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Sie waren zu sechs bei Voisin und warteten auf Nicole: Rosemarie, das Ehepaar North, Dick Diver und zwei junge französische Musiker. Sie betrachteten die übrigen Gäste des Restaurants, um festzustellen, ob sie über Haltung verfügten. Dick sagte, kein Amerikaner außer ihm selbst habe Haltung, und nun suchten sie nach einem Beispiel, um ihm das Gegenteil zu beweisen. Die Dinge lagen nicht günstig für sie – seit zehn Minuten hatte kein Mann das Lokal betreten, ohne die Hand zum Gesicht zu führen.
»Man hätte nie von gewichsten Schnurrbärten abkommen sollen«, sagte Abe. »Trotzdem ist Dick nicht der einzige Mann mit Haltung ...«
»Doch, ich bin's.«
»... aber vielleicht ist er der einzige nüchterne Mann mit Haltung.«
Ein gutangezogener Amerikaner war mit zwei Frauen hereingekommen, die unbefangen und lebhaft um einen Tisch herumliefen. Plötzlich merkte er, daß er beobachtet wurde, worauf seine Hand mit einem Ruck hochfuhr und eine eingebildete Unebenheit an seiner Krawatte beseitigte. In einem schwachbesetzten Teil des Lokals strich sich ein Mann dauernd mit der Handfläche über die rasierte Wange, und sein Tischnachbar nahm mechanisch den Stummel einer kalten Zigarre auf und legte ihn wieder hin. Die glücklicheren fingerten an ihren Augengläsern und Haaren herum, die anderen, die nichts zum Spielen hatten, fuhren sich über ihre ausdruckslosen Münder oder zupften verzweifelt an ihren Ohrläppchen.
Ein bekannter General kam herein, und Abe, der auf dessen erstes Jahr in West Point spekulierte – das Jahr, in dem jeder Kadett durchhalten muß und von dem er sich nie ganz erholt – wettete mit Dick um fünf Dollar.
Während der General wartete, daß ihm ein Platz angewiesen würde, ließ er seine Arme ganz natürlich seitwärts herunterhängen. Einmal schlenkerte er mit den Armen nach hinten wie ein Hampelmann, und Dick sagte »Aha!«, weil er annahm, er habe die Gewalt über sich verloren, aber der General nahm wieder Haltung an, und sie atmeten auf – die qualvolle Spannung war fast vorbei, der Kellner rückte schon einen Stuhl für ihn zurecht –
Wie in einem leichten Anfall von Wut schoß die Hand des Eroberers hoch, er kratzte sich den grauen, tadellos frisierten Kopf.
»Siehst du«, meinte Dick selbstgefällig, »ich bin der einzige.«
Rosemarie war überzeugt davon, und Dick, der merkte, daß er nie ein besseres Publikum gehabt hatte, machte aus ihnen eine so vergnügte Gemeinschaft, daß Rosemarie voll mitleidiger Verachtung auf alle herabblickte, die nicht an ihrem Tisch saßen. Sie waren seit zwei Tagen in Paris, aber in Wahrheit befanden sie sich noch immer unter dem Strandschirm. Wenn Rosemarie zum Beispiel, wie am Abend vorher auf dem Ball des Pagenkorps, durch das Milieu eingeschüchtert war, da sie noch keine Mayfair-Party in Hollywood mitgemacht hatte, erleichterte ihr Dick die Situation, indem er sie mit ein paar Leuten zusammenbrachte, die eine Art Auslese darstellten – die Divers schienen einen großen Bekanntenkreis zu haben, aber es war jedesmal so, als hätten die Betreffenden sie seit einiger Zeit nicht gesehen und als seien sie starr vor Staunen: »Nun sagt bloß, wo haltet ihr euch versteckt?« – um dann die Geschlossenheit seines eigenen Kreises wiederherzustellen, indem er die Außenseiter sanft, aber beharrlich durch einen ironischen Gnadenstoß unschädlich machte. Und alsbald schien es Rosemarie, als habe sie selbst diese Leute in einer beklagenswerten Vergangenheit gekannt, als habe sie sich ihnen genähert und sie dann abgelehnt und verworfen.
Ihre Gesellschaft war überwältigend amerikanisch und manchmal fast überhaupt nicht amerikanisch. Dick hielt ihnen ihr eigenes Spiegelbild vor, das durch die Kompromisse so vieler Jahre getrübt war.
In das dunkle, verrauchte Lokal, in dem es nach der reichhaltigen Rohkost auf dem Büfett roch, glitt Nicoles himmelblaues Kostüm wie ein verirrter Streifen des Wetters draußen. Sie las in den Augen der Gäste, wie schön sie war, und dankte ihnen mit einem Lächeln strahlenden Einverständnisses. Eine Zeitlang gaben sie sich alle wie sehr nette Leute, sehr liebenswürdig und so. Dann wurde es ihnen langweilig, und sie machten Späße und wurden boshaft, und schließlich schmiedeten sie eine Menge Pläne. Sie lachten über Dinge, an die sie sich später nicht mehr deutlich erinnern würden, lachten viel; und die Männer tranken drei Flaschen Wein. Das Trio der Frauen am Tisch verkörperte die ungeheuren Gegensätze des amerikanischen Lebens. Nicole war die Enkelin eines amerikanischen Self-made-Kapitalisten und die Enkelin eines Grafen aus dem Hause Lippe-Weißenfeld. Mary North war die Tochter eines Tapezierergesellen und stammte außerdem vom Präsidenten Tyler ab. Rosemarie kam aus dem Durchschnitt des Mittelstandes und war von ihrer Mutter auf die ungeahnten Höhen Hollywoods lanciert worden. Die Ähnlichkeit, die sie verband, und ihre Verschiedenheit von so vielen amerikanischen Frauen lag in der Tatsache, daß sie alle glücklich waren, in eines Mannes Welt zu existieren; sie bewahrten sich ihre Persönlichkeit mit Hilfe der Männer, nicht, indem sie ihnen Widerstand leisteten. Sie wären alle drei ebenso gute Kurtisanen wie gute Ehefrauen geworden, nicht durch den Zufall der Geburt, sondern durch den größeren Zufall des Findens oder Nichtfindens des richtigen Mannes.
Darum fand Rosemarie diesen Lunch sehr reizvoll, um so mehr als sie nur sieben Personen waren, was ungefähr die Grenze für eine nette Gesellschaft darstellt. Vielleicht diente ihnen auch die Tatsache, daß Rosemarie neu im Kreise war, als stark wirkender Antrieb, ihre alten gegenseitigen Vorbehalte über Bord zu werfen. Als die Tafel aufgehoben wurde, geleitete ein Kellner Rosemarie in die rückwärtigen Räumlichkeiten, wie sie in allen französischen Lokalen zu finden sind; dort suchte sie beim trüben Licht einer orangefarbenen Glühbirne eine Telefonnummer heraus und rief die Franko-Amerikanische Filmgesellschaft an. Natürlich, sie hatten eine Kopie von »Vatis Mädelchen« – im Augenblick war sie verliehen, aber sie würden sie im Lauf der Woche für sie beschaffen – zu erfragen bei Herrn Crowder, 341 Rue des Saintes Anges.
Die halboffene Telefonzelle ging auf eine Garderobe, und als Rosemarie den Hörer anhing, hörte sie, kaum zwei Meter entfernt, jenseits einer Reihe von Mänteln zwei leise Stimmen:
»Also liebst du mich?«
»Und ob ich dich liebe!«
Es war Nicole – Rosemarie zögerte in der Tür der Zelle –, dann hörte sie, wie Dick sagte:
»Ich habe schreckliches Verlangen nach dir – laß uns gleich ins Hotel gehen.«
Nicole seufzte leicht auf. Einen Moment lang sagten Rosemarie die Worte nichts, wohl aber der Tonfall. Seine starke Heimlichkeit schwang in ihr mit.
»Ich verlange nach dir.«
»Ich werde um vier im Hotel sein.«
Rosemarie stand mit angehaltenem Atem da, während sich die Stimmen entfernten. Sie war zunächst sogar erstaunt; sie hatte in ihnen Leute gesehen, die in ihrer Beziehung zueinander ohne persönliche Forderungen, ja kühl waren. Eine starke Welle von Erregung durchflutete sie, tief und unerklärlich. Sie wußte nicht, ob es sie anzog oder abstieß, nur daß sie zutiefst angerührt war. Das erweckte in ihr ein Gefühl der Verlassenheit, als sie in das Restaurant zurückkehrte, aber es hatte etwas Ergreifendes, Zeuge davon gewesen zu sein, und die leidenschaftliche Dankbarkeit in Nicoles »Und ob ich dich liebe!« klang in ihr nach. Der besondere Gefühlsgehalt des Gesprächs, das sie mitangehört hatte, war ihr gegenwärtig; aber wie weit entfernt sie auch immer davon war – ihr Magen sagte ihr, daß es gut war, denn sie spürte keinerlei Abneigung, wie sie sie beim Spielen gewisser Liebesszenen im Film empfand.
Obwohl weit entfernt, war sie nichtsdestoweniger unwiderruflich darein verstrickt, und als sie mit Nicole Einkäufe machte, war sie sich der Verabredung stärker bewußt als Nicole selbst. Sie betrachtete Nicole auf eine neue Art, schätzte ihre Reize ab. Gewiß war sie die reizvollste Frau, die Rosemarie jemals kennengelernt hatte – mit ihrer Strenge, ihrer Hingebung, ihrer Anständigkeit und mit dieser gewissen Geschmeidigkeit, die Rosemarie jetzt, durch die Mittelstandsbrille ihrer Mutter blickend, mit ihrer Einstellung dem Geld gegenüber in Verbindung brachte. Rosemarie gab Geld aus, das sie verdient hatte, und daran, daß sie hier in Europa war, war die Tatsache schuld, daß sie damals im Januar sechsmal in den Kanal springen mußte, wobei ihre Morgentemperatur von 37,2 auf 39,4 stieg, bis ihre Mutter der Sache ein Ende machte.
Mit Nicoles Hilfe kaufte Rosemarie von ihrem eigenen Geld zwei Kleider, zwei Hüte und vier Paar Schuhe. Nicole kaufte nach einer langen Liste, die zwei Seiten umfaßte, und außerdem kaufte sie noch die Sachen im Schaufenster – alles, was ihr gefiel und was sie selbst absolut nicht brauchen konnte, kaufte sie als Geschenke für Bekannte. Sie kaufte farbige Perlen, zusammenlegbare Strandkissen, künstliche Blumen, Honig, ein Gastbett, Taschen, Halstücher, Sperlingspapageien, kleine Gegenstände für ein Puppenhaus und drei Meter von einem neuartigen makrelenfarbenen Stoff. Sie kaufte ein Dutzend Badeanzüge, ein Gummikrokodil, ein Reise-Schachspiel mit Figuren aus Gold und Elfenbein, große Leinentaschentücher für Abe und bei Hermes zwei eisvogelblaue Gamslederjacken. Alle diese Dinge kaufte sie nicht etwa, wie eine vornehme Kurtisane Unterwäsche und Schmuck kauft, die ja für sie berufliche Ausstattung und Sicherheit bedeuten, sondern von einem völlig anderen Gesichtspunkt aus. Nicole war das Produkt von viel Erfindungskraft und Arbeit. Um ihretwillen setzten sich in Chicago Züge in Bewegung und überquerten den runden Bauch des Kontinents bis nach Kalifornien; Gummiwarenfabriken qualmten, und in Werkstätten entstanden Glied um Glied Kettengehänge; Männer verrührten Zahnpasta in Kübeln und füllten Mundwasser aus Kupferbottichen ab; Mädchen machten im August eilig Tomaten in Blechbüchsen ein oder arbeiteten mit Volldampf an Geschenkartikeln für den Weihnachtsabend; Indianermischlinge schufteten auf brasilianischen Kaffeeplantagen, und weltfremde Idealisten wurden um ihre Patentrechte auf neue Traktoren betrogen. Das waren einige der Leute, die ihren Tribut an Nicole entrichteten, und indes das ganze System sich weiterbewegte und die Welt beherrschte, verlieh es dem Vorgang ihrer Großeinkäufe eine fiebrige Glut, wie der rote Schein auf dem Gesicht eines Feuerwehrmannes, der seinen Posten vor einer sich ausbreitenden Feuersbrunst innehat. Nicole, die ihr Schicksal in sich selbst trug, veranschaulichte sehr einfache Prinzipien, doch tat sie es so folgerichtig, daß Anmut in ihrer Handlungsweise lag, und Rosemarie bekam sofort Lust, es ihr gleichzutun.
Es war fast vier Uhr. Nicole stand in einem Laden mit einem Sperlingspapagei auf der Schulter und hatte einen ihrer seltenen Anfälle von Gesprächigkeit.
»Was wäre gewesen, wenn du damals nicht in den Kanal gesprungen wärst? Manchmal grüble ich über solche Dinge nach. Kurz vor dem Krieg waren wir in Berlin, ich war dreizehn, es war kurz bevor Mutter starb. Meine Schwester sollte auf einen Hofball gehen, drei königliche Prinzen standen auf ihrer Tanzkarte, es war mit allem Drum und Dran von einem Kammerherrn arrangiert worden. Eine halbe Stunde, bevor sie aufbrechen wollte, bekam sie rechtsseitige Schmerzen und hohes Fieber. Der Arzt stellte Blinddarmentzündung fest, und sie sollte operiert werden. Aber Mutter hatte ihre Pläne, darum ging Baby auf den Ball, tanzte mit einem Eisbeutel unter dem Abendkleid bis zwei Uhr nachts. Am nächsten Morgen um sieben Uhr wurde sie operiert.«
Demnach war es gut, hart zu sein; alle netten Leute waren hart gegen sich selbst. Aber es war vier Uhr, und Rosemarie dachte an Dick, der jetzt im Hotel auf Nicole wartete. Sie mußte hingehen; sie durfte ihn nicht warten lassen. Immerzu dachte Rosemarie: »Warum gehst du nicht?« und dann plötzlich: »Oder laß mich gehen, wenn du nicht willst.« Aber Nicole ging noch in einen anderen Laden und kaufte Hüftgürtel für sie beide und ließ einen an Mary North schicken. Dann erst schien sie sich zu besinnen und plötzlich zerstreut, winkte sie einem Taxi.
»Auf Wiedersehen«, sagte Nicole. »Es war nett, nicht wahr?«
»Furchtbar nett«, sagte Rosemarie. Es war schwerer, als sie gedacht hatte, und ihr ganzes Ich lehnte sich auf, als Nicole davonfuhr.