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Orlando, der Schäfer

Orlando Asche entstieg dem Bahnwagen. Hinter ihm drängte es; aber er klomm vorsichtig, sich festhaltend, die Stufen hinab.

Sie kamen dann alle vor ihm zum Durchlaß und gaben ihre Fahrkarten ab;. Die Frauen und Mädchen, die ihre Einkäufe im Korbe auf dem Rücken geborgen hatten, drehten sich ein wenig und hatten damit Raum geschafft. Aber nachher wurden sie von den Männern überholt, die das herrliche Wetter gemahnte, in der Ökonomie noch zuzugreifen.

Den Beschluß bildeten ein paar gelassenere wohlgekleidete Gestalten, die gemach in ihre vornehmere Häuslichkeit zurückkehrten.

Aus allen Wagenklassen der Zugbreite waren sie zu einem Knäuel vor dem Durchlaß zusammengeflossen und strahlten in der gleichen Weise nun wieder auseinander.

Als der lange Asche seine Fahrkarte abgab, fragte ein großer, rauchender Mann, der jenseits des Gitters wartete: »Wollen Sie ins Altersheim?«

»Jo.«

»Sind Sie Orlando Asche?«

»Jo.«

»Haben Sie was miet?«

Asche stand nun schon draußen. Er sah den andern ohne Verständnis an.

»Ennen Koffer?« fragte der.

Ein Kopf schütteln antwortete.

»Dann wollen wir gehen.« Und er faßte einen Handwagen bei der Deichsel.

Sie gingen nebeneinander dahin. Der Mann vor dem Wagen sah bald, daß er seine langen Beine zügeln müsse, die mächtig ausgriffen und in den Knien federten. An der Weggabelung waren sie vorüber und hatten sich links gewandt. Der Ankömmling ließ die Lider hängen, wie wenn er todmüde wäre. Er sah aus wie einer, den die tägliche Not des Lebens erschlagen hat. Seine Stiefel waren undicht trotz der vielen Riester, die unten entlang liefen, sein Rock hatte Flicken an den Taschen und an den Ärmeln. Um den langen Hals trug er ein verwaschenes graues Tuch, das vorn in die Weste eingeschoben war. Eine alte Mütze auf dem Kopf. Der sehr lange schwarze, stark mit Grau vermischte Bart trug dazu bei, sein Gesicht noch hohler und hagerer erscheinen zu lassen.

»Seid Ihr oo im Alterschheim?« hub er während des Gehens an.

»Ja.«

»Ihr habt wohl eingeholt?«

»Ja. – Die Gänge runter nach 'm Orte, die mach ich immer«, fügte der Einspänner bei.

»Wird ma angehalten, daß ma was ohngrifft (angreift)?«

»Es giebt 'r genug, die nichts tue. Die essen und trinken und schlafen, das ist denen ihre Arbeit.«

»Is denn sonst die Behandlung, daß man's kann aushalte?« Der Einspänner kniff sein Gesicht zusammen, daß es in vielen auslaufenden Fältchen erstrahlte und sein Schnauzbart wie ein dicker fahler Strich mitten hinüberlief. Er verfiel vor Rührung in eine unbeholfene, fast stotternde Sprechweise. Ja, ja, großartig sei die Behandlung. »Der Regierungsrat – ja der – der läßt sich nichts anmerke, als ob wir – ob wir – Rentenempfänger sind. Und die Schwester Karoline –«

Was ging das alles den andern an. Er hatte nur hören wollen, ob er in Ruhe seine Glieder ausstrecken dürfe zum Sterben. Wenn Orlando Asche sprach, so geschah es in einem fremden Ton, einem Ton, wie aus einem zersprungenen Gefäß, das, unbrauchbar geworden, bald in Scherben gehen würde.

Sie waren gar nicht weit gegangen, so mußte Orlando ruhen. Sie setzten sich dazu auf die Barriere zur Seite der Fahrstraße.

»Quatschenböhme« (Pflaumenbäume)«, warf der Einspänner hin und wies die Chaussee entlang.

Man sah die grünen Pflaumen auf der Erde liegen, etwa so groß wie Traubenrosinen. Dicht vor ihnen jenseits der Fahrstraße öffneten sich im roten Stein die Felsenkeller mit grauen Türen; Heuduft durchtränkte die Luft; die Berge hinter ihnen waren mit einem weißlichen Schleier von Sonnendunst verhängt; blank, wie poliert, lief die Saale unten im Tal durch die Wiesen.

»Wir sind drum eingekommen, 'ner Haltestelle wegen«, hub der Einspänner an. »Wir machen doch, viel hin und wieder vom Altersheim und vom Genesungsheim. Nach 'm Genesungsheim die Rekonvaleszenten, die möchten mitunter liegen bleiben auf dem Wege. Aber die Eisenbahner haben beschlossen: Nein, ene Haltestelle gibt's nicht.«

Der Einspänner blickte das graue lange Gesicht seines Nachbars an, das ihm schlaffer geworden zu sein schien. Der taumelte und fiel zur Erde. Dabei krachte es an seinen Stiefeln, und der Dorn der Böschungshecke verfing sich in Rock und Hose. Fetzen hingen.

Mit großer Mühe kriegte ihn der Einspänner wieder auf die Füße. Wie sollte er den maroden Menschen nur heimbringen! Sie hatten kaum ein Viertel des Weges zurückgelegt, und straßauf, straßab war kein Gefährt zu sehen oder zu hören. Der Orlando Asche war erst sechsundsiebzig Jahre alt. Wer konnte wissen, daß er schon so morsch und bröcklig war.

Der Einspänner unterhandelte mit ihm, er solle sich auf seinen Wagen setzen. Es blieb ja schließlich auch nichts andres übrig. So hielt Orlando Asche seinen Einzug in das Altersheim, gefahren wie ein Kind, mit Stiefeln, die kein Wasser mehr hielten, und mit Kalendern (Flicken) an Rock und Hose.

Die Schwester ließ ihm Kaffee reichen. Danach saß er und ruhte sich aus. Er war in einem großen, hellen, herrschaftlichen Gemach, das mit Stühlen und Sofas und Tischen ausmöbliert war.

Andre alte Männer saßen auf diesen Stühlen und ruhten auf diesen Sofas. Sie rauchten und lasen. Er aber saß steif auf dem Stuhl an der Wand mit den großen dürren Händen auf seinen dürren Knien.

Nach einer Weile kam die Nachricht, er solle ins Bad kommen. Es war ihm, als werde er von einer Faust gepackt. Der Atem versagte ihm.

Als er dann aber im warmen Wasser saß, dachte er: »Ma is nu gewaschen auf alle Fälle. Das is besser so-e.«

Ein neues Hemd war ihm hingelegt worden. Auch das wandten sie noch an ihn. Viele Umstände würde er ihnen außerdem nicht bereiten. Draußen wartete dann einer, der ihn nach seiner Stube brachte, wo er sich zur Ruhe legen sollte.

Er lag noch nicht lange, so trat die Schwester Karoline ein. »Ich glaube, es ist am besten, wenn Sie ein paar Tage im Bett bleiben und sich erst ausruhen«, sagte sie. »Hier habe ich Kleider für Sie mitgebracht, die will ich in Ihren Schrank hängen.« Sie trug einen braunen neuen Anzug über dem Arm. Außerdem stellte sie ihm neue Pantoffeln hin und neue Stiefel. »Das hier ist Ihr Kleiderschrank und das Ihr Waschtisch. Ihre Sachen hier darf ich doch aber mitnehmen zum Ausbessern, nicht wahr?«

Sie wartete erst seine Antwort ab. »Ja –« kam es geistesabwesend.

»Sie werden sich hier schon bald erholen«, ihre Stimme rollte ein wenig. Sie faltete nicht die Hände. Aber in ihrem Herzen sprach sie eine Art Gebet, daß der arme, abgetriebene Mensch noch ein paar Jahre hier im Behagen des Altersheimes leben möge.

Orlando schlief ein. In der Nacht wachte er dafür. Er hatte noch zwei Stubengenossen, deren Atemzüge er hörte. Dann hörte er auch das Ticken einer Uhr. Es war ganz dunkel, die feine Mondsichel war längst untergegangen. Er lag still, gleichsam horchend und wartend.

Dabei flog ihm sein Leben wie ein fremdes Schattenbild vorüber, das keine Anteilnahme bei ihm zu erwecken vermochte.

Er war Schäfer gewesen, hatte eine große Familie gehabt, die aber vor ihm dahingestorben war, bis auf den Sohn in Amerika und die Tochter, bei der er zuletzt gelebt hatte. Er war abgebrannt und war nicht versichert gewesen. Seine Ersparnisse hatte er dem Nachbar geliehen, der mit ihm abgebrannt war. Fürchterlich hatte sich die Lohe über das ganze Dorf gewälzt. Große Flammenfetzen waren wie flatternde Fahnen durch die Luft geflogen. Körner waren in prasselnder Wolke aufgestiegen.

Er war bei der Bedienung der Spritze zu Schaden gekommen. Mit einem Male hatte er unten gelegen, und die Spritze war über ihn weggefahren.

Kein Hemd gerettet, kein Stuhl gerettet.

Nachher war er ohne Dienst und wurde Arbeitsmann. Die Frau half ja auch; aber sie verkrüppelte allmählich an Händen und Füßen.

Sie starb.

Im schmalen, schreckhaft niedrigen Sarg wurde sie hinausgetragen.

Nun lasse der Herrgott ihr Flügel wachsen von weißen, silbern glänzenden Federn und ziehe ihr ein seiden Gewand an, darin Lilien und Rosen eingewirkt sind.

In dem Manne aber setzte sich etwas zur Wehr gegen die alte Hausfreundin, die Not, die sein Weib bis zur Himmelspforte geleitet hatte. Gegen die Not, die über das Leben hinaus währte, gegen das Eingescharrtwerden im Armensarg. Ekel, Haß, Zorn stiegen in ihm auf. Tödliche Angst erfaßte ihn vor dem elenden, flachen Kasten mit den schmal gerückten Brettern.

Einer, den er kannte, war ins Altersheim gegangen, ein ganz alter wracker Mann. Er erfuhr dann, daß er gestorben sei. Der Sohn sprach bei ihm vor und erzählte von dem prachtvollen Begräbnis, das der Vater gehabt habe. Der Sarg sei ganz mit Kränzen bedeckt gewesen. Alle die alten Männer in guten Kleidern, die Schwester Karoline und die Schwester vom Genesungsheim seien hinter dem Sarge hergegangen. Wie einen hochgeborenen Herrn habe man den alten Arbeiter zu Grabe getragen.

Am selben Abend brachte er sein Gesuch um Aufnahme zu Papier und wehrte dann in blasser Angst dem Tod den Eintritt in seine Kammer.

Jetzt war er am Ziel. Sie hatten ihn auch gleich gebadet, daß es hinterher keine Umstände machte. Er hatte keinen Groll deshalb.

Er hörte die Uhr und die Atemzüge seiner Stubengenossen. Eine köstliche Befriedigung, als sei er einer großen Schmach entronnen, erfaßte den abgehetzten Mann.

 

Am andern Morgen hörte er, wie seine Stubengenossen ihre Betten machten. Der eine war ein ganz alter Mann, breit, aber kurz, mit kreideweißen Haaren. Ehe der aus der Stube ging, kam er heran und wünschte ihm guten Morgen. Dann faßte er in die Westentasche und holte einen prachtvollen Backenzahn heraus, den er sich hatte ziehen lassen.

»Gieht's denn hinte nich en bißchen besser?«

»Ich ho geschlafen«, antwortete Orlando.

Der andere Mitinhaber betrachtete ihn, als ob er ihn kaufen wolle und sich zuvor überzeugen müsse, was er denn wert sei. Er hatte ein beutliges, nicht eben großes Gesicht mit spitzgehaltenem, dicht anliegenden Vollbart. Die Augen waren ein wenig gerötet. Unzufrieden ging der Mann aus der Stube. Es war Julus Patz.

Dem neuen Pflegling wurde das Frühstück gebracht. Nachher kam die Schwester mit dem Arzt. Man reichte ihm gute Kost und ein Glas Wein. Am Nachmittag kam die Schwester wieder und sagte ihm, er müsse mehr essen, damit er schneller zu Kräften komme. Ob er auch gut liege?

Seine Grabesstimme antwortete: ja, er liege gut. Er rückte unruhig den Kopf. Was wollte die Schwester von ihm?

Ehe sie die Tür noch erreichte, trat Julus Patz in die Stube. Mit seinem unzufriedenen Gesicht war er ab- und zugeschossen. Jetzt zog er die Mütze vor der Schwester und brachte sein Anliegen mit gedämpfter Stimme vor. Aber Orlando verstand doch, was er wollte.

»Ich hab schon anfragen wolle, ob wir den Kranken in der Stube behalten. Man wird ja melancholisch …«

Ja – die Schwester hatte auch schon daran gedacht, den Orlando Asche umzubetten. Aber sie sagte es nicht.

Julus Patz sprach weiter: »Das kann doch keiner verlange, daß man das soll mit ansehn …«

Nun musterte ihn die Schwester. Sie wußte ihre gedrungene Gestalt so zu heben, daß dem andern die Worte versagten. Aber die Sache an sich ließ sie dadurch nicht anfechten; nur daß sie andre Gesichtspunkte ins Auge faßte. War dem neuen Pflegling nicht wirklich am besten gedient, wenn er vorläufig allein im Zimmer lag, unbehindert durch den neugierigen, zänkischen Stubengenossen?

Sie schaute zu Orlando Asche hinüber und begegnete einer stumpfen Sterbemiene. Und doch glomm ein Funke in den Augen.

Sie sagte: »Herr Asche bleibt hier im Zimmer. Sie werden ja auch einmal krank werden und werden es mir dann Dank wissen, wenn Sie nicht gleich umgebettet werden. Asche ist überhaupt nicht krank, nur geschwächt: Er wird bald aufstehen.«

Orlando schlief ein. Eine wundertätige Hand hatte jeden Druck von seiner Brust und seinem Kopfe genommen.

Als er kaum erwacht war, brachte ihm der Einspänner Kaffee und Weißbrot.

Orlando musterte ihn. Er war wie ein Herr gekleidet, der das Seine zusammenhalten mußte.

Er sah ihn wieder vor sich, wie er ihn auf seinem Wagen hierher gezogen hatte, lang sich streckend bei den schweren Steigungen und mit zurückgeworfenem hohlen Rücken, wenn es bergunter ging. Als es dann flacher wurde, hatte er vor sich hingesummt und einen wippenden, weit ausgreifenden Schritt angenommen. Hin und wieder hatte er sich zum Fahrgast umgewandt, den er tröstete, sie wären nun bald daheim.

Orlando hatte sich auf die Seite gedreht, so daß er das Zimmer überblicken konnte, es war mit hellen, bräunlich gemaserten Möbeln ausgestattet, die spiegelblank erglänzten. Jeder Inwohner hatte sein Bett, seinen Stuhl – sein Bett mit rot und weiß gewürfelten Überzügen. Und dann hatte jeder auch seinen eigenen Betteppich, einen schmalen, länglichen Blumenstreifen. Für die beiden andern stand ein großer Kleiderschrank quer an der Wand und eine große Waschkommode. Aber Waschbecken und Kanne und Seifennapf hatte jeder für sich allein.

Er hatte Schrank und Waschtoilette mit keinem zu teilen, sie waren dafür eben halb so groß, wie drüben der Schrank und die Waschtoilette.

Er saß aufrecht im Bett. Es fing sich an, in seinen Gedanken zu rühren, und er begriff nicht, warum sie mit den abgewirtschafteten alten Männern so viele Umstände machten. War wohl hier ein stiller Winkel, daran das harte Leben vorüberfloh mit seiner wilden Hätz von Not und Sorge, von Hunger und von allerlei Schicksalsschlägen.

Aber die Krankheit und Morschheit fand doch den Weg hierher, und der Tod würde auch in diese lichte Stube treten. Er streckte sich aus mit dem Gesicht nach der Wand. Nach einer Weile drehte er sich wieder herum, richtete sich auf, schob die Beine aus dem Bett und tappte zum Kleiderschrank. Da legte er die neue dunkelbraune Hose an. Kühl dünkte es ihn, und er zog auch die Weste über. Dann stand er und betrachtete sich. Es hing auch eine blaue Arbeitsschürze in seinem Schrank, die er zuletzt herausnahm.

Er musterte den Schrank und strich mit seiner großen, schweren Hand über die blanke Fläche. Auch seine Waschgefäße nahm er in Augenschein. Auf schlappenden Pantoffeln ging er weiter durch die Stube. Die Schürze hatte er vorgebunden.

Er schlurfte von Gerät zu Gerät. Über dem Bett von Julus Patz hing ein mit Perlen gestickter Uhrpantoffel, über dem Bett des alten Daniel eine große Photographie in Glas und Rahmen, des alten Daniel Brotherrschaft mit ihrer Verwandtschaft und ihrem Gesinde.

Orlando tastete zu den Fenstern, deren eins er öffnete – die Fenster hatten helle, blumige, zu kurzen Bogen aufgenommene Gardinen – und blickte auf einen schöngehaltenen Garten mit Lauben und Bänken hinab.

An der Gartenmauer sah er einen umherschnüffeln und glaubte, Julus Patz zu erkennen. Auch den alten Daniel erblickte er. In der Laube aber saßen drei Männer und rauchten und plauderten.

Er hielt sich am Fensterbrett, indes seine Augen wanderten und streiften. Mitunter schüttelte er den Kopf. Aber er schaute immer wieder nach den großen Herren Rentenempfängern, die in der Laube feierten, und nach dem alten Daniel, der auf den Gartensteigen lustwandelte.

Endlich schlurfte Orlando zurück. Er hängte seine Sachen wieder in den Kleiderschrank, kroch stumpfsinnig in sein Bett und drehte sich zur Wand.

Und plötzlich durchfuhr ein Ruck seinen Körper, dem ein krampfhaftes Zittern folgte. Durch alle Glieder rieselte es. Heiß kochte es auf seiner Brust, und er begann zu röcheln. Zwischen seinen Lippen brachen rauhe Töne hervor, die ihn erschreckten.

Er konnte sich nicht beherrschen, er deckte die knochigen langen Hände über sein Gesicht und lag und weinte.

 

Einer war gestorben, ein ganz alter Mann mit nur einem Bein. Der Einspänner stürzte zur Totenfrau, sie solle kommen. Am Arme trug er einen Korb, denn er sollte allerlei aus dem Marktflecken mitbringen.

Orlando saß im Tagesraum und sah Zeitschriften an. Mit ungeübten Fingern schlug er die Blätter um, mit tappenden Blicken nahm er die Bilder in Augenschein. Hin und wieder sah er umher, als müsse er sich überzeugen, daß nicht ein Trug seine Sinne eingesponnen habe.

Aber er sah dann auf feiernde alte Gesichter. Er sah die Kanapees, die immer besetzt waren, sah den Bücherbord.

Seit zwei Tagen stand Orlando auf, vier Tage war er hier. Er trug wieder seine alten Sachen, die aber ausgebessert waren. Wenn er sein Bett gemacht hatte, strich er mit seinem Stock darüber, um es ganz glatt und eben zu machen. Es lag dann in gleicher Fläche wie abgelotet. In seiner Westentasche fühlte er eine Mark monatlichen Taschengeldes, eine volle Mark, die er für sein Behagen ausgeben durfte. Er sah aus wie ein Erwachender, wie einer, der im Grabe gelegen hat, und der wieder aufgestanden ist und wandelt.

Der Vormittag war warm und schön. Am Nachmittage donnerte es.

Er saß auf dem Bänkchen am Haus unter den Fenstern der Schwester Karoline. Der Kommerzienrat setzte sich neben ihn. Er war Kaufmann gewesen, der Mann, und hatte Unglück gehabt.

Sie sahen einen festen Mann, die blaue Schürze vorgebunden, mit einem großen Korbe voll Eichenlaub auf den Hof kommen. Von dem Laub sollten Kränze geflochten werden zur Beerdigung.

Sechs Kränze würden immer geflochten, dann kämen noch sechs künstliche dazu mit gemachten Blättern und Blumen, die aber in der Halle wieder aufbewahrt würden und somit jedem das Geleit gäben. So sagte der Kommerzienrat.

»Es geht im höchsten Grade würdig und feierlich her«, sagte er. »Ma will ja nicht behaupten, daß ma sich grade freut, wenn wieder einer 'nausgetragen wird. Aber es ist dennoch ein erhebendes Gefühl. Man sieht doch, daß man auch mal so mit allen Ehren wird zur Ruhe bestattet werden. Ja, wir können uns nicht beklagen …«

Die Schwester Karoline kam aus dem Haus daher und blieb stehen.

»Ich will Ihnen nur sagen, Asche, Sie brauchen morgen bei dem Begräbnis nicht mitzugehen.«

»Do muß ich miet«, antwortete er.

»Schön, ich will Ihnen nichts in den Weg legen. Aber dann ruhen Sie vorher.«

Über seine dumpfe Sterbemiene war ein Flackern gegangen. In seinen hohlen Augen hatte etwas gelauert, das sich zur Wehre zu setzen trachtete.

Er dachte nur an das Begräbnis, das er wie ein Fest erwartete. Der schmale Sarg, darin man seine Frau hinausgetragen hatte, entschwand fast aus seiner Erinnerung. Er dachte an das Begräbnis wie an einen Triumphzug. Es hatte ihn schon ergriffen, als man den Toten hinläutete. Hier unten wurde er abgesagt, da oben wurde er angekündigt. Nun war gewissermaßen eine Bahn vom Himmel zur Erde geschaffen.

»Gott erbarmet sich der Schwachen und Verzagten«, dachte er. »Und Gott erbarmet sich derer, die bedrückt sind. Wer dorthier in Knechtsgestalt dahin geschritten ist mit seiner Bürde, for den werden die Pforten des Paradieses weit aufgetan. Flugsch schwebt enne Schar von Engeln daher und nimmt ihm seine Last von seinen Schultern. Und er tritt vor Gottes Angesicht, und Gott spricht zu ihm: ›Itze hat alle Not und alle Ploge ein Ende – itze brauchst du kenne Sorge zu haben, dem Dache wegen über dinnen Haupte und dem Stückechen Brot wegen for deinen Hunger.‹« Und nun dachte er an das Altersheim, und daß auch hier alle Not und alle Sorge jenseits der Schwelle geblieben seien.

Es donnerte wieder. Der Tagesraum füllte sich.

Die bei der Landarbeit geholfen hatten, kamen lachend und geschäftig, froh, daß sie vor dem plötzlichen Regen unter Dach waren. Sie brannten gleich ihre Pfeifen an, zogen die Stühle unter den Tischen hervor und setzten sich.

»Der Weizen steht noch aufm Stocke«, sagte einer, »dem tut das nischt, wenn er e paar Tröppchen Regen kriegt. Aber dem Heue wegen möcht's aufhöre. Na, das is mit der Ökonomie nich andersch, man hat auch mit Ärger drunter.« »Morgen haben wir nu die Versäumnis mit dem Begräbnis«, sagte ein andrer »Sonst, – wir hunn zu schaffen, daß wir vom Flecke komm'. Ma is doch noch kee alter Kerl. Ich muß so ofte sperren.« Er gähnte, daß es krachte.

»Der Berg hinten macht een' tut,« sagte ein ganz Dicker, Runder, Fröhlicher. »Aber er trägt zu. Aber den Rost haben wir drin im Korne.«

»Ich ha mich immer vom Berge zurückgehalten«, nun wieder der Zweite. »Aber ich will es mal betrachte. Ich weeß nich, man is doch knapp achtundsiebzig, und ich muß schon wieder aufsperre. Rauch mr e bißchen.« Und er schmauchte sein Pfeifchen an.

Auf dem einen Sofa lag der Geheimrat. Das Fenster stand offen. Das Gemach war in eine blaue Rauchwolke eingehüllt. Julus Patz war unruhig beim Gewitter. Auch das bevorstehende Begräbnis war ihm nicht recht.

»Sie sollten den Kerl einfach 'naustrage«, sagte er zum Geheimrat.

Der antwortete: »Ja, man wird inkommodiert. Aber dagegen läßt sich nichts machen. Das muß man mit in Kauf nehme.«

Julus Patz hatte sich auf das Fußende hingesetzt, der Platz war nicht bequem, und er stand auf und ging um den Tisch herum. Da saß der alte Daniel an der Wand in einem großen dunkelblau bezogenen Sorgenstuhl.

Julus Patz sagte zu ihm: »Gehen Sie morgen mit?«

Der alte Daniel riß seine hellblauen Augen auf. »Ja – ja. ich gieh mit.«

»Ich würde mich in Ihrer Stelle dispensieren lasse.«

»Nee«, antwortete der alte Daniel und lächelte, »das mach ich nich. Wir sind doch Hausgenossen gewasen. Da gehört sich das, daß ma mitgeht.«

Julus Patz spuckte aus und steckte die Hände in die Joppentaschen. Er war noch verhältnismäßig jung mit seinen einundsiebzig Jahren. Aber er hatte dem Leben allzuviel von seiner Kraft hingeworfen, und der Nacken duckte schon. Man konnte ihn sich recht wohl vierfüßig in Gestalt eines wenig beleibten Katers denken.

Da am andern Tisch neben den Landarbeitern saß ein ganzer Haufen ekelhafter alter Kerle. Blitz und Donner erschreckten sie nicht. Sie saßen ruhig, sprachen selten ein Wort miteinander. An dem Stuhl des einen ging er vorbei, daß dessen beide Handstöcke, die an der Stuhlseite lehnten, zur Erde fielen.

Der Schäfer, ein baumlanger Mensch, fast so groß wie Orlando Asche, wandte den Kopf. »Wollen Sie nich aufhebe? Soll sich der Mann epper (etwa) bücke?« Er zeigte auf den Nachbar.

Es grollte hinter ihm her. Er ging bis zum Fenster, dann um die Tische herum und am Geheimrat wieder vorbei.

Auf dem einen Diwan, nahe beim alten Daniel, saß Orlando Asche, neben ihm der Schlosser Findekorn. Sie sprachen vom Begräbnis.

Der Schlosser sagte: »Ich ha das gerne. Wir gehen alle den Sarg hinternach, die Schwester Karoline auch und die Schwester vom Genesungsheim. Die haben sich dann propper gemacht mit ihrn schwarzen Kleedern, und wir haben unsre guten Sachen auch angetan. Sieht's nach Regen aus, dann nehmen mir ennen Regenschirm, wenn m'r enen haben, und sieht's nich garschtg, dann nehmen wir kennen Regenschirm. Der Hofmeister geht oo mit. Und der Pfarrer hält enne Rede: ›Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beloden seid, Ich will euch erquicken.‹ Er hat oo mal gesprochen: ›Meine Schafe hören meine Stimme, und sie folgen mir und ich gebe ihnen das ewige Laben.‹«

Orlando faltete die Hände.

Findekorn fuhr fort: »Zuletzt da treten wir ans Grab ran und schmeißen jeder unse bißchen Erde 'nein. Und dann wird's Gebet gesprochen. Und dann gehen wir häm. Ma weßß, so hat man's ooch mal. Und das is gar ä tröstlicher Gedanke. Man wird nicht eingeschuffelt wie e Hund. Nachen (nachher) is man wieder vergnügt: Der ruhet in Frieden! – und man läßt sich die guten Tage noch gefallen. Wir helfen e bißchen zuschuffeln, und die Kränze legen wir oben drauf. Aber die feinen, die werden in der Halle wieder aufgehängt. No, man kann nich verlange, daß sie die auch preisgeben sollen. Die hängen denn do-e und warten, daß der Nächste soll drankomme. Wenn mir da so stehen, und der Pfarrer spricht so schöne und die beiden Schwestern in ihrer guten Garderobe, die haben ihre Hände gefalt', und mir haben oo unsre Hände gefalt', dann wird mir mei Herze so schwer, und ich muß immer heule.«

Der Einspänner kam herein, schüttelte sich und schwenkte seinen runden, schwarzen Hut ab, der ein wenig Regen bekommen hatte; seine Beinkleider waren hochgeschlagen. Er faßte in den Taschen umher, kam zum Schlosser und bat höflich um Feuer.

»Geben Sie mir doch mal Ihre Schachtel.«

»Was? Was soll ich gebe? Ich ha was von Achtel verstanden.«

»Feuer!« schrie der Einspänner.

Der Einspänner wippte mit seinen Armen, als habe er Flügel am Leibe, und hielt dem Schlosser die Zigarre unter die Nase.

Da begriff der Mann. »No, da sagt man doch, ma will rooche, und ich soll die Schachtel hertun.«

Orlando war dichter an den Schlosser herangerückt, so daß Platz wurde. Der Einspänner setzte sich denn auch und paffte los.

Als er ein Weilchen gequalmt hatte, rieb er seine Hände und sagte: »Itze kann's losgehen. Morgen nachmittag um drei Uhr ist's festgesetzt. Ich komm eben vom Pfarrer.« Er rauchte ein Weilchen. Die rechte Hand hatte er auf seinem Knie, mit der Linken drehte er die Zigarre, die er hin und wieder herausnahm und betrachtete. »Jetzt ist das ja einfach«, sagte er, »wo wir, wo wir unsern eignen Gottesacker haben. Zuerscht mußte man aber viel hin und wieder springen. Die Gemeinde, die wollte nichts davon wissen, daß wir auf ihrem Gottesacker beerdigen dürfen. Sie kriegten das mit der Angst, daß sie kennen Platz mehr hätten. Wir sind keine jungen Leute mehr, natürlich sterben wir weg. Nu war dann e Stücke Acker angewiesen, und wir ließen eine Mauer drum aufführe. Und da mußten wir wieder einem den Schlafrock anziehen. Da haben mir aber was springen müssen. Die Gemeinde wollte keinen Platz mehr bewilligen, unser Gottesacker war aber noch nicht fertiggestellt. Das hat Schweiß gekostet.«

Der Kommerzienrat saß an der Wand mit übergeschlagenen Beinen. Julus Patz hatte sich neben ihn gesetzt. Der Geheimrat lag noch auf dem Sofa.

Die Unterhaltung hatte fast ganz aufgehört; selten fiel noch ein Wort. Der Schein der Blitze zuckte durch das Zimmer. Hin und wieder seufzte einer bei dem berstenden Geknatter der Donnerschläge. Und der Regen fiel gemach und sanft aus grauem Himmel, der sich allmählich aufhellte.

 

Orlando hatte seine Mark monatlichen Taschengeldes doch angerissen, er hatte sich, als der Barbier gekommen war, das Haupthaar scheren und den Bart verstutzen lassen. Den Bart hatte er sich hauptsächlich des Schäfers wegen, der rasiert war, kurz schneiden lassen. Nun sah sein Gesicht nicht mehr so furchtbar lang aus. Die Schwester hatte ihm auch ein Pfeifchen geschenkt, das er über sein Bett gehängt hatte. Tabak hatte er noch nicht gekauft.

In Haus und Hof und Garten wußte er jetzt Bescheid, auch auf dem Diwan hatte er schon gelegen. Über die gelben, blanken, lackierten Holzflächen in seiner Stube strich er wohl noch und dachte dabei an seine Frau mit ihren armen verkrüppelten Händen und Füßen: Er war auch schon spazieren gegangen, am Bach entlang, der am Altersheim vorüberfließt. Dann durch das Dorf. Dabei hatte er eine Gestalt schreiten sehen, beinahe so lang und dürr wie er selber war, mit dem hohen Schäferstab vor der Schafherde, den Schäfer aus dem Altersheim, der seine Tiere auf andre Weide führte.

Sein liebster Platz war der auf dem Bänkchen unter den Wohnstubenfenstern der Schwester Karoline. Das ganze wirtschaftliche Leben zog hier an ihm vorüber, und er sah zugleich den Kirchturm und hörte das Geläut der Kirchenglocken. Zuerst hatten sie ihm nur gesagt, daß sie bald auch für ihn läuten würden; aber der Gedanke kam nicht mehr so oft, seit er beruhigt war, wie alles seinen Verlauf nehmen würde, wenn er seine Augen für immer zugetan hätte. Er sah von seinem Hofplatz aus auch die Gartenarbeiter ab und zu gehen mit ihren Rechen und Spaten und Karren und den alten Friede mit seinen Gießkannen und seinem Pflanzkästchen. Die Spaziergänger gingen aus und kamen wieder, und die Landarbeiter zogen aus und kamen wieder, all die alten Knaben, die ihr ungeschützter Lebensabend hierher in das Altersheim hatte flüchten lassen.

Auch die Schwester Karoline schritt manchmal über den Hof. Wenn er die Schwester Karoline erschaute, wie sie gemach und fest und nie ohne Ziel dahinging, so dachte er wohl an die Militärzeit zurück und an seinen Oberst. So springen und schwingen die Gedanken im Menschen.

Die Glocken läuteten zum Feierabend, der schönste Sommertag war zur Rüste gegangen. Durch das weit aufgeschlagene Hoftor schwankte eine hoch und breit geladene Heufuhre auf den stolzen, herrschaftlichen Hof des Altersheims. Neben den Pferden ging der Hofmeister, hinter dem Wagen kamen die alten Knaben, die beim Heuen geholfen hatten. Den Rechen auf der Achsel, ihre blauen Arbeitsschürzen vorgebunden, die Gesichter gebräunt, die Mienen belebt, kamen sie plaudernd daher zu zweien und dreien. Das bißchen gesunder Arbeit hatte ihnen wohlgetan, und keiner wußte was von Knickrigkeit in den Gliedern. Hol's der Geier! Sie waren noch ganz forsche Kerle. So ein paar siebzig Jahre, was wollen denn die heißen? Brust heraus! Der mit dem runden Bäuchlein, den festen Wangen und dem strahlenden Gesicht, der pfiff sich was. Zuletzt klang das sachte Kläffen eines Hundes und das fade Bimmeln einer blechernen Schelle über die Hofmauer, und durch das weitgeöffnete Tor zog der Schäfer mit seiner Herde ein.

 

Orlando erhob sich und ging ins Haus. Mit einem Male stand er in seiner Stube, hatte den Schrank aufgeschlossen und hielt seine Arbeitsschürze in den Händen. Und am nächsten Morgen band er sie vor, trat der Schwester Karoline in den Weg, nahm seine Mütze vom Kopfe und sagte: »Ich möcht auch was tue, Schwester.«

Die Schwester musterte ihn mit ihren blitzenden Augen und sagte: »Hacken Sie zuerst ein bißchen Holz. Aber nicht zu lange. Es treibt Sie hier keiner. Später können Sie sich dann beim Hofmeister melden.«

Er hackte Holz. In der nächsten Woche wurde er bei den Gartenarbeitern eingestellt. In den Feierstunden setzte er sich mit in die gewaltige Holzlaube an der Gartenseite, wo die Draußenarbeiter immer zusammenkamen. Da sprachen sie über die Landwirtschaft und die Tücken des Jahres, das allzu gewittrig sei. Es hörte sich an, als ob eine Anzahl Besitzer versammelt wären, die allerlei Unbill schon aushalten konnten. Einer nach dem andern steckte seine Pfeife an. Bald hing der Qualm in der Laube wie eine Wolke.

Orlando hatte auch Tabak gekauft. Die Welt draußen versank ihnen doch mehr oder weniger, wenn sie auch politisierten und ihre Zeitung lasen. Eine hohe Mauer war an der Wetterseite aufgeführt. Und so genossen sie die Abendröte, die an ihrem Himmel strahlte und deren Schein von Wolke zu Wolke sprang. Bis in die fernsten Stätten fielen ihre Reflexe. Jedem verklärten sie etwas in der Erinnerung, und über die harten Zeiten in ihrem Leben legten sich die weichen Dämmerschatten des Abends, die jede Kontur verwischen.

In der ersten Zeit nach dem Begräbnis hätte er von gar nichts anderm sprechen mögen. Wenn einer mit ihm redete, so schlüpfte es ihm gleich unter: das Geläut, die Kränze, der feierliche Zug der alten Männer, der Pfarrer, das Weinen der Angehörigen; allmählich sprach er jetzt vom Kohl, den Rüben, den Erdäpfeln und der Obsternte. Wenn er an seine Frau dachte, fiel ihm nicht immer gleich der Armensarg ein, und geschah es doch, so dachte er daran wie an eine Trübsal unter vielen, die nun alle überwunden waren. Der Schäfer, der in Scheidung stand, erhielt Urlaub auf mehrere Wochen; Orlando mußte die Herde übernehmen. Seinen Bart hatte er bis auf den spärlichsten Rest verstutzen lassen, seine Schürze hing im Schranke.

Er zog aus mit dem hohen Schäferstab, dicht hinter sich den Hund und das blecherne Klappern der Glocke, die das Leittier am Halse trug.

Er stand auf der Brache und sah seine Herde sich ausbreiten.

Er sah den Eichhörnchen zu, wie sie sich zwischen den ersten Stämmen des Waldes schwangen, wie sie hurtig kletterten und glitten, griff wohl einen Erdkloß auf und warf nach den Dieben.

Er lugte nach den Vögeln aus, den türkischen Rotschwänzchen, den Rotkehlchen, den Goldammern, den Finken, horchte nach den Hänflingen, Grasmücken, Zeisigen, Amseln und Staren, wußte, wo Neuntöter und Rabenkrähe nisteten.

Wenn er sein geschlachtetes Tier für den Küchengebrauch ablieferte, so blitzten seine hohlen Augen wie die Augen eines Triumphators.

Er führte seine Herde auf einen andern Weideplatz. Dabei hörte er, daß die Glocken geläutet wurden.

Ihm fiel ein, eine junge Frau im Orte war gestorben, und er sah von fern den Zug der Trauernden vom Gottesacker heimkehren. Er hörte die beiden Glocken klingen und bitten um eine gnädige Aufnahme droben im Himmel und um ein gutes Gedenken hier unten auf der Erde. Und so lange die Glocken klangen und sangen, so lange stand er an der Feldseite, die gefalteten Hände über seinen hohen Stab gelegt, das Kinn auf die Hände gesenkt.

Er dachte daran, wie wohl ihm sein würde im himmlischen Glanz und himmlischen Frieden, wenn die Glocken jetzt für ihn läuteten, wenn der Zug der Heimkehrenden aus den alten Männern des Altersheims bestände, dem Hofmeister und den beiden Schwestern, die ihm das Geleit gegeben hatten. Aber eine bangende Sehnsucht regte sich zugleich, und es war ihm, als müsse er sich bergen oder gar zur Wehre setzen.

Wie goldstrahlende Sonnenblitze, die über Märchenschlösser gleiten, so tauchte es in märchenverschöntem Glänze in seinen Gedanken auf –: die hellen, freundlichen Gemächer mit den gelben lackierten Möbeln, der Tagesraum mit den herrschaftlichen Diwans und der dicken Qualmwolke von schwelendem Knaster, die große Laube an der Gartenseite mit ihren Tischen und Bänken.

Und dazwischen immer wieder und wieder das Eßzimmer, und auf den langen Tafeln die Teller mit den Fleischportionen, und hinter den lecker duftenden Tellern die großen Herren Rentenempfänger.

Vor den Tellern, aber in gewissen Abständen, waren Schüsseln mit Klößen niedergesetzt, mit Kartoffelklößen, mit trockenen Klößen …

Er dachte und empfand das alles, wie wenn er betete. Die guten Betten, die Qualmwolken, die Klöße, alles wandelte sich in fromme Gedanken um.

Zuletzt betete er wirklich.

»Du weißt das, mein lieber Gott«, betete er, »daß ich bloß bin hergekommen, en anständigen Begräbnisse halben. Ich habe nicht an köstliche Tage gedacht, wie ich bin hergekomm'. Die köstlichen Tage, die sind gekommen, ohne daß ich was dazu getan habe. – Ich möchte nune wohl noch e bißchen hier unten bleibe. – Ich möchte wohl bitten, daß du noch möchtst e bißchen laure … Indessen: … dei Wille geschehe –« Und nun tropften seine Augen.

Die Sonne war schon hinter die Berge getaucht, herbstliche, dünne, schwimmende Nebel regten sich blaß auf den Wiesen, das Feiertagsläuten schallte daher, und er lockte seinen Hund und trieb heim.

 


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