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Die Taufe im Wirtshaus

Sie kamen aus dem Eichbusch mit den Schäleichen. Der Knecht fuhr, der Wirtssohn ging nebenher. Die Fuhre war breit und hoch geladen, und sie hatten Mühe, daß sie durch den Torweg kamen.

Auf dem Hofe standen die Hauklötze schon bereit, und die Frauen stellten sich gleich zum Klopfen ein.

Da war die Wirtin, eine ältere Frau mit breiter Taille und einem unvergleichlichen Hüftenumfang, sodann die Tagelöhnerin, der es ebenfalls an Fleischpolstern nicht mangelte, und schließlich die kleine Matrone, Patenkind der Wirtsfrau, bisher bei ihrer Mutter im enggebetteten Dorfe fleißig, brav und folgsam gewesen, jetzt aber als Magd der Frau Pate überwiesen.

Matrone war sechzehnjährig, ein stämmiges Mädelchen mit unschuldsvollem Kindergesicht. Diesem Ausdruck der Unschuld schmolz sich ein anderer bei, der wie Dummheit aussah, aber gläubige Einfalt war. Denn dumm war Matrone nicht: Sie mied die Burschen, die es alle gelüstete, das viereckige Mädelchen aufzuziehen, und hielt sich der Frau Pate zu, von dieser unter ihren breiten Schutz genommen. Die Wirtsfrau nämlich hatte nur den einen Sohn. Darum waren mütterliche Gefühle weicher Art in ihr frei geworden, Gefühle gegen ein Unmündiges, die sie an des Sohnes Frau nicht los werden konnte. Denn die war handfest und arbeitstüchtig, ein heiteres junges Weib, das seinen ersten Sohn schon geboren hatte. Von der Taufe, die bevorstand, sprachen sie beim Eichenklopfen.

Die junge Frau schaffte im Haus. Mitunter trat sie an das Fenster und schaute auf den Hof hinaus, wo ihr junger Ehemann das Reisig in passende Stücke zerhackte, die in die Hände der Frauen übergingen und von diesen auf ihren Hauklötzen mit der Rückseite kleiner Handbeile bearbeitet wurden, bis die Rinde sich lockerte. Es ist dasselbe Verfahren, das die Jungen in Anwendung bringen, wenn sie sich aus Weidenruten den Wuppwupp klopfen. Die nackten weißen Hölzer werden schließlich in kleine Stücke zu Brennholz zerschlagen, die Rinde fällt dem Gerber zu.

Die Frauen mochten etwa eine Stunde bei ihrer Arbeit zugebracht haben, als eins auf den Hof herauspolterte, ein junger Bursch, der noch den Mund wischte vom Trunk, den er in der Schenkstube getan hatte.

»Weißt denn du«, rief er zum Wirtssohn hinüber, »daß Lattermann erschmissen ist – Philipp? Sein Eichenreisig ist umgekippt, und er ist drunter gekommen. Er ist tot. Derstickt. Er war wieder im Dampfe.« Er ließ den Kopf hängen und streckte die Arme zu lächerlichen Gebärden vor. »Hier fällt einer hin – da fällt einer hin …«

Aber die Wirtin, die erschrocken war, unterbrach ihn kurz: »E Totes soll man nicht veralbre.«

»Schöne!« gab der Bursch zurück. »Aber schade ist das doch, daß er seinen Vortrag nicht mehr halten kann. Der hat immer Leben gemacht. Nun haben wir uns alle schonst auf eure Tääfte (Taufe) gefreut, daß der Zauber wieder losgehen soll, und da sterbt der dumme Kerl weg. E anderer kann das gar nicht so rausbringe. Ganz vernünftig fängt er seine Sache an, nachen wackelt er mit dem Kopfe und heult los. Dar glaubt sich seine Lügen alle selber.«

»Er hat den Krieg doch mit beigewohnt«, sagte die Wirtin ernst. Da drehte der Bursch sein Schnurrbärtchen und antwortete: »Ich war auch bei'n Soldaten.«

»Ja, aber zu Friedenszeiten. Du hast exelziert (exerziert) und den Urlauber gespielt, und er ist in den Krieg mit drinne gewesen.«

Sie redeten so weiter, und die kleine Matrone hob das Kinn und fragte mit ihren Augen.

Da belehrte die Wirtsfrau, daß Philipp Lattermann den Krieg von 1870 mitgemacht habe, bei Wörth, Sedan und Paris sei er mit dabei gewesen. Er habe immer das Signalhorn blasen müssen, woher er der Signalist genannt worden sei, Hornist aber sei er geschrieben worden. Er sei ein Bauer hier aus dem Orte. Der habe Kugeln die schwere Menge pfeifen hören.

»Hier fällt einer hin – da fällt einer hin«, sagte der Bursch mit Grabesstimme.

Just in dem Augenblick trat Philipp Lattermann auf den Hof. Sein Gesicht und seine eine Hand waren vom umstürzenden Eichenreisig zerkratzt worden, die zuständige Rockseite hatte ein paar Risse davongetragen. Er war ein schmeidiger Mann mit hagerem, lederbraunem Gesicht.

Stillschweigen empfingt ihn, befreite Heiterkeit folgte dem Schweigen. Ach, er sei doch totgesagt worden! Nun werde er wohl hundert Jahre alt werden. Er solle erzählen.

Ja, sagte Lattermann, die Zerrkuh sei gesund, die sei stehen geblieben, als der Wagen umgeschmissen sei. Er selbst sei dann hervorgekrochen, allzu weit habe er nicht drunter gelegen.

Er betrachtete seine rechte Hand, der Ballen hatte eine häßliche Wunde. Sein Gesicht sah schnurrig aus, halb weinerlich, halb pfiffig, dabei zeigten sich seine sämtlichen fünf Zähne. Vier kamen auf den Unterkiefer, wo sie unnachbarlich standen, einer wuchs aus dem Oberkiefer hervor. Er war so lang, daß er die untere Lücke mit ausfüllte.

Der Bursch sah den Mann an; er hänselte ihn nicht. Nein, davor hütete man sich. Lattermann war wie Schießpulver. Bloß wenn er seine Kriegserlebnisse vortrug, dann wurde er zu Brei, und man konnte seinen Jux mit ihm haben.

Als Lattermann die Augen von seiner Handwunde ablenkte, traf er auf die teilnahmvollen Blicke der kleinen Matrone. Mit aller herzlichen Einfalt sah sie ihn an.

Nun ließ er seine Augen mit Besinnlichkeit auf ihr ausruhen, setzte sich, da die Tagelöhnerin ins Haus gegangen war, auf deren Hauklotz nieder und fing eine Unterhaltung an.

»Wie ist denn der Name?« fragte er das Mädchen.

»Der Hausname ist Spaatz.«

»Und der Rufname?«

»Matrone«, sagte das Mädchen, »hier nach der Frau Pate.«

»Und der folgende Name?«

»Mit dem heiße ich Barbara, nach der andern Frau Pate.«

»Siehst du wohl –«, sagte Lattermann wichtig, »no, du wirscht doch auch noch einen dritten Namen haben, nach deiner dritten Frau Pate.«

Matrönchen merkte nicht die Neckerei, sondern gab ehrlich zurück: »Nee – mit meinen dritten Namen da heiße ich nach mir, da heiße ich Karline.«

Lattermanns Gesicht zog sich in das Pfiffige und lachend Heitere. Er sah liebevoll väterlich aus. Aber darunter war etwas Unfestes, was einen Teil des Wertes benahm, etwas Wehleidiges. Und weil seine Augen ein wenig feucht und gerötet waren, dachte man gleich an den Trunk.

Er suchte in der Weste umher nach einer Münze, die er mit harten Fingern erwischte und dem Matrönchen zusteckte. »Spar's!« sagte er. Und dann kam ihm das Unbehagliche und Unrastige, und er erzählte allerlei von seinem Unfall. Dabei hielt er die Augen auf seine Hand gerichtet, die die Schrammen und die Wunde zeigte, strich daran umher, sprach vom Verbinden und förderte schließlich seine Schnapsflasche zutage.

Mit der verfügte er sich ins Haus und holte seinen Trunk. –

Die Taufe, die die Wirtsfrau für das Enkelsöhnchen herrichtete, war groß. Vier doppelte Gevattern, die sich aus zwei Paar verheirateten Leuten und zwei Paar Ledigen zusammensetzten, waren geladen, außerdem an Nachbarn, Freunden und Verwandten ein großer Ring.

Die Vorrichtungen waren dem Umfang entsprechend gehalten. An trockenem Kuchen war gebacken worden der Krümelkuchen, der Mandelkuchen, der Ringel, der geschlagene Aschkuchen, der dicke Kuchen, der Schokoladenkuchen, der Hirschhornskuchen und das Gebackene – an nassem Kuchen gab es den Mohnkuchen, den Quarkkuchen, den Preißelbeerkuchen, den Hutzelkuchen und den Rhabarberkuchen mit Eierguß und Gitter.

Der Abendtisch war ebenso reich versehen. Es wurden Suppe und gespickter Rinderbraten aufgetragen. An Salaten wurden Gartensalat und Selleriesalat dargereicht, Herings- und Kartoffelsalat. Mitten in der Längslinie des Tisches standen in ausgiebiger Folge kleine Näpfe mit eingebratenen Mahlbeeren (eingemachte Preißelbeeren) neben Kirschen und Zwetschen (Pflaumen). Die kalte Kost bestand in Schweinebraten, Hackebraten, Schinken und Wurst. Als Trank wurde Weißwein geschenkt.

Das bildete aber dennoch nicht, nächst dem Taufakte, die Hauptsache zur Taufe. Die Hauptsache waren vielmehr die verschiedenen kleinen Nebensachen, die Jauchzrufe des Lebens und allerhand Vertracktheiten, die auf altem Überkommnis beruhen, auf kleinen Spitzfindigkeiten und Klugheiten längst vermoderter Gehirne, die der Märchentrieb aufgefangen und aufbewahrt hat.

Was wird den thüringischen Müttern nicht alles geraten, im Interesse ihrer Kinder zu tun, kaum daß sie ihr Kommen gemeldet haben! Was wird ihnen nicht alles im Drohton verboten! So eine Wöchnerin in den Keller geht, ehe denn ihr Kindlein neun Tage alt ist, so verfällt dies Kindlein dem Zuchthause.

Wessen muß sie nicht alles achthaben bei der Wahl ihrer Gevattern! Bruder und Schwester darf sie nicht zugleich als Gevattern haben, ebensowenig eine Frau, die selber der Geburt eines Kindleins entgegensieht. Dreißig, vierzig, fünfzig Verbote würde man ohne Mühe herzählen können. Ganz amüsierliche darunter. Auf daß sein Kindlein nicht dumm werde, hat der Taufvater am Tauftag zwei bis drei Fläschchen Likör hinzustellen, von denen die Paten alle, bevor sie zur Taufhandlung gehen, zu trinken haben, ebenso haben sie von jeder Sorte Schmerkuchen (nassen Kuchen) zu essen, den die Taufmutter dazu gestellt hat.

Beim großen Abendschmause hebt dann noch einmal der Speisezwang an.

Wenn nicht alle diese kleinen Vorsorgen wären, würde der Tauftag sich nicht genugsam abheben, würde er den kirchlichen Festtagen allzu ähnlich werden, und der Thüringer braucht Buntheit.

Auf dem Gang zur Taufe tragen die Gevattern alle den Patenbrief in der Tasche, das flache Schächtelchen mit dem Wachsengelchen und dem Eingebinde, einer Geldgabe von zehn Mark etwa, und im allerkleinsten Schächtelchen daneben, locker klappernd, in Kupfer- und Nickelgeld, einige Groschen im Wert, die Plapperpfennige des Kindes – die ein baldiges Sprechen bewirken sollen.

Wenn sie im Taufhause wieder angelangt sind, stecken sie diesen Patenbrief mit all seinen Zubehören stillschweigend jeder dem Täufling unter das Kopfkissen, und wenn sie zum Abend am festlich gedeckten Tische sitzen, vom Braten und den Salaten essen, von den Kompotten mit ihrer Gabel, ohne den Zwischenweg über einen eigenen Teller, bissenweise heranholen und vom Weißwein trinken – tritt die Taufmutter an jeden heran und reicht jedem seine Gabe wieder dar, seine sechs oder zehn oder fünfzehn Mark, die er dem Kindchen eingebunden hatte. »Hier hast du e Geschenke«, spricht sie, »weil du das Kind gehoben hast.«

Unter den Gevattern war auch Lattermann. Er hatte seinen guten schwarzen Rock zur Taufe angezogen.

»Das Eingebinde geben wir zurück«, hatte ihm die Wirtsfrau zuvor gesagt.

»Jo?« war seine Frage gewesen.

»Jo.«

Da hatte er fünfzehn Mark eingebunden. Denn es kommt auch vor, daß das Geld nicht zurückgegeben wird, darum muß man immer unterrichtet sein.

Man merkte dem Mann den gewesenen Soldaten an: Er hatte doch ein Korn Elastisches und Straffes an sich – von keinem zuviel, aber dessen genug, um den Ursprung zu verraten. Und neben dem Elastischen eine Schmeidigkeit an Gebärden und Bewegungen, die beinahe an einen Komödianten erinnerte, an einen phantasievollen Lügner, an einen Dichter, an einen Mann im ersten liebenswürdigen, schwungvollen Rausch. Er war sechsundsechzig Jahre alt. – Sie saßen alle am Tisch, die Gevattern, die Gäste, der Taufvater und die Kindfrau. Die alte Hausfrau und die junge Hausfrau sowie die kleine Magd Matrone nahmen sich der Bedienung an. Die Frauen nötigten zum Zulangen, und Matronchen schleppte herbei und trug hinweg.

Neben Philipp Lattermann saß Düppe, Schultheiß aus einer der Nachbargemeinden, ein kleiner Mann mit grau verbrannter, fahler Gesichtsfarbe, platter Nase und schlichtem, rund geschnittenem, schwarzem Haar. Sein Kopf war groß, sein Hals nicht lang. Seine Gestalt sah aus, als ob er einen breiten Schlag auf den Kopf bekommen hätte, von dem er zusammengesackt wäre. Aber er war ein gescheiter Mann, dem die dicht herangerückten Berge den Horizont nicht abgedämmt hatten.

Auf Düppes anderer Seite saß der Lehrer, ein dickschnauzbärtiger verständiger Herr, der erst seit einem Vierteljahr im Orte war.

Er hielt eine schöne Rede auf die drei Generationen, die Großmutter, das Elternpaar und das Kind, und flocht allerlei Wendungen hinein. Nach ihm hub Philipp Lattermann zu sprechen an.

Er hatte rasch gegessen und häufig sein Glas ausgetrunken. Seine Augen, ein wenig verschwommen, waren im Blick fern und erhaben, als ob ihn die Menschen alle nichts angingen. Herausfordernd stand er da, zehn Ellen hoch über ihnen.

Er schlug mit der Gabel an sein Glas und begann also: »Meine verehrten Freunde und Gevattern! Wir haben unseren Täufling in der Kirche drinnen gehabt und haben unser Glaubensbekenntnis für ihn abgelegt. Da mag es an der Zeit sein, daß wir auch einmal über das Leben selbst wegsehen, wie sein Lauf ist. Ich bin 1870/71 mit in Frankreich gewesen.« …

Einer sagte unten am Tisch: »Er macht nichts als Lügen.« Und ein anderer sagte: »Nu bringt nur balde e Taschentuch her, das Heule wird gleich losgehen.« Und sie sprachen laut genug, daß Lattermann sie verstehen konnte.

Die meisten der Gäste aßen noch, sie waren bei den kalten Gerichten angelangt, beim Schweinebraten und Hackebraten, den Würsten und dem Schinken. Dazwischen streckten sie ihre Gabeln über den Tisch nach den Kompottnäpfen aus, um einen Bissen heranzuholen, oder sie langten nach ihren Gläsern mit dem Weißwein und tranken.

Sahen zugleich zu Lattermann hin, stießen sich an und tauschten halblaute Bemerkungen aus.

Die Wirtsfrau hatte sich jetzt auch an den Tisch gesetzt. Sie nahm einen breiten Platz ein. Ihr Blick, den sie auf Latterman heftete, hatte etwas Sinnierliches, als suche sie das andere in ihm.

Sie hatte ihn in jungen Jahren geliebt, ehe er in den Krieg gegangen war. Als er dann heimgekommen war, hatte er seine Liebe zu ihr vergessen. Oder er hatte sich selbst vergessen in Frankreich auf den vielen Schlachtfeldern und hatte einen anderen mit heimgebracht, als der da ausgezogen war –.

Als es zu Lattermann hinschallte: »Nu bringt nur balde e Taschentuch her, das Heule wird gleich losgehen …«, und zuvor: »Er macht nichts als Lügen …«, da veränderte sich Lattermanns Gesicht: Es sah aus, als ob es ein wenig grauer werde.

Gewiß war, daß seine Züge abschlafften. Ein bißchen verdutzt und ungewiß sah er umher. Dann aber wurde sein Gesicht allmählich pfiffig, als sei alles ja doch wahr, und er erzählte nur aus weitem Umkreise.

Er trank sein Glas aus, legte wieder den Kopf zurück, und in seine Augen trat wieder das unruhige Feuer.

So begann er aufs neue: »Lieben Freunde und Gevattern – ich bin bei Sedan verwundet worden, ich hatte einen Schuß im linken Schenkel. Es schmerzte da was – hinterher fühlte ich auch das Blut. Mein Nebenmann hatte was zwischen die Zähne genommen, wodran er kaute. Darum konnte er nicht Hurra! schreie; aber er schoß unverdrossen. Nun nahm ich auch was dazwischen, e Stückechen Holz. Es schmeckte aber nach Blut. –

Die Spuren waren kraß, die wir hinter uns zurückließen. Wo wir über e Feld wegmarschiert waren, da lag es überall dicke voll gesät von Verwundete und Tote. Sie fielen rechts und links, vor uns und hinter uns. – Hier fiel einer um – da fiel einer um. – Das ist kein Geschicke, meine Freunde, das ist Glücke, wenn man heile davon wegkommt.

Wir haben das in der Instruktionsstunde gehabt« –, seine Stimme zitterte, aber er hob dennoch wieder die rundgeschlossene Hand an die Lippen, als ob er das Signalhorn führe –, »daß wir uns decken sollen – aber drücken sollen wir uns nicht. – Nun mußte ich zum Sammeln blasen. – Da hatten sich welche in einen Steinbruch gelagert. Die traten wieder an. – Sie machten ihre Rücken krumm – schrien Hurra und gingen los.« Er reckte seine schmeidigen Glieder, dann drückte er seine Hand vor die Augen, und seine Schultern ruckten im Schluchzen. »Von den Krieg kann ich nicht hören rede, da kann ich nicht dran zurückdenke«, sagte er mit gänzlich zerbrochener Stimme, »ohne daß ich heule.« Sein Gesicht war vom Kampf gegen das Weinen zusammengedrückt. Die vereinzelten, langen Unterzähne griffen über die Oberlippe, und der einzige lange Oberzahn griff nach unten über. Dick flossen die Tränen.

Die Lacher waren nun doch still; aber sie stießen sich an und beobachteten, die Leiber vorgerückt, die Blicke fest an den unseligen Lattermann geklebt.

Und ihre Lippen kräuselten sich.

Und einer sagte: »Gebt ihm nur e frisches Taschentuch, seins das reicht nicht mehr hin.«

Und der Bursch, der schon bei den Soldaten seine Zeit abgedient hatte, erhob seine Stimme lauter und warf abschätzig zu dem weinenden Lattermann hinüber: »Westerwegen macht denn ihr euch krumm, wenn's ans Schießen geht? Das ist wunderbar.«

Da trocknete Lattermann seine Tränen ab, ein Ausdruck von scharfem Zorn trat in sein Gesicht und er schrie: »Das ist noch besser, als wenn ma hoch danach guckt. Manch einer hat seinen Kopfschuß daher weggekriegt. Was weeßt denn du, wie es auf enen Schlachtfelde hergeht. Die Kugeln, die haben kene Furcht nicht, die dringen überall ein. Und wo ene Granate zerplatzt, da gibt es abgerissene Glieder. Und zuletzt der Kampf mit dem Bajonett.«

Er schüttelte sich. Endlich raffte er sich wieder zusammen. »Meine lieben Gevattern«, hub er von neuem an, »ich habe von meiner Verwundung geredet. Ich kriegte auch noch den Typhus dazu. Da schafften sie uns nach Bremen hin, sie sollten uns auskoriere.

Ich wurde im Verlaufe denn auch gesund und mußte mich in Gotha wieder stelle. Da kam ich um Urlaub ein. Ich wollte auf drei Tage heim und wollte Abschied nehmen. Man wußte doch nicht, wie das ablaufen würde. – Man mußte – man mußte – zu seiner Mutter – doch nochmal – Lebewohl sage.« Die Schrammen, die sein Unfall mit dem Eichenreisig auf seinem Gesicht zurückgelassen hatte, machten es kriegerisch. Aber wie jetzt die Unterzähne wieder über die Oberlippe hinweggriffen, kam doch das andere Gesicht wieder zum Vorschein, das ängstliche, lächerliche mit ganz verstörtem, jämmerlichem Ausdruck.

Die Männer und Burschen saßen am Tisch im weißen Schlips und dunkeln Anzug, die Frauen und Mädchen hatten ihr bestes Gewand abgelegt und ein minder gutes dafür angezogen. Neben den Tellern der Gevattern lag das Rosmarinstenglein, die steifen Handbuketts der beiden Taufjungfern aber waren in Bierflaschen gesteckt und standen mit ihren weißen Seidenbandschleifen mitten auf dem Tisch zur Zier und Putz.

Die Gäste aßen noch immer. Sie holten sich mit langer Gabel irgend etwas heran, das sie zwischen die Zähne führten. Und sie wechselten ungenierte Rede. –

Die Wirtsfrau zog ihre Lippen in den Mund und sinnierte zurück.

Als Lattermann damals heimgekehrt war, hatte er die ganze Zeit bei seiner Mutter gesessen. Nach ihr, seinem Mädchen, das im anderen Dorfe gedient, hatte er sich nicht umgesehen. Erst als er schon zu seinem Truppenteil zurückgekehrt war, hatte sie erfahren, daß er dagewesen war. Und er hatte auch seiner Mutter damals schon vom Umfallen erzählt, von dem tückischen unvermuteten Zusammenbrechen. Er hatte es ihr beschrieben, wie es vor sich gehe: da seien welche, die, wenn sie getroffen würden, ihre Arme hoch würfen, niederstürzten und gleich stille liegen blieben. Andere wieder, hatte er gesagt, taumelten erst. Sie stürzten vornüber, hintenüber. Es fahre ihnen in den Kopf, in die Brust, in den Leib. In Arm und Bein. Sie lägen dann und schrien und wimmerten oder bissen ihre Zähne aufeinander.

Lattermann sah, wie es unruhig am Tische wurde, er hörte auf zu weinen und wurde gelenkig, ein Gliederverrenker. Er erzählte vom Feinde. Die Franzosen seien schmeidiger als die Deutschen. Verbindlich ahmte er so Sprache wie Bewegungen nach – »bon jour, monsieur – tout de suite, monsieur.« Mit einer großartigen Gebärde der Pfiffigkeit stand er da. »Zu den Fräuleins sagt man madame, sind sie aber noch jung, so sagt man Fräulein. Wollen Sie gefälligst eintreten, madame … dans la chambre …« Er wurde frech mit Stimme und Augen. »Ich komme tout de suite, madame …« Er log unverschämt darauf los. Sein Gesicht, nun gerötet, sah zärtlich aus. Und nun sackte es doch wieder zusammen, und die Unterzähne griffen nach oben über. »Ich kann nicht von dem Krieg reden, ohne daß ich weine«, sagte er mit verzweifelter Stimme. »Ich muß immer an das viele Umfallen denken.« Und er wandte sich, schob seinen Stuhl zurück und wankte aus der Stube.

 

Unten am Tische saß Philipp Lattermanns Frau, die er bald nach seiner Heimkehr aus dem Kriege geheiratet hatte. Sie war lang und sehr mager. Ihre Haut war gelb vom vielen Sonnenbrand und war in tausende allerfeinster Brüche zerknittert. Ihr Hals war dick.

Sie war nicht etwa häßlich, nein! Aber sie hatte nichts von Weichem an sich – keine weiche Brust und Schulter, um ein heißes Haupt daran zur Ruhe zu betten, keine volle Hand, um eine müde Stirn damit zu streichen, hinter der die erschreckten Gedanken hasteten, oder um eine andere Hand damit zu erfassen und den Menschen fest und sachte weiter zu führen, und keinen frauenklugen, spaßhaften Mund, der mit geschickter und herzlicher Rede aufmunterte, der begütlich tat oder ein wenig schäkerte. Auch nichts von einem mütterlichen Gemüt hatte sie mit Verständnis und Entschuldigungen und Nachsichten und hunderttausend feinen Güten, und keine, keine, keine Augen mit abgrundtiefer Gnade und Geduldigkeit.

Philipp Lattermanns Frau arbeitete. Sie keifte nicht. Aber sie war von allzu vielen Sorgen ein wenig mundfaul geworden.

Und sie hatte keine Spur von Sinn dafür, sich einen Blumenstrauß in die Kammer zu stellen – wie es die dicke Wirtsfrau tat, die auch alle Abende, damit das Kinderherz des Dirnleins unschuldsvolle Träume habe, den Segen über das Matrönchen sprach.

Ach, was waren ihre Brust und Schulter weich! Ach, was konnte ihr Mund für herzhafte Worte sprechen! Ach, was konnten sich im schalkhaften Lächeln ihre Lippen einziehen! Sie verschwanden im Munde, denn die Frau war alt. Aber die Wangen hoben sich davon, und die Augen glänzten.

 

Ungeachtet dessen, daß Philipp Lattermanns Frau unter ihnen saß, ging das Lachen und Spottreden ungezügelt los, als Lattermann die Stube verlassen hatte. Sein Vortrag war ein Theater gewesen. Sie ahmten ihm nach und schalten auf ihn. Ach, er saufe und lüge.

Ja, ja, sagte seine Frau, bei der Wahrheit bleibe er nicht, und daß er nicht Maß im Trinken halte, sei ein Unglück.

Die Wirtsfrau und Matrönchen nahmen die Speisen vom Tisch und trugen sie hinaus. Die Tischrunde löste sich auf. Aber sie rückten doch bald wieder zusammen, so ältere wie junge, und fingen an, Schwarzen Peter zu spielen. Als Instrument zur Hervorbringung der schwarzen Strafflecke war eine Herdkohle aus der Küche geholt worden. Die Männer kollerten mit Lachen, die Weiber kreischten, die Mädchen jauchzten.

Die Kindfrau sah nach dem Täufling, die Wirtsfrau und die kleine Magd Matrone bedienten im Schenkzimmer und wirtschafteten in der Küche, wo die Tagelöhnerin aufwusch.

Der Schultheiß Düppe und der Lehrer gingen vor die Tür. Da sahen sie in der Laube, die seitlich angebaut war, den Philipp Lattermann sitzen. Seine Arme lagen breit auf dem Tisch, die Stirn lag darauf.

Er stand gleich auf, als er die Stimme der Männer hörte, und kam herzu. Er knickte in den Knien beim Gehen, seine Augen sahen fremd und blöde aus. Dann wischte er über das Gesicht und straffte sich.

»Betrunken«, sagte der Lehrer zum Schultheißen.

»Ja.«

Lattermann fragte: »Was? Was?« wartete keine Antwort ab, sondern fing gleich wieder vom Krieg zu reden an, von Sedan, wo sie gedacht hatten, der Krieg habe nun sein Ende erreicht, worauf er aber erst recht begonnen habe, vom Preußenkönig und dem Franzosenkaiser, von sich selbst, der er das Signalhorn geblasen habe.

»Lügen«, sagte der Lehrer leise zum Schultheißen.

»Ja.«

»Was? Was?« fragte Philipp Lattermann.

Aber gleich sprach er weiter. Von zertretenen Weinbergen und zerstampften Feldern lautete seine Rede, von brennenden Dörfern, von flüchtenden und gefangenen Truppenmassen.

Und er sagte mit taumelnder Stimme: »Das ist aber alles nicht der K-Krieg, wo ich von erzählt habe –! Das – das Brennen nicht und das Schießen nicht – und das – das Röcheln und das Schreien nicht –.« Seine qualmige Stimme wurde fest und laut: – »Der Krieg – ist das Umfallen!! Daß man immer – weiter – vorwärts tappt! – Und daß – immerweg einer – einer umfällt! –«

Er strich über seine Stirn. »Das Umfallen …«, sagte er geheimnisvoll und schaute rund umher mit gläsernen Blicken, als sehe er die Fallenden alle, die die Kugel hinstreckte. Darauf wiederholte er seinen Spruch, daß rechts einer sinke – links – da – dort – daneben – vorne – hinten. Vielleicht falle man selber – und verfaule – drüben – in der fremden Erde. Sein Gesicht schob sich zusammen, er schluchzte. »Daran kann ich nicht zurücke denken«, sagte er, »ohne – ohne daß ich weine.«

Er ging weg. Neben dem Wirtshaus war ein schmaler Durchlaß, der ins Feld mündete. In dem engen Gang verschwand er.

Nachher nahm ihn die breite Dämmerung auf.

»Hier fällt einer –«, sagte er vor sich hin, »da – dort –.« Und er sah auch hier in der Runde nach denen, die umfielen.

Sein Körper schwankte. Er kniete nieder. Legte sich nieder. Und er lag da mit dem Gesicht im Erdreich und weinte.

 

Düppe und der Lehrer hatten den Durchlaß auch durchschritten. Sie schauten vor sich die Feldbreiten, hinter denen die Berge aufwuchsen und zwischen denen allerlei Busch und Baum sich abhob. Philipp Lattermanns Gestalt mit dem eigentümlichen Einknicken der Knie hatten sie vor sich verdämmern sehen.

Sie sprachen von ihm.

»Schade«, sagte der Schullehrer, »daß er alles durch seine Übertreibungen verdirbt.«

»Übertreibt er denn?«

»Ja – die Sache mit Sedan doch zum Beispiel.«

»Gewiß«, sagte Düppe.

»Dadurch verliert so ziemlich alles an Wert, was er ausspricht.«

»For den Uneingeweihten mog das sei –«.

»Man paßt zuerst auf; aber hinterher zieht man sein Wohlwollen wieder ein.«

Düppe lächelte. Er sah im Dämmern noch schwarzgrauer aus als im Tageslicht. »Er ist blessiert – –«, sagte er gelassen. »Da meine ich nicht bloß seinen Schenkelschuß mit. Er hat es tiefer abgekriegt, inwendig. For den Schenkelschuß zahlen sie ihm ene kleine Rente monatlich. Aber für die große Blessur, da kriegt er nichts. Er ist aus seiner Balance 'rausgeschmissen worden, verstehen Sie wohl – –«

»Aber der Trunk –«, warf der Lehrer mit tadelnder Stimme ein.

»Das eben ist seine Blessur – –.«

 

Als die Männer schon heimgekehrt waren, tauchte ein anderes Paar in das enge Gäßchen neben dem Wirtshaus ein – die dicke Wirtsfrau und die kleine Magd Matrone. Sie gingen durch die Feldbreiten nebeneinander dahin. Es war dunkle Nacht geworden, und die Kälte kam hervorgekrochen.

»Mer werren ihn doch auch finde?« sagte das Mädchen voll Bangen.

»Ja, ja, mer finden ihn schon.«

»Wenn er nun aber häm ist, Frau Pate?«

»Der geht nicht häm.«

»Frau Pate«, sagte Matrönchen, »ich hätte auch gleich mocht heule, wie er hingetreten ist (seinen Vortrag gehalten hat).«

»Ja, er machts bildlich«, antwortete die Wirtsfrau. »Freilich möchte man über den heule – was er alles hat durchmachen müssen. Das viele Umfallen im Kriege, das ist ihm 'neingefahren. Da hat sich was erbrochen in ihm. Und den Zustand ist er nachen (nachher) nicht wieder los geworden.«

»Wieviel Kinder hat er denn?« fragte Matrönchen.

»Der hat keine.«

»Ach, den mag ich leide, Frau Pate.«

»Sie haben e Kind gehabt«, gab die Wirtsfrau zurück. –

»Wie die Frau im Bette lag, daß das Kind zur Welt gekommen war, da wurde ihm schlecht, und er legte sich auch nieder. Nun hätte die Frau mußt aufstehe. Aber sie begriff das nicht. Nachen starb das Kind. Weiter haben sie keins gehabt. Ene Frau muß fliegen können wie ein Vogel. – Gucke emal, da ist was schwarz, spring mal nüber.«

Das Matrönchen mußte noch oft vergeblich vom Wege abzweigen nach irgendeinem Schatten auf dem Felde. Und jedesmal tat die Wirtsfrau einen Atemzug, der ein halber Seufzer war. –

Es gibt Frauen, die ihre erste Liebe nicht vergessen. Auch der Wirtsfrau erging es so. Ihr Mann war tot, und Philipp Lattermann lebte. Und er war nicht gut versorgt.

Das frauliche Mitgefühl bildete einen Steg zu ihm hinüber. Nur so viel, daß sie in die Spottreden nicht einstimmte. Und daß sie jetzt daran dachte, sie wolle ihn suchen gehen. Es war zu kalt, um draußen nächtigen zu dürfen. Und er schlief gewiß ein, betrunken wie er war.

So pilgerten sie weiter, die beiden viereckigen weiblichen Gestalten, das Matrönchen mit dem ungleichen, willigen, jugendlichen Schritt und die Wirtsfrau mit dem gelassenen Gang und den Augen, die spähend suchten.


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