rückgrat einer Rasse zerbrochen und einen Kontinent zu einer Kinderstube gemacht hatte, war zu viel für ihn. Er klingelte nach dem Vizekonsul – Baby hatte gesiegt.
Dick saß in der Sonne, deren Licht verschwommen durch das Fenster der Wachtstube fiel. Collis und zwei Karabinieri waren bei ihm, und sie warteten, daß etwas geschehen sollte. Durch das behinderte Blickfeld seines einen Auges konnte er die Karabinieri sehen; es waren toskanische Bauern mit kurzen Oberlippen, und es fiel ihm schwer, die Brutalität der verflossenen Nacht mit diesen Menschen in Einklang zu bringen. Er schickte einen von ihnen nach einem Glas Bier.
Das Bier hob seine Stimmung, und vorübergehend wurde die Situation von einem Strahl sardonischen Humors beleuchtet. Collis war der Ansicht, das englische Mädchen habe etwas mit der Katastrophe zu tun gehabt, aber Dick wußte bestimmt, daß sie verschwunden war, lange bevor es geschah. Collis war noch ganz beeindruckt von der Tatsache, daß Fräulein Warren ihn nackt auf dem Bett hatte liegen sehen.
Dicks Wut hatte sich etwas gelegt, und er fühlte in sich eine grenzenlose kriminelle Verantwortungslosigkeit. Was mit ihm geschehen war, war so grauenvoll, daß nichts daran etwas ändern konnte, es sei denn, er war imstande, es zu Tode zu würgen, und da dies nicht wahrscheinlich war, stand es hoffnungslos um ihn. Er würde von nun an ein anderer Mensch sein, und in seiner wunden Verfassung hatte er groteske Vorstellungen von dem, wie sein neues Selbst aussehen würde. Der Vorgang hatte etwas unpersönlich Schicksalhaftes an sich. Kein erwachsener Arier bringt es fertig, aus einer Demütigung Nutzen zu ziehen; wenn er sie verzeiht, so ist sie ein Teil seines Lebens geworden, und er hat sich mit dem identifiziert, was ihn gedemütigt hat – ein Endergebnis, das in diesem Fall unmöglich war.
Als Collis von Vergeltung sprach, schüttelte Dick den Kopf und schwieg. Ein Leutnant der Karabinieri, geschniegelt und gebügelt und voller Vitalität, kam herein wie drei Mann, und die Diensttuenden standen stramm. Er erfaßte die leere Bierflasche und richtete eine Flut von Scheltworten an seine Leute. Der neue Geist war in ihm lebendig, und das erste, was er tat, war, die Bierflasche aus der Wachtstube zu entfernen. Dick sah Collis an und lachte.
Der Vizekonsul, ein überarbeiteter junger Mann namens Swanson, kam, und sie begaben sich zum Gericht: Collis und Swanson je auf einer Seite von Dick und die beiden Karabinieri dicht hinter ihnen. Es war ein gelber, dunstiger Morgen; die Plätze und Durchgänge waren belebt, und Dick, der den Hut tief ins Gesicht zog, schritt schnell aus, war Schrittmacher, bis einer der kurzbeinigen Karabinieri vorgelaufen kam und protestierte. Swanson brachte es wieder ins Gleis.
»Ich habe Ihnen Schande gemacht, nicht wahr?« sagte Dick jovial.
»Von Rechts wegen müssen Sie getötet werden, weil Sie sich an Italienern vergriffen haben«, erwiderte Swanson einfältig. »Wahrscheinlich wird man Sie diesmal noch laufen lassen, aber wenn Sie Italiener wären, würden Sie ein paar Monate Gefängnis kriegen. Bestimmt!«
»Waren Sie jemals im Gefängnis?«
Swanson lachte.
»Ich habe ihn gern«, sagte Dick zu Clay. »Er ist ein äußerst liebenswerter junger Mann und gibt den Leuten ausgezeichnete Ratschläge, aber ich möchte wetten, er hat selbst schon im Gefängnis gesessen. Wahrscheinlich hat er ganze Wochen im Gefängnis verbracht.«
Swanson lachte.
»Ich meine, Sie sollten vorsichtig sein. Sie wissen nicht, wie diese Leute sind.«
»Oh, ich weiß, wie sie sind«, stieß Dick gereizt hervor. »Sie sind gottverdammte Stinkhunde.« Er drehte sich nach den Karabinieri um: »Habt ihr's mitgekriegt?«
»Ich verlasse Sie hier«, sagte Swanson schnell. »Ich habe Ihrer Schwägerin gesagt, ich würde – Sie werden unseren Anwalt oben im Gerichtssaal antreffen. Sie müssen vorsichtig sein.«
»Auf Wiedersehen.« Dick drückte ihm die Hand. »Ich danke Ihnen. Ich habe das Gefühl, Sie haben eine Zukunft –«
Mit einem erneuten Lächeln eilte Swanson davon und setzte gleich darauf wieder seine mißbilligende Amtsmiene auf.
Nun kamen sie in einen Hof, aus dem auf allen vier Seiten Treppen in die oberen Räume führten. Als sie das Steinpflaster überquerten, ließ sich aus der im Hof herumstehenden Menge ein Stöhnen, Zischen und Brüllen vernehmen, Stimmen voll Wut und Verachtung. Dick starrte umher.
»Was soll das?« fragte er bestürzt.
Einer der Karabinieri sprach mit einer Gruppe von Männern, und das Lärmen hörte auf.
Sie gelangten in den Gerichtssaal. Ein schäbiger italienischer Anwalt vom Konsulat sprach des längeren mit dem Richter, während Dick und Collis abseits standen und warteten. Jemand, der Englisch sprach, kehrte sich von dem Fenster ab, das auf den Hof blickte, und gab eine Erklärung ab für den Lärm, der sie beim Durchschreiten des Hofes begleitet hatte. Ein Bewohner von Frascati, der sich an einem fünfjährigen Mädchen vergangen und es getötet hatte, sollte am Morgen eingeliefert werden, und die Menge hatte Dick für den Mann gehalten.
Wenige Minuten später teilte der Anwalt Dick mit, daß er frei sei – das Gericht halte ihn für bestraft genug.
»Genug!« schrie Dick. »Bestraft, wofür?«
»Kommen Sie«, sagte Collis. »Sie können jetzt nichts tun.«
»Aber was habe ich denn anders getan, als mich mit ein paar Taxichauffeuren geprügelt?«
»Man behauptet, Sie wären auf einen Detektiv zugegangen, als wenn Sie ihm die Hand geben wollten, und hätten ihn niedergeschlagen –«
»Das ist nicht wahr! Ich habe ihm gesagt, daß ich ihn niederschlagen wollte – ich wußte nicht, daß es ein Detektiv war.«
»Gehen Sie lieber«, drängte der Anwalt.
»Kommen Sie mit.« Collis nahm ihn beim Arm, und sie gingen die Stufen hinunter.
»Ich will eine Rede halten«, schrie Dick. »Ich will diesen Leuten schildern, wie ich mich an einem fünfjährigen Mädchen vergangen habe. Vielleicht habe ich es getan –«
»Kommen Sie.«
Baby wartete mit dem Arzt in einem Taxi. Dick hatte keine Lust, sie anzusehen, und der Arzt mißfiel ihm, denn an seiner strengen Art erkannte man den am wenigsten greifbaren von allen europäischen Typen: den italienischen Moralisten. Dick faßte sein Urteil über die Katastrophe zusammen, aber niemand hatte etwas dazu zu sagen. In seinem Zimmer im Quirinal wusch ihm der Arzt das übrige Blut und den fettigen Schweiß ab, richtete seine Nase, seine gebrochenen Rippen und Finger, desinfizierte die kleineren Wunden und legte einen vielversprechenden Verband um das Auge an. Dick bat um ein wenig Morphium, denn er war immer noch hellwach und voller nervöser Hochspannung. Nach dem Morphium schlief er ein, der Arzt und Collis verabschiedeten sich, und Baby wartete bei ihm, bis eine Frau vom englischen Pflegeheim kommen würde. Es war eine schwere Nacht gewesen, aber sie hatte die Genugtuung zu wissen: welches auch Dicks frühere gute Taten gewesen sein mochten, sie besaß jetzt ein moralisches Übergewicht über ihn, so lange er ihnen von Nutzen sein würde.