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Die Frau von Marree

Florentinchen war mit ihrer Toilette fertig, stieg auf den Stuhl und nahm sich im Spiegel in Augenschein.

Das Glas hing an der Wand und war nur klein. Da sie aber den Stuhl in gebührende Entfernung gerückt hatte, konnte sie sogar ihre Füßchen sehen mit den Kreuzbandschuhen und weißen Strümpfen und darüber den unruhigen Rocksaum ihres neuen, schönen, rotkarierten Hongkongkleides. Nachher stellte sie sich gegenüber an die Wand und kam langsam auf ihr Spiegelbild zu, wobei sie sich in aufsteigender Linie erschaute. Zuerst das Faltengekrause um die Hüften und die entzückende Gürtelenge, danach die weiße Taille mit den rotkarierten Achselbändern, den kurzen Puffärmeln, dem nackten Hals und den nackten Armen.

Zuletzt sah sie auch ihr Gesicht, ein weiches, rundes Achtzehnjahrgesicht mit blondem Haar, das zu niedlichen kleinen Scheuklappen geflochten war, die sich über die Ohren legten. Dazu ein Näschen, naiv und verständig zu gleicher Zeit, und brave, artige, graue Augen.

Der Mund war ein Rebell. Wenngleich er auch den Zug des Gehorsams trug, so war doch in der Schwingung der Lippen ein Sehnsuchtston, eine kleine keusche Zärtlichkeit zu spüren. Aber im gehörigen Maße natürlich.

Aus ihrem Schmuckschächtelchen nahm Florentine eine goldene Kette, fädelte sie durch ihren Gürtel, schloß sie und verschlang sie. Und dann setzte sie den Hut auf, eine große Schippe von weißem gekrausten Mull, die unter dem Kinn gebunden wurde.

Nun war ihr der Blick zur Seite durch die Hutwände abgeschlossen, und es blieb nur der Blick nach vorn. Aber es ist etwas Hübsches und Feines um solch einen eingehegten Frauenblick, der nicht nach rechts und links abweicht, sondern immer nur geradeaus sieht seiner Straße nach. Kann ja darum doch etwas Liebes in seinen Gesichtskreis kommen, auf das er sein ehrliches Feuer fließen läßt.

Bei all der Sorgfalt, die sie ihrer kleinen Person zugewandt hatte, war ein Männerbildnis vor Florentinchens Herzen gestanden. Es war erlaubt, an Paul Hellmich zu denken, denn er war nicht gebunden. Darum blühte sie für ihn und wartete auf ihn. Er aber umwarb sie in ritterlicher, schalkhafter Weise.

Eine kleine graue Wolke stand an Florentinens Sommerhimmel: Ihr Vater begünstigte die Bewerbung nicht, wenn schon er ihr auch keinen Widerstand entgegensetzte.

Dagegen gab es Umstände, die gewaltig zu des jungen Herrn Gunsten sprachen: Paul Hellmich war Gutsnachbar, außerdem der Bruder von Florentinens bester Freundin. Der achtzehnjährige Kopf gab diesen Zufälligkeiten hohe Bedeutung und wertete sie beinahe für Vorzüge ein.

Das Mädchen wurde von der Mutter gerufen. »Tine, bist du fertig?«

»Ja, Mama.«

»Du mußt dich doch bei Papa präsentieren.«

»Ich komme schon.«

Die Mutter rief vom Treppenfuß aus, und das Mädchen griff eilends nach den langen dänischen Handschuhen und lief die Stufen hinab.

Der Papa betrachtete sie dann und war einverstanden. Und bald kam der Wagen, und Kuntzendorffs stiegen ein.

Die Fahrt galt einem Picknick im Walde. Teilnehmer waren die Besitzer der umliegenden Rittergüter.

Florentine, die rückwärts saß, hatte durch die Mißgunst ihres schutigen Hutes nur den Blick auf die Eltern im Fond. Sie sah die blonde Mama in Haube und Hut mit bläulichem Überrock und den Papa im blauen Frack mit blanken Knöpfen. Beide stattliche, zuverlässige Gestalten mit wegesicheren Mienen.

Die Mama hingegen, auch die Folge der Gehässigkeit eines Hutungetüms, das den Blick durch einen engen Gang ins Freie zwängte, sah vor sich nur ihr Töchterchen mit dem süßen Apfelblütengesicht. Oder vielmehr, sie sah statt des ganzen Mägdeleins nur dies liebe, kleine Gesicht, darin ihr der Wunschmund zu schaffen machte. Während der Papa, dessen Gesichtsfeld durch die blaue Mütze, die er trug, nicht eingeengt war, sogar noch weniger als die Mutter von seiner Ältesten erschaute; denn er nahm nur ihre braven, artigen, grauen Augen wahr.

 

Was war das für ein Sommertag! Wieviel Schmetterlinge tummelten sich am Waldrand auf der Wiese! Wenn sie ruhten, konnte man sie für Blumen halten, für weiße, blaue, gelbe, kupferfarbene. Aber im nächsten Augenblick hoben sie sich und gaukelten in der Sonne. Und wie viel Vögel jubilierten im Walde, sprangen von Zweig zu Zweig und flogen von Baum zu Baum. Und wie viel junges Volk erfüllte Wald und Wiese mit Jauchzen!

Als es nach dem Kaffeetrinken ans Spazierengehen kam, hielt sich der junge Hellmich zu Florentine. Sie hatte ihr Hutungetümchen, das sie zuvor abgelegt hatte, wieder aufgesetzt, und der junge Herr konnte nur ihr Hälschen erschauen, unter dem Hut hinten hervor noch ein paar luftige blonde Löckchen und an der weißen Hutwand ihm zur Seite einen rosaroten Rosenstrauß. Im Gürtel baumelte lustig ihr goldenes Kettchen mit einem kleinen Medaillon aus zwei Glasteilen, die in Gold gefaßt waren.

So reizend der Anblick, der sich ihm darbot, auch war, so verriet er doch sehr wenig von dem Liebreiz des Mädchens. Aber Florentine war barmherzig und drehte fleißig den Kopf, so daß ihm ihr Apfelblütengesicht zugekehrt war.

Mit der Zeit entfernten sie sich ein wenig von den anderen Parteien, kamen tiefer in den Wald und sahen hier eine ganz dicke Eiche stehen. Sie stritten über die Stammweite und versuchten, mit gebreiteten Armen den Umfang zu messen. Der Stamm war so stark, daß sich ihre Hände nicht trafen. Sie selbst verschwanden vielmehr jeder auf seiner Seite hinter dem Baumriesen. Florentinchen sah von ihrem Freunde keine Spur. Er jedoch betrog ein wenig, schob den Kopf herum und erschaute die bauschenden Falten ihres roten Hongkongkleides.

Nachher schwankte ein Schmetterling vor ihnen über Kraut und Blumen, ein Trauermantel im schwarzvioletten Prachtgewande. Hellmich haschte ihn seiner Dame zuliebe.

»Soll er sterben, mein Fräulein?« fragte er. »Wollen wir ihn als Trophäe auf Ihrem Hut befestigen?«

Sie bat um sein Leben.

»Bitte, nein, wir wollen ihn fliegen lassen!«

Nun setzte ihn Hellmich säuberlich auf ihren Finger, sie streckte die kleine, derbe Hand weit ab, und sie warteten beide voll eifriger Spannung, daß der lose Sommervogel seine Flügel entfalten solle. Über das Tierchen hinweg, das schwankend an ihrem Finger hing, trafen sich im behutsamen, forschenden Blick ihre Augen.

Wieder ein wenig später zog er ein Stimmchen aus seiner Tasche, nahm es zwischen die Lippen und begann zu flöten. Er ahmte den Schlag der Nachtigall nach, ihr Jubeln und Klagen, ihr seufzendes Schmachten, ihre sehnsuchtsschweren, schmelzenden Lock- und Werbelaute.

Florentinchen stand vor ihm mit gesenkten Blicken. Es war ihr, als säße sie in einer Rosenlaube an seiner Seite, und über ihnen in den Zweigen sänge Frau Philomele (die Nachtigall).

Er war auch ein sehr geschickter Tierausstopfer. Wollte jetzt seine Kunst an Florentinens Kanarienvogel erweisen, der gestorben war. Von dem Hänschen sprachen sie. Es sollte auf einem einfachen, mit Moos beklebtem Brettchen sitzen, den Kopf ein wenig gedreht, als luge es nach der Herrin aus.

Marree kam daher, der kleine, fixe, gelbe Kerl, schwadronierte gleich darauf los und spielte sich an Florentines Seite. Nun war alle Schönheit des Waldganges dahin.

Zuvor hatten sie in einem märchenhaften Zwischenlande gelebt, jetzt waren sie gänzlich auf der Erde. Und machten doch kurze Ausflüge mit ihren Gedanken zurück und brachten immer einen weichen verträumten Schein mit heim, der ihr ganzes Gesicht verklärte.

Als Kuntzendorffs abfuhren, sagte Paul Hellmich zu Florentinchen – es war hinter dem Kutschwagen der Eltern, der hochgeschlagen war: »Ich habe Ihnen heute etwas sagen wollen, mein Fräulein, aber der Hanswurst kam dazwischen.« Er meinte Marree. »Nun will ich es Ihnen schreiben, und Hannchen soll es Ihnen bringen.« Er drückte ihre Hand, seine Stimme hatte halblaut und eilig geklungen.

Der Vater rief: »Tine, wo bist du?« Und sie stieg ein und saß sittig den Eltern gegenüber.

Sie kamen daheim an und gingen zu Bett.

Während sie ihre Kleider ablegte, stiegen aus Florentinens Herzen die Bilder des Tages auf, die sonnige Wiese am Waldrande mit den gaukelnden und ruhenden Schmetterlingen, der gewaltige Stamm der Eiche, der sie, die ihn umfingen, voneinander trennte, so daß ihre suchenden Hände sich nicht erfassen konnten, und der matt daherschwankende Trauermantel, den Paul Hellmich mit seiner Mütze bedeckte und ihn vorsichtig bei den zuckenden Flügeln einfing zu Ehren seiner Dame.

Als ihre Gedanken beim Schlage der Nachtigall angelangt waren, ließ Frau Philomele aufs neue ihr Lied ertönen, schmachtender als es am Nachmittag geklungen hatte, schmelzender, sehnsüchtigrufender. Es klang vom Garten aus den Jasminbüschen herauf.

Florentinchen lauschte den Tönen voll süßer Unruhe. Ihre Wangen erglühten, ihr Herzchen hämmerte. Ach, sie glaubte, diese Läufe und Schleifer, diese Ruf- und Werbelaute, diese Sehnsuchts- und Jubelklänge wiederzuerkennen.

Aber ob sie gleich dessen sicher war, daß es Paul Hellmich war, der in den Jasminbüschen flötete, so näherte sie sich doch dem Fenster nicht, sondern saß still lauschend auf ihrer Stuhlecke. Jedoch ihr Wunschmund begann zu brennen, und in ihren Augen ging die Ahnung eines berauschenden Glückes auf.

Als Florentine am andern Morgen in der Milchkammer fleißig mit Sahneabschöpfen beschäftigt war, kam das Stubenmädchen und sagte: »Mamsellchen soll beim Herrn Vater kommen.« Und als Florentinchen in das Wohnzimmer trat, war der Frühstückstisch der Eltern schon abgedeckt; aber die Mama saß noch im Sofa, und der Papa ging erwägend auf und ab in der Zimmerlänge.

Er blieb dann stehen und sagte zu ihr: »Marree wird im Laufe des Vormittags kommen und um dich anhalten. Er hat schon gestern mit mir gesprochen, und ich habe durchblicken lassen, daß ich seine Bewerbung nicht für aussichtslos halte.« Er sprach in einem energischen Tone, zögerte einen Augenblick und fuhr dann fort: »Wenngleich ich ihm nicht verhehlt habe, daß ich keinen Zwang zu seinen Gunsten ausüben werde.«

Florentinens Gesicht war ängstlich geworden, ihre Augen hatten sich mit Tränen gefüllt.

Der Vater sagte streng: »Du weinst doch nicht, Tine?« Und ohne ihre Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Ich habe beobachtet, daß Hellmich dir den Hof macht. Ich will nicht sagen, daß man ihn nicht ernst nehmen kann, denn er ist ein rechtschaffener Mensch. Aber er macht Gedichte. Er stopft Tiere aus. Er deklamiert. Er schalmiert (auf der Schalmei, der Hirtenflöte, blasen). Um ein ganz tüchtiger Mann zu sein, dazu sind seiner Interessen zu viele. Außerdem sind die Vermögensverhältnisse des alten Hellmich keine guten.« Er schwieg und suchte nach weiteren Worten für das, was er sagen mußte.

Nach einer kleinen Pause hub er wieder zu sprechen an: »Daß meine Gesundheit nicht die beste ist, weißt du ja. Mir wäre darum, auf Grund der Befürchtung, daß ich zeitig sterben könnte, eine große Last vom Herzen genommen, wenn ich dich gut versorgt wüßte. Marree hat freilich seine Eigenheiten, in die sich seine Frau wird fügen müssen; aber ich habe das Vertrauen zu ihm, daß er sie immer anständig behandeln wird. Du würdest dann auch eventuell, wenn du ihn zu heiraten einwilligst, einmal deinen Geschwistern eine Stütze sein können.«

Er hatte vor dem Mädchen gestanden, drehte sich jetzt um und ging mit gesenktem Kopfe wieder auf und ab. Das tat er häufig, und es war immer der Ausdruck irgendwelcher Sorgen bei ihm.

Die Mutter, die ängstlich das Gesicht ihres Kindes im Auge behalten hatte, schattete diese jetzt mit der Hand und seufzte ein wenig. Florentine sah, daß sie schon im Tagkleide war, mit der Tüllhaube, deren blaue Seidenbänder nicht gebunden wurden, sondern frei über die Schultern herabhingen zu beiden Seiten.

Den Vater mochte der Seufzer seiner Frau beunruhigen, denn er blieb plötzlich stehen, sah seine Tochter scharf an und sagte: »Du weinst doch nicht etwa?«, und wie sie schnell ihre Schürze hob und die Tränen aus ihren Augen wischte, trat er wieder vor sie hin, jetzt nun die Hände auf dem Rücken und das Gesicht bekümmert.

»Tine«, sagte er, »wenn du den Hellmich nimmst – da kommst du in ein Sorgenleben. – Das wird der Nagel zu meinem Sarge – wenn ich die Heirat zugeben muß. – Der Nagel zu meinem Sarge …«, wiederholte er ausdrucksvoll. »Geh jetzt und zieh dich an auf alle Fälle …« Er faßte sie um das Kinn und sagte mit schwerer Stimme: »Du bist meine gute Tochter, die mir immer Freude gemacht hat …«, nahm seine Promenade wieder auf und blieb wieder stehen. Dabei sah er, wie sein Kind auf dem Wege zur Tür die Hand zu den Augen führte mit einer qualvollen Tränengebärde.

Er rief ihren Namen.

Sie kam gehorsam daher.

Und sie standen einander gegenüber …

Eine kleine Weile später war Florentine in ihrem Stübchen und legte das Morgenkleid ab. Den Trieb zum Ungehorsam hatte sie nie gekannt. Sie hatte vielmehr immer das Bestreben gehabt, den Ihren Freude zu machen. Darum konnte sie auch jetzt nicht der Nagel zu ihres Vaters Sarge sein. Es kam gar nicht in Frage, daß sie sich widersetzen, daß sie seine Erwartungen zuschanden machen könne.

Aber ihr Herz tat ihr weh, und sie biß ihre Zähnchen hart aufeinander, um tapfer zu bleiben.

Und dann sagte sie vor sich hin: »Du weinst doch nicht etwa?« und ein zweites Mal, aber energischer: »Tine, du weinst doch nicht?« Und schlug einen strengen Ton an, der im Einklange mit dem Tonfall des Vaters stand.

Endlich war sie fertig angezogen mit hellem Kattunkleidchen, bloßarmig und bloßhalsig. Und nun kam der Drang zum Laufen in ihre Füße, und sie huschte in den Park und ging hier in den einsamen Wegen umher.

Aber sie war nicht müßig auf ihrem Gange. Sie verstaute all die feinen, süßen Wünsche ihres Herzens in eine abgrundtiefe Kammer ihrer Seele, darin sie langsam sterben sollten.

Gerade, als sie den schweren, eisernen Riegel vor die Kammertür schob, rief eins ihren Namen. Hannchen Hellmich huschte herbei, hochrot vom schnellen, langen Laufen.

»Hier Tine«, sagte sie.

Florentine, anstatt das dargebotene Briefchen entgegenzunehmen, schob die Hände auf den Rücken.

»Nimm doch!« sagte Hannchen dringlich. Und sie fügte mit schelmischem Nachdruck hinzu: »Von Paul …«

Florentinens Mund sah ein wenig verschwommen aus, und in ihren Augen lag eine eigene kleine Kühle, die abweisende Sprache führte.

Hannchen sagte befangen: »Wie du auch bist … Ihr habt euch doch nicht gezankt … Willst du nicht gefälligst den Mund auftun, Tine …«

Aber Florentine war nicht imstande, eine Silbe hervorzubringen.

Eine sonderbare Erlösung wurde ihr zuteil, das Stubenmädchen kam und rief sie zum Vater.

»Mamsellchen soll zum Herrn kommen. Der Herr von Marree ist da.«

Das Leben kam ganz anders, als Florentine es sich gedacht hatte. Die Entsagung, da sie die Frau des Herrn von Marree war, vollzog sich als eine Notwendigkeit, nüchtern und ohne Zwischenfälle.

Ihre Tagesarbeit bestand darin, einen Alltag um den anderen zu bezwingen. Ferner hatte sie sich in die Eigentümlichkeiten des Herrn von Marree einzugewöhnen. Und dann hatte sie es sich auch zur Pflicht gemacht, wo er durch Laune und Dünkel gekränkt hatte, doppelte Freundlichkeit walten zu lassen. Das trug ihr im Laufe der Zeit den Ruf großer Güte ein und einen netten, kleinen Heiligenschein.

Sie wurde eine stattliche Frau, auf deren Schönheit ihr Mann sehr stolz war; Kindersegen war ihr nicht beschieden. Dafür hatte sie das Glücksgefühl, ihren Geschwistern, wie ihr Vater vorhergesehen hatte, in schwierigen Lagen helfend beistehen zu können.

Im Laufe der Jahre starben ihre Eltern dahin, ein Teil ihrer Geschwister folgte nach, zuletzt auch der Herr von Marree nach längerem Kranksein.

Als Frau von Marree sechsundsechzig Jahre alt war, trug sie seit fünf Jahren das Witwenhäubchen und stand ziemlich allein auf der Welt. Sie lebte in einer schönen, kleinen Villa mitten in einem wundervollen Rosengarten. Die Familie Hellmich war allgemach, und ohne daß sie es zu verhindern gesucht hatte, ihren Augen entschwunden. –

Als sie ein paar Wochen verheiratet gewesen, war Hannchen Hellmich eines Tages mit dem ausgestopften kleinen Kanarienvogel in ihrem Hause erschienen. Beim Abschied hatte sie bitter gesagt: »Nun ist Pauls Brief doch an seine Adresse gelangt. Er liegt zwischen den Brettchen, unter dem Kanarienvogel.« Und die kleine Frau von Marree hatte mit Schrecken wahrgenommen, daß das Brettchen, auf dem ihr Hänschen stand, sich aus zwei dünnen Holzschalen zusammensetzte, die durch Schrauben miteinander verbunden waren.

Der höhnische Ton, in dem Hannchen zu ihr gesprochen, hatte die junge Frau gewarnt, und sie war drum und dran gewesen, das Hänschen dem Feuertode preiszugeben. Schließlich hatte sie es aber in eine Pappschachtel gelegt und auf den Boden einer großen Truhe gelagert, von welchem Gewahrsam aus es nicht mehr ans Tageslicht gekommen war.

Mit der Schönheit der Frau von Marree war das Leben nicht zärtlich umgegangen. Weil ihr Dasein sich immer auf ebener Straße abgespielt hatte, sie durch keine Gründe reißender Schmerzen und über keine Höhen jauchzender Seligkeiten gepilgert war, weil sie immer nur gegangen und nie geschritten war, immer nur sich dahinbewegt und nie zum Fluge sich erhoben hatte, so war die Schrift in ihren Zügen klein und eindruckslos geblieben. Nichts erinnerte mehr in dem Antlitz der Frau von Marree an das Apfelblütengesicht ihrer achtzehn Jahre – mit dem naiven Naschen, den braven, artigen Augen und dem Munde, der ein Rebell war, weil er den Sehnsuchtston und den Zärtlichkeitston auf den Lippen trug. Das Gesicht war steif geworden und dabei flach auseinandergelaufen, die Augen waren milchig und trübe geworden, der Mund breit, häßlich, ausdruckslos.

 

Frau von Marree ließ ihre große Truhe auspacken, die mit Leinwandvorräten angefüllt war. Sie saß auf einem Stuhl daneben, während das Hausmädchen Ballen um Ballen heraushob, der Herrin präsentierte und nach deren Geheiß auf den Fußboden niederlegte.

Zuletzt kam eine graue Pappschachtel zum Vorschein, die wohlverwahrt in einer Lücke gestanden hatte.

Frau von Marree wußte sich nicht gleich zu besinnen, was sie etwa in der Pappschachtel aufbewahrte, hob neugierig den Deckel, schob an den Hüllen von vermorschtem Seidenpapier und erblickte das Hänschen, den kleinen ausgestopften Kanarienvogel. Er sah wohl ein bißchen verdorrt aus, war aber im allgemeinen ziemlich gut erhalten.

Die Frau von Marree nahm die Schachtel mit in ihr Wohnzimmer, wo sie sie auf ihren Nähtisch niedersetzte.

Sie selbst nahm Platz im Sessel davor.

Und nun war sie töricht und wollte ihren Gedanken wehren, in die grüne, weitgerückte Vergangenheit ihrer Jungmädchenjahre zurückzustreifen. Sie zog sie vielmehr zu allerlei wirtschaftlichen Betrachtungen heran, dann auch zu gemeinnützigen, zu Erwägungen der Wohltätigkeit.

Sie half der Armut viel und gern. Sie wog die Menschen von der Seite moralischer Reinlichkeit und bürgerlicher Bravheit aus. Trunkenbolden und leichtfertigem Gesindel stillte sie nicht den Hunger.

Aber die Gleichgültigkeit gegen die graue Schachtel war nicht echt. Und weil die Frau von Marree sich zwang, nach anderer Seite ihr Interesse wachzurufen, so stellte sich bald ein zwiespältiger Gedankengang ein, dessen Unterton die graue Schachtel bildete.

Das ging so eine Weile hin, bis Frau von Marree müde wurde und der Vergangenheit ihr Recht gewährte.

Sie nahm die Schachtel in die Hand, drehte und betrachtete sie. Dachte, daß man heutigentages eine so häßliche Pappe, wie sie die Schachtel aufwies, nicht mehr anfertige, daß man die Schachteln auch besser klebe. Jeglich Ding, dachte sie, habe zurzeit weltmännischeren Anstrich erlangt … bis auf die Menschen, die weniger höflich seien als die Menschen ihrer Jugendjahre.

Und nun machte sie die Schachtel auf und nahm den Vogel heraus.

Sie betrachtete auch ihn auf seine Anfertigung hin, ehe sie ihn auf den Nähtisch stellte, ein hübsches, ovales Möbel mit Laubenanlage, um die sich Efeu rankte.

Ihre Gedanken hielt sie an Bändern fest, um ihren Flug zu kürzen. Und das war eine gefährliche Maßnahme, denn nun umkreisten sie Nahes und Altgewohntes.

Dabei stießen sie auf eine Gräberstraße, die in unermeßlich langem Zuge aufgebaut war, eine traurige Straße nackter, grauer, harter Alltage, denen jeder Adel fehlte – – ihrer Alltage.

Das Herz der Frau von Marree erschrak und begann unruhig zu schlagen, ihr häßlicher Mund zitterte, ihre stumpfen Augen füllten sich mit Tränen an. Und ihre Seele richtete sich auf, und sie hörte mit geschärften Sinnen müde, schlürfende Schritte, die ein sonderbares Klirren begleitete wie von nachschleifenden Ketten.

Da dachte die Frau von Marree: Vielleicht haben wir schon einmal gelebt auf einer anderen Welt und sind ob unserer Sünden von Gott zur Hölle verurteilt worden. Und das hier ist die Hölle … unser Leben auf der Erde.

 

Als das Hänschen drei Tage unter dem Efeudach auf dem Nähtisch der Frau von Marree gestanden hatte, war deren Widerstand gebrochen, und sie streckte ihre Hand aus, nahm das Vögelchen und untersuchte die Schrauben, die den Standplatz, das Doppelbrettchen, zusammenhielten. Erst bohrte sie mit einem Taschenmesserchen daran umher, dann mit der Schere. Ihr Gesicht sah grau und welk aus, ihre Hände bewegten sich unstet.

Ohne große Mühe bewerkstelligte sich die Teilung.

Ein gelbgewordenes Blatt Papier, in eine kleine Bucht gelagert, die in das Brettchen eingeschabt worden war, fiel der Frau von Marree in die Hände.

Ein Heer von begrabenen, unausgenutzten Empfindungen versuchte Auferstehung in ihr zu feiern und blasse Anrechte geltend zu machen.

Sie sah die Schriftzüge des Briefes an, daß sie sprechen sollten. Sie las den Brief.

 

»Höchst verehrtes Fräulein!

Ich hoffe, daß Sie mich meine Kühnheit nicht bereuen lassen werden, daß ich es wage, mich brieflich an Sie zu wenden. Meine Höchstachtung und Verehrung für Sie sind beide so groß, daß sie meine Lippen versiegeln, so sehr diese auch danach streben, sich zu öffnen und ihre Gefühle auszusprechen. In Ihrer Gegenwart, mein Fräulein, ist das Leben immer vollkommen schön und erregt in Ihrem ergebenen Diener nicht den Wunsch einer augenblicklichen Änderung, wenngleich er weiß, daß eine Steigerung seiner Glücksgefühle wohl möglich wäre. Sind Sie dagegen nicht in meinem Gesichtskreise, so erwacht meine Sehnsucht nach dieser Steigerung und nach Ihrem Besitz, der mich immer Ihrer Gegenwart würde lassen teilhaftig werden. Denn ich liebe Sie, Florentine. Mein Herz ist ganz von Ihnen ausgefüllt; Ihr liebes Bild ist in meine Augen gewissermaßen eingebrannt, so daß ich allerorten Sie sehe und meine Gedanken mit nichts anderem mehr beschäftigen kann. Verzeihen Sie, daß ein Kühner erhofft, daß Sie diese seine Liebe erwidern, wenn auch vielleicht ein wenig weniger stark, und daß er erhofft, daß Sie seine Wünsche einer Vereinigung für das Leben teilen. Ich kann Ihnen zwar keine Reichtümer bieten, mein geliebtes Mädchen, aber ich werde immer die Sorge von Ihrer angebeteten Person fernzuhalten wissen. Und wie ich Sie auf meinen Händen durch das Leben tragen werde, so werde ich auch meine Brust jedem Kummer entgegenwerfen, der Ihr Herz als Beute ausersehen hat.

Ich erwarte mit klopfendem Herzen den Nachmittag, der mich zu Ihnen führen soll, und unterzeichne mich indessen als

Ihren ganz ergebenen Diener

Paul Hellmich.«

 

Das war der Brief, den die Frau von Marree gelesen hatte – um achtundvierzig Jahre zu spät gelesen hatte.

Ein Drehen hub in ihrem Kopfe an, eine Unordnung der Gedanken entstand. Darauf versank die alte Frau allmählich viele hunderttausend Klafter tief in die Erde.

Als die schwarze Finsternis, die ihren Geist umlagert hatte, sich endlich verzog, fühlte die Frau von Marree den belebenden Schein einer strahlenden Sommersonne, sah eine grüne Wiese, die von Schmetterlingen bevölkert war, und auf dem Fußpfädlein zwischen Wald und Wiese zwei sittige junge Menschenkinder mit liebewarmen Herzen – sich selbst und Paul Hellmich. Die kleine, brave Florentine Kuntzendorff trug wieder das rote Hongkongkleid mit dem Gürtelkettchen, und der zärtliche, schalkhafte Zögerer Paul ging einher in der längst verschwundenen Tracht des blauen Fracks mit gelben Knöpfen. Ihr Köpfchen mit den goldig blonden kleinen Zopfscheuklappen war in den großen, schutigen Wangenhut mit dem rosafarbenen Rosenstrauß eingeschlossen; aber sie drehte es fleißig ab und zu auf, daß Paul Hellmich ihres Anblickes dennoch teilhaftig werde. Und sie wußte, daß seine Zeit durch dieses Manöver recht eigentlich eingeteilt wurde in Erwartungsminuten und Festtagssekunden, in Minuten süßer Spannung, in denen seine Seele sang und dichtete, und in Sekunden stummen Glückes, in denen seine Augen in die ihren tauchten.

Sie trafen wieder auf die riesenhafte Eiche, sie sahen wieder den Trauermantel, den Paul Hellmich griff, mit zuckenden Flügeln an ihrem Finger hängen. Und dann erklangen wieder die Flötentöne seiner Nachtigallenweisen. Ganz klar und deutlich tauchten die Bilder auf in natürlichen Farben des hellen Tages.

Darauf aber hub ein Gebären neuer Bilder, ein Tasten in die Zukunft an. Florentine träumte von Rosenlauben im Glanze ihrer Blüte – sie sah sich selbst, wie sie einem jungen tapferen Paare mit fleißiger Hand die bescheidene Mahlzeit bereitete. – Sie war aber nicht die Frau von Marree geworden, sie schaltete als Paul Hellmichs Ehefrau.

Bild um Bild zog an ihrem Herzen vorüber, ein wenig blaß in der Tönung, ein wenig unklar in den Umrissen. Sanfte Stunden still innigen Beisammenseins kamen daher, heilige, glückliche Stunden keuschen Sichangehörens, und ihr Fuß begegnete keiner Entwürdigung, wohin sie ihn auch setzen mochte. Ein heißes wehes Bangen begann das Herz der gealterten Frau zu bewegen ob dieser ungekosteten Seligkeiten, ein leidenschaftliches Hungern und Dürsten stellte sich ein. Ihre Wangen röteten sich, ihre Augen leuchteten.

Ein Fieber kam über die Frau von Marree, das ihr einen Schimmer junger Kraft verlieh. Nun federte ihr Schritt, und ihre Stimme klang.

Der heilige Zorn, daß sie verkürzt worden war, ließ allgemach nach. Und ein paar Tage später, als die Frau von Marree durch ihre Putzstube ging, erblickte sie das Bild ihres Gemahls an der Wand, wie es gelb, dürr und verärgert aus seinem Goldrahmen herniederschaute. Sie war die letzten Tage dahingegangen, ohne den seligen Marree zu sehen.

An der anderen Wand hingen die Bilder der Eltern, kleine schwärzliche Porträts in Ölmalerei. An dem Porträt des Papas erkannte die Frau von Marree den strengen Blick, der zu fragen schien: »Du weinst doch nicht, Tine?«

Da hörte ihr Herz auf, eigenwillige Sprache zu führen, und sie schlug ihre Augen nieder.

Die Hirtenflöten verstummten, eine schmälende, gequälte Musik bildete den Übergang zu eindrucksvollen Trauerklängen. So stand die Frau von Marree zwischen den Bildern ihrer verstorbenen Lieben, immer noch die Augen niedergeschlagen.

Sie hatte Ehebruch begangen. Sie war mit ihren Gedanken vom Pfade strenger Tugend abgewichen. Sie hatte die Lebzeiten ihres Ehemannes zurückgerufen und hatte in fremden Rosenlauben mit einem Galan gesessen. Denn die vergangene Zeit gehörte dem seligen Marree, daran durfte nicht getüftelt werden.

Eine längst verklungene Stimme weckte die Frau von Marree aus ihren Gedanken.

»Du bist meine gute Tochter, die mir immer Freude gemacht hat«, sagte das Bild ihres Vaters zu ihr.

Und dann fing auch der selige Marree zu sprechen an.

»Ja, wer sollte denn sonst helfen«, sagte der dürre, gelbe Herr an der Wand, »wir werden doch wohl helfen müssen …«, und wenn auch der Ton verärgert und gallig war, so war doch keinerlei Vorwurf darin enthalten. So, in diesem Sinne, hatte er aber immer gesprochen, wenn es sich um Zubuße für ihre Geschwister gehandelt hatte.

Gedemütigt und beschämt schlich Frau von Marree von hinnen. Schwer ließ sie sich in ihren Stuhl gleiten, dem Nähtisch gegenüber. Und als sie hilflos und ratlos auf das efeuberankte Laubendach starrte, erschaute sie das Hänschen darunter, das den Kopf zur Herrin drehte.

Sie saß dann der kleinen ausgestopften Kreatur gegenüber und hielt Gericht über sich selbst.

Sie mußte ihren Heiligenschein vom Haupte nehmen, den hübschen, kleinen, blanken Heiligenschein, um den sie gelebt hatte, um den sie ihre Seele Hunger hatte leiden lassen. Sie war zwar nur eine Sünderin der Gedanken gewesen, aber ihre Sünde wog doppelt schwer, weil ihr die Unterscheidung dessen, was Recht und Unrecht ist, war gegeben worden. Sie hatte Zeit ihres Lebens nur schwarz und weiß gelten lassen. Sie hatte nie Anwälte gedungen, um eine schiefe Sache gerade zu reden.

Frau von Marree begann sich zu grämen. Der Gram machte ihren häßlichen flachen Mund doppelt ausdruckslos, den Mund, der vordem ein Rebell gewesen war, mit dem wundervollen Zug keuscher Zärtlichkeit, er machte ihre Augen noch trüber und milchiger, die grauen Augen, die vordem brav und gläubig und tapfer in die Welt geschaut hatten. Weil das Leben mit seinen nüchternen Jahren so viel an ihrem äußeren Menschen verwüstet hatte, darum war jetzt nichts in ihren Zügen vorhanden, was den Ausdruck ihres Jammers und Leides verklärt oder gemildert hätte. Trostlos und nackt starrte es aus dem steifen, breiten Gesicht, über das langsam die Tränen rollten.

 

Das Hänschen, der unschuldige kleine Verführer, der Teufel im Vogelkleide, stand noch eine Anzahl Tage auf dem Nähtischchen der Frau von Marree. Er war mit einem Taschentuch verhängt wie mit einer Leichendecke. Nachher aber stand er frei da als Züchtigung ihrer. Frau von Marree hatte das tiefinnerliche Gefühl der Schuld und strafte sich durch Demütigung.

Allmählich wuchs eine Art Feindseligkeit gegen den kleinen gelben Erheiterer ihrer Mädchenjahre durch diese Züchtigung in ihr auf, und sie nahm endlich das kleine Tier, verpackte es wieder in die brüchigen Seidenpapiere und versenkte es in den grauen Pappkasten. Dieser wurde alsdann der großen Truhe zurückgegeben, die ihn achtundvierzig Jahre beherbergt hatte. Da mochte er stehen bis zum Tode der Frau von Marree und dann eine Auferstehung feiern, gleichviel welche.

Paul Hellmichs Brief wurde zum Feuertode verurteilt.

Frau von Marree legte ihn auf das kleine, durch die Einbuchtung gekennzeichnete Brett wie auf ein Tablettchen und stellte ihn auf einen Scheiterhaufen schmaler Holzstückchen, den sie im Kamin aufgeschichtet hatte. Durch irgendwelchen Zufall hatte sie den Brief aufgeschlagen.

In Erwartung der mordenden Flammen las sie: »In Ihrer Gegenwart, mein Fräulein, ist das Leben immer vollkommen schön und erregt in Ihrem ergebenen Diener nicht den Wunsch einer augenblicklichen Änderung, wenngleich er weiß, daß eine Steigerung seiner Glücksgefühle wohl möglich wäre. Sind Sie dagegen nicht in meinem Gesichtskreise, so erwacht meine Sehnsucht nach dieser Steigerung und nach Ihrem Besitz, der mich immer Ihrer Gegenwart würde lassen teilhaftig werden. Denn ich liebe Sie, Florentine …« Das Blatt lief braun an und krümmte sich, die Flamme machte es zu einer gelbrot flatternden Freudenfahne.

Am Saum dieser Fahne las Frau von Marree mit hungrigen Blicken: »Und wie ich Sie auf meinen Händen durch das Leben tragen werde, so werde ich auch meine Brust jedem Kummer entgegenwerfen …«

Die Flamme erlosch – ein schwarzes Blättchen blieb zurück, das zerbröckelte und zu Asche zerfiel.


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