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Die Tante sehnte sich danach, von Gundermanns fortzukommen, nachdem sie zwölf Jahre lang als zahlende Pensionärin alle Sorgen mit ihnen getragen hatte. Ihr Trachten war auf üppige Verhältnisse gerichtet, auf eine andersartige Atmosphäre als die, von der sie bei Gundermanns umgeben wurde.
Sie saß in ihrer großen hellen Stube mit der feinblumigen Tapete, der ehemals Gundermannschen Putzstube. Um fortzukommen, hatte sie angefangen, Ausstellungen zu machen. Sie hatte beispielsweise ihre Stube bemängelt. Als Antwort darauf war ihr die Putzstube eingeräumt worden. Sie überschütteten sie mit entgegenkommender Liebe. Denn der Gedanke kam diesen Menschen, diesen Gundermanns nicht, daß sie fort von ihnen verlangen könne.
Das war fürchterlich!
Die Tante legte die weißen mageren Hände, die Damenhände mit den Erbringen, vor ihr kleines, feines Altfräuleingesicht und weinte bitterlich.
Dann hob sie die Augen und sah in der Stube umher.
Die breiteste der Wandflächen hatte ein langes, vornehmes, altmodisches Sofa inne mit großen bequemen Rohrlehnstühlen. An den beiden schmäleren Seiten standen die beiden Schränke aus blitzenden weißen, dicken Glastafeln, die durch schöne braundunkle, blankpolierte Holzleisten verbunden waren. Der eine dieser stolzschönen Schränke enthielt die Bibliothek der Tante, in dem anderen war eine Sammlung feiner bunter, alter Tassen und Gläser aufgestellt.
Vor den Tassen und Gläsern standen ein paar Nippes, fingerhohe, derbe, blanke Püppchen von Porzellan in kräftigen Farben – ein Postillion in kornblumenblauem Frack, eine schönfarbige Ritterfrau in der Schellentracht, und dann der kleine Napoleon mit gekreuzten Armen. Das Püppchen trug schwarze hohe Stiefel, weiße Beinkleider und einen dunkelgrünen, frackartigen Waffenrock mit Aufschlägen. Das Gesicht, mit stechenden Augen und fest geschlossenem Munde, war ungemein ähnlich und hatte einen Ausdruck kalter Entschlossenheit.
Mit diesem Ausdruck der Rücksichtslosigkeit, des skrupellosen Eigenwillens hatte der kleine Napoleon das Fräulein aufgestachelt. Die starke Frühlingsluft war dazugekommen. Im Frühjahr hatte das Sehnsuchtsleiden angefangen. Die Tante atmete tief auf, erhob sich, ging in das Kabinett neben der Stube und zog sich an. Im schwarzen Seidenkleide kam sie wieder. Sie war fein von Gestalt, mit kurzen, leicht gepufften, graublonden Scheiteln.
Während sie noch vor dem schmalen Spiegel stand, tobten die Zwillinge, zwei große Mädchen von siebzehn Jahren, durch den Vorflur und stürzten in die Stube.
Sie waren ungleich in der Farbe, aber gleich in der Art – Magdalenerich blond mit hellen Augen und einem Grübchen in der linken Wange, Helenerich braunhaarig und dunkeläugig, mit einem Grübchen tief im Kinn wie eingemeißelt. Beide trugen das Haar in Zöpfen rund um den Kopf. Ihre Gesichter lachten, waren prall, hatten rote Wangen, helle Haut, weiße Zähnle, ihre Augen waren blank und klar, mit einem Ausdruck der Tapferkeit.
Die Gestalten noch ein wenig ungeschickt, die Bewegungen von einer kindlich-jungfräulichen, unbeholfenen Grazie. Sie trugen hellgrundige Kleider, große weiße Strohhüte und schwarze Lederschuhe.
Während die Tante den Hut aufsetzte, schütteten sie die Herzen aus. – Der Kaninchenhandel war geglückt, sie hatten Geld eingenommen. Dabei waren Junge vorhanden, die, wenn sie herangewachsen waren, auch wieder Geld einbringen würden.
Die beiden Mädchen stürzten auf das Tassenschränkchen zu, wo ganz unten in einer versteckten Ecke ihre Sparbüchsen standen. Mit den Sparbüchsen läuteten sie. Der Klapperklang einer umherhüpfenden Kupfermünze antwortete ihnen.
Ach, was mochte dem Klang für eine wundersame Musik innewohnen, daß sich die hellen und die dunkeln Augen voll schalkischem Jauchzen ineinander verfingen …
Die Tante seufzte, sagte grämlich: »Seid nicht albern!« und sank matt in den einen Rohrlehnstuhl.
Vor vierzehn Tagen waren die Sparbüchsen geplündert worden. Der Hausherr hatte einen neuen schwarzen Rock gebraucht an Stelle des alten, der an keinem Ende mehr paßte. Die ganze Familie hatte die Kassen ausgeleert. Jeder hatte sein Scherflein beigesteuert.
Das Fräulein aber hatte angefangen, die Sparerei zu hassen, das ewige Spiel mit den Sparbüchsen, die immer wieder geleert wurden. Das Gut war klein, der Boden gering, die Einnahmen wollten nie recht zureichen.
Und sie waren doch alle so anspruchslos! Aber der Student kostete viel Geld, obgleich er auch anspruchslos war. Von einer rührenden Bescheidenheit waren sie alle, von einer widerwärtigen, nichtswürdigen, ekelhaften Bescheidenheit. –
Die Zwillinge steckten indessen ihre Geschäftseinnahme in die Sparbüchsen, sahen einander mit entzückenden, dummschlauen Augen an, läuteten mit den Büchsen und brachen bei dem veränderten Klang in triumphierendes Freudenlachen aus.
Wie sie so dastanden und lachten, die Köpfe ein wenig vorgeschoben, den Mund so weit aufgerissen, daß die schmalen Kinnladen zu sehen waren, die großen weißen Hüte ein wenig verrutscht, die Kleider ein klein wenig spröde und ungeschickt, da deckte die Tante die Hände über die Ohren und sagte grämlich und verzweifelt: »Seid nicht albern! Laßt das dumme Lachen!«
Während sie dann vor dem Schranke hockten und ihre Sparbüchsen aufs neue darin unterbrachten, kam der Student herein und meldete, daß angespannt sei.
Er faßte seinen linken Rockaufschlag und zog den Rock energisch heran, Er sah immer aus, als argwöhne er, der Rock wolle ihm davonlaufen.
Sie gingen alle zum Wagen und stiegen ein. Die Hausfrau und die Tante kamen in den Fond, der Hausherr und der Student saßen vorn, ein Knecht wurde nicht mitgenommen. Wie die Jungen turnten die Zwillinge auf den harten Rücksitz, hoben ihre Kleider hoch, um sie beim Sitzen nicht zu zerdrücken, und zogen ihre weißen durchbrochenen Zwirnhandschuhe an.
Sie fuhren zu den vornehmen Verwandten, den Harsfelds auf Harsfelde, wo es immer hoch und pomphaft herging. Heute geschah die Fahrt zu feierlicher Veranlassung, denn der Onkel hatte Geburtstag.
Weil Gundermanns fühlten, daß sie abstachen, war die Rockanschaffung für den Hausherrn geschehen. Sie wollten keine Veranlassung zu Zurücksetzungen geben. Und nun sah Herr Gundermann auch wirklich fein und stattlich aus. Er war ein großer, starker, jovialer Herr mit dickem braunen Haar. In seiner Jugend war er der schöne Otto genannt worden.
Das Ziel der Fahrt war erreicht. Gundermanns wurden empfangen und recht und schlecht untergebracht.
Und dann kam das Abendessen, wo man die Zwillinge an den Kindertisch setzte.
Trotz des neuen Rockes wurden Gundermanns also doch ein wenig zurückgesetzt, und leider nicht nur durch die Zwillinge, sondern auch durch den Platz, den die liebe strahlende Frau Gundermann innehatte, sehr weit unten an der Tafel.
Die Tante stand freilich auf Seiten der Gastgeber.
Gundermanns waren Bauern und paßten nicht hierher. Der Student machte sich mit seiner Rockklappe lächerlich, die er heranholte, sowie ihn einer ansah oder anredete, und die Zwillinge lachten zu laut, und ihre Nägel waren zu kurz abgeschnitten.
Es gelang der Tante endlich, die Hausfrau auf fünf Minuten in der Fensternische festzumachen.
Sie wolle von Gundermanns fort, sagte sie. Ob man sie als Pensionärin aufnehmen würde.
Die Hausfrau antwortete: Ja, ja – aber ob sie denn nicht lieber …
Nein, sie bleibe nicht länger.
Etwa ein Zerwürfnis?
Ach nein –.
Die Hausfrau sagte heiter, denn die Tante hatte schon seit einiger Zeit Andeutungen gemacht: Die Tante könne es ja noch überlegen. – Sie müßten sich doch auch vorher verständigen. Sie wolle ihr Nachricht zukommen lassen. – Vielleicht käme Melly einmal hinüber. – Sie müsse jetzt aber nun zu ihren Gästen, die Tante möge entschuldigen … Und dann kam die Heimfahrt neben Frau Gundermann im Wagen, die tapfer ihre Mißstimmung beherrschte und mit ihrem Mann, der sich herumgesetzt hatte, plauderte. Sie verhandelten darüber, wie gut sich das Getreide halte. Aber nun müsse endlich Regen kommen. –
Ja das war fürchterlich und bedauernswürdig mit dieser grauenhaften Sommerhitze, die alles versengte. Seit Wochen hatte es nicht mehr geregnet. Mit jedem Atemzug, den man tat, sog man die Lunge voll Staub.
Die Gewitter zogen herauf und zogen wieder fort, ohne sich zu entladen und dem schmachtenden Erdboden die Wohltat eines milden Regens zuteil werden zu lassen. Alles wurde zur vorzeitigen Reife gedrängt. Alles ermattete und verbrannte. Auf allem lag die Staubschicht.
Und rundherum regnete es. Gestern hatte es in Harsfelde gewittert. Der Regen war in Bächen die Dorfstraße hinabgeschossen. Bei Gundermanns regnete es nicht. Gundermanns waren ausgeschlossen.
Während sie durch die Kiefern fuhren, bewölkte sich wieder der Himmel. Ehe sie heimkamen, war er in graue Schleier eingesponnen.
Im Flur sagte der schöne Otto: »Wir wollen aufbleiben – es kommt ein Gewitter.« Und sie legten rasch ihre Sachen ab und gingen alle in die Wohnstube.
Der Hausherr – er hatte den guten Rock schnell ausgezogen – stellte sich an das Fenster und wartete auf Regensegen. Am Tisch mitten in der Stube mit gesenktem Haupte saß die Frau. Der Student hatte den Platz am Kachelofen in Besitz genommen, wo er voller Unruhe hin und her schwang. Die Tante endlich saß im Sofa, müde und unzufrieden, und sah unweit von sich die Zwillinge aufrecht nebeneinander mit gefalteten Händen, wie sie tief in ihren reinen Herzen inbrünstig beteten.
Das Gewitter nahm andere Bahn, der Himmel klärte sich auf, seine Regenwolken zogen weiter, ohne daß sie ihren Reichtum hergegeben hatten.
Mit schwerem Atemzug wandte sich der schöne Otto in die Stube zurück und sagte: »Ja, wir können nun wohl zu Bett gehen.«
Die Tante war müde und schlief bald ein. Und am anderen Nachmittage kam dann wirklich Melly Harsfeld, um die Bedingungen des Zusammenlebens zu besprechen.
Sechzig Mark zahle die Tante monatlich alles in allem? fragte Melly. Das sei nicht viel. Aber es komme schließlich nicht darauf an. Jedoch vorbemerkt: man wolle nicht etwa Gundermanns schädigen. Melly war im Reitkleid, der Student führte ihr Pferd.
Sie sagte heiter: »Höre Tantchen, wegen des Zimmers: Das große Gastzimmer können wir dir leider nicht geben, das wird gebraucht, das können wir wirklich nicht missen. Aber da ist eine sehr nette Stube, freilich ohne Schlafkabinett. Wenn die dir genügt, Tantchen – eine Treppe hoch – nach Westen – ja – frisch tapeziert und gestrichen. Und du lebst ungeniert nach deinem Behagen, ganz als Familienmitglied –« sie lachte und sagte liebenswürdig: »Auch bezüglich des Stopfkorbes.«
Das mit dem Stopfkorb, daß auf ihren Beistand bei untergeordneten häuslichen Arbeiten gerechnet werde, gab der Tante einen kleinen Stoß. Hier im Hause zerrissen sich die Zwillinge danach, ihr beim Ausbessern ihrer Wäsche hilfreiche Hand zu leisten.
Schritte trappelten, die beiden Mädchen in hübschen Druckkleidern traten ein.
»Nennen sie euch immer noch Helenerich und Magdalenerich, weil ihr wilde Jungen seid?« fragte die Kusine kordial. »Das ließe ich mir nicht mehr gefallen. Ihr seid doch keine Kinder mehr.«
Sie saß auf und ritt ab, und Herr Gundermann sagte: »Als ich Melly sah, dachte ich, sie wolle das irgendwie entschuldigen – wegen gestern mit den Plätzen. Aber man muß den Besuch doch wohl in dem Sinne auffassen, wenn sie auch nichts gesagt hat.« –
Die Tante begab sich in den Garten und vom grauen Garten wieder in die Stube. Nachdem sie hier eine Weile mit dem kleinen Napoleon gesprochen hatte über ihr gutes Recht, sich durchzusetzen, fing sie an, ihre Sachen zu packen.
Sie machte die Kommode zum Umzug fertig. Nahm auch schon Bilder von den Wänden und packte sie zwischen die Wäsche, Raffaels feine Madonna del granduca, den Lautenschläger von Hals, den jungen Stier von Potter.
Und sie haßte Gundermanns, weil sie nicht merkten, daß sie fort wollte. Sie schalt sich, setzte sich matt in den großen Rohrlehnstuhl und überlegte, wie sie es anfangen müsse, um ihren Entschluß, fortzugehen, mit nackten Worten zu verkündigen – also, daß sie auch verstanden würde. Da hörte sie jemand vor ihrer Tür haltmachen. Es pochte. Herr Gundermann trat ein.
Heiter lächelnd setzte er seinen Tabakkasten auf den Tisch, nahm der Aufforderung des Fräuleins gemäß Platz, trocknete seine feuchte Stirn und kam auf den Zweck seines Besuches zu sprechen.
Seine Frau müsse ein Kleid haben – ein schwarzseidenes. Er habe so auf neunzig, hundert Mark gerechnet. Na, das sei doch nicht die Welt. Das müsse doch zu beschaffen sein. Die Tante musterte ihn. Sein Rock war abgetragen, er hatte auch schon vollständig die Farbe geändert. So nahm sie seine gesamte Kleidung, bis zu den Stiefeln von grobem, geborstenem Leder, in Augenschein.
Und während sie alles mit kalten Blicken begutachtete, hörte sie eine Wundermär: Der schöne Otto hatte einen geheimen Fonds von achtzig Mark. Vor drei Jahren hatte er das Zigarrenrauchen aufgegeben und sich zur Pfeife bekannt. Was er an Geld dadurch erspart, hatte er insgeheim für den Fall einer allernotwendigsten, unvorhergesehenen Anschaffung beiseite gelegt – für den Fall einer Ausgabe, die an die Kehle sprang.
Nun also!
Jetzt war er mit dem Tabakkasten hier und bat das Fräulein, ihn in Verwahrung zu nehmen. Er rauche jetzt vier Pfeifen täglich. Zwei Pfeifen täglich wolle er sich noch abziehen – traue sich aber leider die Kraft der Standhaftigkeit nicht zu. Er bat die Tante, sie möge gestatten, daß er mittags und abends zu ihr komme und sein Pfeifchen stopfe. Er vertraute ihr also den Tabakkasten an, den sie vor ihm hüten sollte.
Die Tante musterte ihn aufs neue. Widerwille packte sie.
Sie wurde kalt und hart. Es wurde förmlich zum Genuß für sie, daß sie dem Manne sagen konnte, nein, sie bedaure, sie könne das Ehrenamt nicht übernehmen, denn sie gehe weg. Sie fühle sich körperlich nicht wohl und wolle aus diesem Grunde eine vollständige Änderung ihrer bisherigen Lebensweise herbeiführen. Sie gehe zu denen auf Harsfelde. Alles sei schon abgemacht. Ohne alle Widerrede.
Ihre Damenhände streckten und schlossen sich nervös.
Der schöne Otto versetzte: Freilich, wenn die Tante weggehe … Aber wann denn?
In drei Tagen sei der Erste, antwortete das Fräulein kurz. Das sei rasch gekommen …
O nein.
Ob das Fräulein schon mit seiner Frau und den Kindern gesprochen habe – nicht, daß er sie halten wolle – aber –.
Nein, sie habe mit niemand noch gesprochen …
Ja, da wolle er doch die Seinen benachrichtigen … Und er stand auf und ging. Er sah nun doch ein bißchen graubleich aus.
Es war der Tante alles gleich. Durch die letzten Tage hier mußte sie hindurchstapfen wie mit hohen Stiefeln.
Das Stapfen hub sehr bald an. Es waren kaum ein paar Minuten vergangen, als Frau Gundermann eintrat und fassungslos fragte, ob Otto denn recht verstanden habe – ob die Tante wirklich –.
Ja, ja, unterbrach das Fräulein ungehalten. Sie sei es ihrer Gesundheit schuldig.
Und Frau Gundermann darauf: Ach! sie habe ja nicht gewußt, daß die Tante sich nicht wohl befinde. Sie solle nur verzeihen. Natürlich solle sie gepflegt werden. Es sei noch ein Schinken da –.
»Mein Gott«, rief das Fräulein aus, »das ist einfach fürchterlich! Ich will fort! Genügt denn das nicht?«
Jawohl, es genüge.
Am andern Tage ging die Tante zu Harsfelds und machte ihre Umsiedlung fest. Der Weg führte durch eine Kiefernschonung, und die Tante war ein feiner kleiner Furchthase, und ihr Herz zitterte bei dem Gedanken an die ganz Besitzlosen. Ein Stromer konnte kommen und sie überfallen.
Sie traf aber, als sie vom Hofe ging, den Studenten, der sich ihr anschloß und sie durch die Schonung begleitete. Und als sie um Sonnenuntergang von Harsfelde aus den Heimweg antrat – ungeleitet! – und klopfenden Herzens wieder in die Nähe der Schonung kam, stieß auch wieder der Student zu ihr, so daß sie immer unter Schutz und Fürsorge war.
Am Abend vorher hatten Gundermanns lange aufgesessen und hatten sich beraten.
Sie mußten ihren Gram und ihre Enttäuschung verbergen. Den Stolz mußten sie haben. Die Tante durfte auch in den wenigen Tagen, die sie noch bei ihnen weilen würde, keiner Liebe und Bequemlichkeit ermangeln. Freilich würde sich die Zukunft schwer für Gundermanns gestalten. Sie wußten noch nicht, wie; es möglich werden sollte, den Studenten auf der Universität zu erhalten.
Und dann hatten sie die Zukunft fahren lassen und hatten die Vergangenheit ins Auge gefaßt, wie die Tante ihnen die vielen Jahre beigestanden hatte. Der Sohn hatte das Gymnasium durchmachen können, dank dem Kostgeld, das sie freilich ehrlich durch Gegenleistung verdient hatten. Unverdient aber war ihnen vieles an kleinen Hilfeleistungen zugeflossen und an unschätzbarem Beistande bei der Erziehung der Kinder.
Die Zwillinge hatten nur die Dorfschule besucht. Den städtischen Unterricht hatte ihnen die Tante gegeben. Geographie und Geschichte, Literatur, Physik und Sprachen hatte sie mit ihnen getrieben, Naturwissenschaften und Götterlehre.
Gundermanns hatten um den großen viereckigen Familientisch bei der Lampe gesessen, alle mit verlorenen, verstörten Gesichtern. Dann hatten die Zwillinge angefangen zu weinen und zuletzt auch die Mutter mit den Händen vor dem Gesicht, die tapfere, rührige Frau. Oh, was hatte die geschluchzt – geschluchzt –.
Nun gingen sie alle dem Fräulein nach Kräften zur Hand. Die Zwillinge halfen die Kleider verpacken. Dazwischen legten sie die bunten Tassen und Gläser und die kleinen blanken Nippesfiguren, den Postillion, die anmutige kleine Rittersfrau in der Schellentracht und dann auch den kleinen Napoleon, den Unruhstifter.
Zuletzt kamen die Bücher an die Reihe, die alle sorglich eingeschlagen und in eine große Kiste versenkt wurden.
Das letzte Abendessen war gekommen, der letzte Vormittag folgte.
Nach dem Mittagessen, einer Festmahlzeit, ging das Fräulein, Abschied nehmend, durch den Garten mit den häßlichen vertrockneten Rasenplätzen. Sie ging am Buschwerk vorüber mit den ausgegerbten Blättern, an den dürren Blumenständen vorüber, durch den Staub, der die ganze Luft erfüllte.
Darauf kehrte sie in ihre Stube zurück, die nun öde und verräumt aussah, legte die Hände vor ihr kleines Altfräuleingesicht und weinte bitterlich.
Sie saß mitten auf dem langen Sofa, das in bunte Zeuggardinen verpackt worden war, und sah über ihre Stube hin von Möbel zu Möbel, ob sie noch verwandte Züge habe. Aber alles Geruhsame war daraus entwichen, sie schaute statt dessen den Schränken in die toten Glasaugen und sah, daß die Stühle alle in einer Reihe standen, als solle eine Handlung vor Zeugen verrichtet werden.
Vielleicht kam einer, hielt eine Abschiedsrede auf die Narrheit und krönte die Tante mit der Narrenmütze.
Kaum gedacht, hörte sie tief innen auch schon den Wortlaut der Rede erklingen.
»Meine schöne, junge Dame!« hörte sie sagen. »Mein feines, reizvolles, anmutiges Fräulein von vierzig Jahren! Meine sehr verehrte Närrin und überspannte Hanswurstin! Es ist mir zu Ohren gekommen, daß Sie von Gundermanns scheiden wollen! Brav von Ihnen! Sehr brav! Sie werden hier als die Feine behandelt, die Sie nicht sind, denn Sie haben das schmutzige Gefühl der Undankbarkeit. Das sehen Sie ein und begeben sich dahin, wo Sie sicher sind, Ihren Gaben gemäß behandelt zu werden. Statt Ihres schönen nach Osten gelegenen Zimmers mit dem großen Schlafkabinett weist man Ihnen vorerst einen nach Nordwest gelegenen Raum von geringer Größe an. Und das ist der Maßstab, nach dem man Sie messen wird. Ich bezweifle, daß man Sie häufig auffordern wird, an den Ausfahrten der Familie teilzunehmen, oder daß man Ihnen den besten Platz im Wagen anweisen wird. Man wird Sie auch kaum zu Rate ziehen bei Fragen um das Wohl der Familie. Im Flickstübchen dürften Sie aber ein immer gern gesehener Gast sein, sofern Ihre Anwesenheit dort werktätig ist, ebenso auch in der Plättstube. Von den Geselligkeiten im Hause wird man Sie keineswegs ausschließen, und es steht Ihnen bei diesen Gelegenheiten frei, sich an dem leichtfließenden Gesellschaftston zu berauschen.
Mein liebes Fräulein Tante – Sie verlassen hier Ihren Acker, auf dem Sie zum Segen gewirkt haben viele Jahre lang. Warum gehen Sie fort? Der Sparbüchsen wegen, die sich nie füllen werden? Denn das werden sie in Wahrheit nicht. Ei! ei! – sehen Sie einmal – dennoch – Sie lassen einen kostbaren Posten im Stich. Denken Sie zum Beispiel an den schönen Otto und seinen Sorgenpacken eines rechtschaffenen Hausvaters, den Sie durch Ihren Fortgang noch vergrößern helfen. Er wird seiner Hausfrau nie das seidene Kleid kaufen können – er wird seinen Studenten vom Studium abrufen müssen. Wohl! wohl! Sie haben ganz recht. Man bedarf keines seidenen Kleides, um eine brave Gattin und Mutter zu sein, und es muß auch nicht unter allen Umständen studiert sein, es gibt auch andere Berufe. Aber denken Sie an die Zwillinge, wie die Sie noch brauchen mit ihren jungen Herzen und ihren unreifen Gaben …
Wann sind sie denn zuerst gekommen, mein liebes gnädiges Fräulein, der Hochmut und die Unrast, daß Sie nicht bleiben wollen? Im Frühjahr ist die große Sehnsucht über Sie gekommen? Die Sehnsucht auszufliegen? Der kleine Napoleon ist daran schuld, der Glück- und Machterzwinger? Der Mann des Aufstiegs? Vielleicht ist es auch nur das Frühjahr gewesen, mein liebes, liebes Fräulein Tante, das Ihnen ins Blut gegangen ist, so daß Sie sich von unbestimmten Empfindungen beeinflussen lassen, die Sie nicht klarstellen können – von unbestimmten Sehnsuchten – das ist menschlich! menschlich!
Fassen Sie einmal die Wirklichkeit ins Auge, Tantchen: Sie sind ein altes Mädchen, das Kinder hat. Das trifft zu, nicht wahr? Denn die Zwillinge sind Ihre Kinder. Sie haben sie erzogen, darum gehören sie Ihnen. Durch die Kinder sind Sie tausendfach gesegnet und tausendfach gebunden. Nieder also auf Ihre Knie und bitten Sie ab! Rutschen Sie auf Ihren Knien zu Gundermanns und flehen Sie inständig mit erhobenen Händen, daß man Sie hier behalte – Weinen Sie – Bitten Sie – Betteln Sie –«
So predigte es vor den Ohren der Tante, die Stimme eines, den sie nicht sah, eines, der in ihr selbst war, eines starken, feinen, gerechten Menschen. Und die Stühle waren alle besetzt von Schatten, die durch Ihr Leben gegangen waren, Schatten von Menschen, die noch vielleicht atmeten, und Schatten von Menschen, die längst schon gestorben waren. Es pochte an. Das Fräulein fuhr auf. Da stand der Student im Türrahmen, faßte sich krampfhaft beim Rockaufschlag und meldete, daß das Gespann aus Harsfelde da sei, um die Möbel der Tante zu holen.
Das Fräulein atmete auf.
»Nur herein!« sagte es befangen.
Es wurde aufgeladen, der schöne Otto und der Student sorgten dafür, daß alles wohl bedeckt und gegen Abscheuern und Bruch geschützt wurde.
Die Harsfelder hatten ein junges starkes Fuchsgespann geschickt. Von Gundermanns wurde vorausgesetzt, daß sie die Tante irgendwie hinüberschicken würden. Gundermanns erklärten sich auch gleich bereit, gewiß, der Student solle mit den Ponys die Tante fahren.
Das Fräulein weinte beim Abschiednehmen, und der schöne Otto sagte: »Wir haben heute den Dorfbrunnen abschließen müssen. Es ist fürchterlich. Nun werden den Familien ihre paar Eimer Wasser zugemessen.« Dann zogen die Pferde an, und der Staub, der scheußliche, puderfeine Staub wirbelte auf.
Der Tag war unbarmherzig heiß. Wellen unsichtbaren Feuers flossen durch die Luft, Wellen gegenstandslosen Feuers, das ohne Flammen brannte.
Aber die Dorfkinder waren im Freien und hüteten die Gänse und die kleinen Geschwister. Sie hockten im Häuserschatten und lagen unter den Bäumen und Sträuchern am Grabenrand.
Und hatten noch Unfug im Kopfe, denn sie neckten ein Ochsengespann, das dahertrottete. Eben war die Tante vorübergefahren und vor der Tante die Möbelfuhre, die der Student bald überholte.
Die Kinder ahmten das Surren der Biesfliege nach, den eintönigen, sanften S-Laut.
Darüber wurden die Ochsen unruhig.
Der Ochsenknecht schwippte nach den Kindern mit der Peitsche, um sie zu vertreiben, und traf sein Gespann, das die Kinder weiter umkreisten, immer mit dem gefährlichen Surrlaut, der aus der Kehle trompetend heraufsteigt und sich an den geschlossenen Zähnen bricht.
Nun nahmen die Ochsen die Schwänze hoch und gingen durch.
Brüllend, mit schreckhafter Wildheit rasten sie davon und überholten die Möbelfuhre.
Brüllend, in rasender Wut jagten sie hinter dem Wagen der Tante her.
Ihre gefährlich spitzen Hörner dräuten, ihre Schwänze standen steil auf und schwangen.
Und dann kam rechts ein Feldweg, um den sich die Ochsen veruneinigten, denn der eine wollte auf der geraden Straße bleiben, während der andere den Feldweg einschlagen wollte.
Das vergällte ihnen das Durchgehen, sie kamen zum Frieden mit dem Lenker der Fuhre und allmählich wieder zum sachten Trott.
Als sie an der Möbelfuhre vorbeigerast waren, war das Handpferd von den Hörnern des Leinenochsens gestreift worden, so daß eine blutende Schramme zurückblieb. Die Harsfelder Pferde waren jung, in gutem Futterzustande.
Das getroffene Tier stieg und belästigte den Nachbar. Beide Pferde wurden ungebärdig.
Während sie noch aufbäumten, rauschte ein Krähenschwarm auf und erschreckte sie. Nun drängten sie zurück gegen den Wagen und drängten zur Seite und drängten vorwärts. Noch hatte sie der Knecht aber in den Leinen.
Da kam ein Windstoß, hob ein Blatt Papier aus dem Graben auf und wirbelte es vor dem Gespann die Fahrstraße entlang. Ein Blitz zog über den Himmel, weit hinten, aber grell – ein schreiender Blitz!
Keine Zügelführung hatte jetzt mehr Einfluß auf den Lauf der Tiere: Sie stürmten empört dahin. Ihre Köpfe waren zurückgeworfen, Schweif und Mähne flatterten.
Das Fräulein hatte zur Fahrt nach Harsfelde distinguiert Toilette gemacht. Den Hut, der anmutig auf den gepufften Scheiteln ruhte, zierte eine Agraffe mit dickem, weißem Reiher, über dem Staubmantel prangte eine große Krawatte von weißem Tüll. Kleid, Staubmantel, Hut, Sonnenschirm, alles war von feiner lichtgrauer Farbe.
Aber das Gesicht des Fräuleins war verzerrt. Es saß mit rückwärtsgewandtem Kopf und sah die Pferde heranrasen. Schaum troff aus den fürchterlichen Gebissen. Die Lippen waren weggezogen, so daß man die großen Zähne sah.
Als die Ochsen wie die Verrückten herangesaust waren, hatte die Tante gefürchtet, aufgespießt zu werden. Aber der Student hatte sie getröstet, Ochsen seien keine dauerhaften Durchgänger, hatte die Peitsche geschwungen und die Pferde laufen lassen.
Jetzt nun sah die Tante, daß auch die Pferde durchgingen, und fühlte einen Schlag vor die Brust. Sie dachte an ihre Sachen, ihre Möbel, Bilder, Bücher, Nippes und Kleider, die die unheimlichen Tiere im Galopp hinter sich herzogen: Sie dachte über alle anderen Gedanken hinweg sogar an den kleinen Napoleon, ob der gut verpackt sei und nicht Schaden nehmen könne.
Als sich aber der Lauf der Pferde nicht mäßigte, hörte sie auf, an die Lumpen und Scherben zu denken. Denn sie bemerkte entsetzt, daß die widerspenstigen Tiere in der Spur ihres Wagens näher und näher kamen, so grausam auch der Student die Peitsche schwang, und so schwindelnd schnell das leichte Gefährt sich fortbewegte.
Sie wollte aussteigen, richtete sich auf und schrie dem Studenten zu, daß er anhalte.
Ihrem Ansinnen wurde nicht Folge gegeben.
Sie wiederholte ihren Befehl: Anhalten! anhalten! damit sie absteigen könne.
Der Student gab kurz zurück: »Absteigen können wir jetzt nicht.«
»Doch! Wir müssen absteigen! Ich will absteigen!«
Darauf blieb der Student die Antwort schuldig.
In ihrer hilflosen Lage kam Todesangst über die Tante.
»Mensch«, kreischte sie, »bist du bei Sinnen? Ich befehle dir anzuhalten.«
Der lange junge Mann erwiderte in knappem Ton: »Wir haben keine Zeit zum Anhalten.«
Er saß steil wie ein junger Baum auf dem Vordersitz, sein Augenmerk auf die Pferde gerichtet. Hin und wieder flog sein Kopf zurück, und seine Augen maßen die Entfernung von Wagen zu Wagen. Darauf sauste wieder die Peitsche auf sein Gespann hernieder.
Es war eine fürchterliche Flucht, diese Flucht mit den kleinen Pferden vor den übergewaltigen Tieren hinter ihnen, vor ihren Hufen und ihren Gebissen, es waren riesenmäßige Anstrengungen, die der Student machte, um der Katastrophe vorzubeugen.
Denn daß sich eine Katastrophe vorbereitete, sah die Tante wohl.
Mit aufdämmernder Hoffnung sah sie aber auch, daß sich unweit der Weg gabelte, gewahrte, wie der Student die Pferde schärfer in die Leinen faßte, aus der bisher verfolgten Spur bog und in den abweichenden Weg hineinlenkte. Und dann kamen auch die durchgehenden Pferde an die Gabelung – bäumten verdutzt – und – folgten dem Wagen. Kein Staub stieg jetzt mehr auf, der Weg war fest und feucht. Wie auf der Tenne ging die Fahrt dahin.
Der Himmel aber war grau zugedeckt, und es donnerte und blitzte verstärkt in der Ferne.
Hier und da sah man Landarbeiter auf den Feldern. Ein paar tüchtige Kerle sprangen auch herzu, um die durchgehenden Pferde aus der Bahn zu scheuchen. Ihnen in die Zügel zu fallen, wagten sie nicht, denn sie kannten und fürchteten die bösen, mutigen Harsfelder Füchse. Sie wollten nur denen da vorn Zeit zur Bergung und Rettung schaffen – dem jungen Gundermann und Gundermanns Tante. Es wurde auch jedesmal ein Vorsprung erzielt. Denn die Füchse bäumten und stutzten, und die Fuhre polterte und schwankte. Aber nach kurzem Verweilen ging doch die Fahrt wieder weiter in der Spur der Vorgänger. –
Der Knecht hatte die Leinen längst fahren lassen. Die Packung der Möbel hatte sich gelockert. Eine Kiste schlug hinten vom Wagen.
Das Fräulein sah die Kiste fallen. Was tat's! Sah sie doch zugleich, daß sich die Kraft der Füchse, die verderbliche Kraft, so viel sie davon schon vergeudet hatten, noch nicht verringert hatte.
Aber Gundermanns Pferde ließen nach im Lauf.
Und nun rutschte auch der Bettsack vom Möbelwagen, hinterher der Reisekorb. Und der Knecht klomm nach dem Hinterteil, um sich durch einen Sprung vom Wagen zu retten.
Als der Reisekorb fiel, dachte die Tante wieder an den kleinen Napoleon oder vielmehr an sein Urbild, den großen Korsen. In der Frist einer halben Viertelminute flog sein Erdenlauf an ihren Gedanken vorüber – sein gewaltsamer Aufstieg und sein unaufhaltsamer Abstieg.
Dabei sah sie etwas Dunkles am Wege auftauchen, eine Kiefernschonung, die durch einen Graben von der Fahrstraße getrennt war. Vom benachbarten Felde trennte sie ein Scheideling, der glatt in den Weg einlief, ein vergraster Rand voller Löcher, Unebenheiten, Steine.
Und sie hörte die Stimme des Studenten, der ihr zuschrie: »Ich fahre jetzt auf den Scheideling! Mach dich fertig zum Abspringen! Sowie ich halte, springst du! Und gleich in die Schonung, da bist du geborgen.«
Die Tante sah die knappe Entfernung von Wagen zu Wagen und antwortete still: »Ohne dich springe ich nicht ab.«
»Sowie du geborgen bist«, rief der Student zurück, »komme ich nach!«
Er ließ die Pferde langsamer gehen und bog um die Ecke auf den gefährlichen Rand, der mit Heidekraut durchwuchert war.
Gleich darauf standen die Pferde, und das Fräulein, das sich schon fertig gemacht hatte, klomm zitternd zur Erde und lief in die Heide.
Im gleichen Augenblick sauste aber die Peitsche auf die Tiere, und das Gespann flog weiter. –
Die Harsfelder Füchse waren auch diesmal auf der Spur geblieben. Der Wagen polterte herauf, schwankte durch die Löcher, sprang über die Steine. Er neigte sich – stürzte um.
Eines der Pferde kam dabei zu Falle. Wild schlugen die Hufe durch die Luft, der Körper versuchte vergebens, sich zu erheben, die Deichsel zerbrach. Das andere Pferd wollte von der Stelle und zog an. Wider Erwarten kam das Gefallene dadurch auf die Beine.
Nun ging der Lauf weiter.
Angst um das Leben des Studenten erfüllte das Herz der Tante. Sie stürzte an den Saum der Heide.
Ihre breite weiße Tüllkrawatte hatte sie an den hellen Sonnenschirm gebunden und wehte damit, um die Tiere zurückzuscheuchen. Aber die Pferde, nun des Wagens ledig, stürzten in ebener Bahn an ihr vorbei, an ihrer weißen flatternden Fahne, an ihrem hellen flatternden Mantel.
Als der Wagen umgefallen war, hatte der Klang zerbrechender Glasscheiben das Ohr des Fräuleins erreicht. Das waren die Scheiben von ihren Schränken, die da zerbrachen. Mochten sie immerhin zerbrechen! Was kümmerten sie die Schränke!
Der Platz, wo der Wagen lag, bildete eine wüste Schuttstelle, das Sofa war herausgefallen, die Teile der Bettstelle ragten hoch auf, das Stroh, das zum Verpacken benutzt worden war, bedeckte den Platz weit in der Runde.
Die Tante hatte kaum einen halben Blick dafür. Sie lief, so schnell sie konnte, in der Fahrtrichtung dahin.
Von den Harsfelder Pferden war nichts mehr zu sehen. Aber als sie an das Ende des Scheidelings kam, war es ihr, als erblicke sie eine Himmelserscheinung, denn um die Ecke der Schonung bog mit seinem kleinen Gespann der Student herum, in sanftem, gemachem Trabe. Er hielt an, damit sie aufsteigen konnte.
Sie kamen dann bald an die Trümmerstelle, die der Student in Augenschein nahm.
Er räusperte sich und sagte mit unbeholfener Stimme: »Es sieht schlimmer aus, als es ist. – Sieh mal, Tantchen –« er faßte seinen Rockaufschlag – »ich konnte nicht anders, ich mußte hier herauf, damit die Fuhre umschmiß. In dem Tempo konnte ich nicht weiterfahren. Und die Harsfelder Füchse sind Beißer. Und was haben die Kracken für Kraft in ihren Gebissen.«
Ein Holzarbeiter kam daher, den stellte er als Hüter zu den Sachen. Den Reisekorb nahm er zu sich auf den Wagen, der Bettsack kam hinten zur Tante hinein. Den Trab der Tiere mäßigte er.
Und dann suchte er sich zu orientieren.
»Hast du eine Ahnung, Tantchen«, fragte er sanft, »wo wir nach Harsfelde kommen?«
Sie antwortete dumpf: »Nach Hause!« Mit versagender Stimme brachte sie hervor: »Nach Hause!«
Als er seinen Rockaufschlag gefaßt hatte, hatte sie angefangen zu weinen. Jetzt schluchzte sie laut, drückte die Stirn an seinen Rücken, jammerte und konnte sich nicht fassen. Sie wollte nach Hause, sie wollte wieder zu Gundermanns. Der Student drehte sich herum.
»Fasse dich doch nur, Tantchen. Ja doch! Du brauchst ja nur zu sagen, wohin du willst.« Und ein männlicher Zug rührender Gutmütigkeit sprach aus seinem Gesicht, ein Schimmer schalkhafter Nachsicht glänzte in seinen Augen. »Jetzt ist ja nun alle Gefahr vorbei, Tantchen.«
Im Schritt gingen die Tiere. Der Student drehte sich wieder herum.
»Ich glaube, das Gewitter ist zu uns rüber gezogen«, sagte er glücklich. »Jetzt orientiere ich mich erst. Das da ganz hinten ist unser Kirchturm. Siehst du's? Da steht das Gewitter. Es regnet auch da drüben.«
Allmählich kamen sie in den Regen hinein. Er fiel langsam, ganz fein, dann bald ein wenig straffer.
»So muß er kommen«, sagte der junge Mann.
Sein Gesicht war gerötet, seine Augen blitzten. Er genoß den Regen, der allmählich den Staub löschte.
Als der Wagen bei Gundermanns vorfuhr, stand schon der schöne Otto in der Tür, voller Schrecken, was geschehen sei.
Die Füchse durchgegangen, die Fuhre umgeschmissen, die Tante wieder da. So berichtete der Student.
Er sprang zur Erde und packten den Reisekorb. Die Tante bleibe hier, sagte er.
Nun faßte der schöne Otto nach dem Bettsack. Mit einem Male waren sie alle da, zogen das Fräulein vom Wagen und führten es in die Wohnstube, wo sie es des nassen Mantels, des verdorbenen Hutes und der Handschuhe entledigten. Und Frau Gundermann schloß das Fräulein immer wieder in die Arme, wie eine heimkehrende Schwester.
Draußen gewitterte es, der erquickende Regen kam straff hernieder, drinnen war der Himmel voller Sonnenschein.
Die Zwillinge huschten hinaus und machten Kaffee – die Tante flog ja an allen Gliedern – der schöne Otto und der Student machten sich fertig, um die abgestürzten Sachen zu holen.
Als sie zu tiefer Dämmerstunde mit dem Stückwerk ankamen, und es im großen Vorflur behutsam absetzten, lag die Tante schon geborgen im Fremdenstübchen im Bett, in tiefen Schlaf der Ermattung gesunken.
Jeder Staubgeruch war aus der Luft verschwunden, süßer Regenduft erfüllte sie statt dessen, und man hörte das Geräusch des wundervollen, seidenraschelnden Regenrauschens und den süßen, einschläfernden, eintönig leisen Tropfenfall. Dazu erklang das Gurgeln und Rauschen in den Traufen und Dachrinnen und das Klacken des Wassers, das aus den überfüllten Regenfässern in breitem Schwalle abfloß.
Es regnete die ganze Nacht hindurch.
Wenn Gundermanns wach wurden, streckten sie die Glieder in köstlichem Behagen, lauschten schlaffaul und schlossen wieder die Augen unter dem Gefühl einer wundervollen Sättigung. Zur Zeit der Dürre und während der Tage, wo sie den Kummer um das Fortgehen der Tante getragen hatten, waren sie stets von einem dem Hunger verwandten Gefühl bedrängt gewesen.
Als der Morgen graute, nahmen die Zwillinge die Schuhe in die Hand und huschten in die Wohnung der Tante. Das Schlafzimmer wurde eingeräumt.
Der Student, eine blaue Schürze vorgebunden, half wie eine Haustochter, der Leimtiegel stand auf dem Feuer. Die Zwillinge wuschen das Holz der Möbel ab und polierten es wie die Wahnsinnigen, sie schichteten die Betten in die Bettstelle, füllten den Kleiderschrank.
Dabei kamen die schönen Tassen und Gläser wieder zum Vorschein und die blanken kleinen Nippesfiguren. Und es war alles ganz und heil, bloß der kleine Napoleon fehlte. Der mochte sich heimlich von seinem gesicherten Platz zwischen den Kleidern entfernt haben und mochte sodann durch ein Loch im Reisekorb, entflohen sein.
Und nun wurde die große Kommode vorgenommen, deren Rückwand eingedrückt war. Der junge Stier, die Madonna del granduca und der Lautenschläger hatten dadurch Schaden genommen. Die Geschwister nagelten an den Rahmen, mit zusammengesteckten Köpfen begutachteten sie.
Zuletzt hing alles an der Wand und sah fein und nett aus.
Dazwischen kamen die Handwerker, der Tischler und der Glaser und nahmen sich der armen Prunkschränke an. Denn die Tante war, Gott sei Dank, krank geworden und mußte im Bett bleiben.
Am dritten Tage stand sie wieder auf. Sie hatte viel allein liegen müssen. Gundermanns hatten ihr Gewissen mit einem Sack voll Lügen beschwert, um die Abwesenheit der Haustöchter zu ermöglichen.
Am ersten Tage hatte es geheißen, die Zwillinge stünden am Waschfaß bei der Gardinenwäsche. Am zweiten Tage aber hatte Frau Gundermann vorgegeben, die Viehmagd sei erkrankt, und die Mädchen müßten dem Melken vorstehen.
Trotzdem huschten die Mädchen Stunde um Stunde auf ein Weilchen herzu, saßen vor dem Bett und erzählten, wie draußen nach dem köstlichen Regen sich alles erhebe, wahrhaftig, es sprieße schon wieder das Gras im verdorrten Rasen.
Als sich die Tante vom Bett erhob, hieß es, die Mädchen wären jetzt zur Verfügung, um beim Einräumen behilflich zu sein.
Darauf wurde die Tante in ihre Wohnung geführt. Hier stand jedes Ding auf seinem alten Platz, und die Wohnung sah fein und sinnig aus, wie zuvor, nur daß die Möbel trotz aller Fürsorge ein ganz klein wenig abgebrauchter geworden waren.
Und Magdalenerich und Helenerich galoppierten auf den Glasschrank zu, rissen die Tür auf und zeigten der Tante, daß auch ihre beiden Sparbüchsen wieder auf dem alten Platz stünden. Aber eins – wie schade – die Tante möge betrachten – der kleine Napoleon sei ausgekniffen.
Da lächelte das Fräulein sonderbar und sagte, man solle ihn nur laufen lassen. Er wisse schon, warum er sich fortgemacht habe.
Gundermanns zogen sich zurück, zuerst der schöne Otto und die Mutter, ein Weilchen später auch die Kinder.
Drei Paar grobe Stiefel setzten sich zugleich in Bewegung. Es polterte, als sie hinausliefen. Und sie lachten und pufften sich und warfen die jungen Köpfe.
Und der Student fand ein dummes zärtliches Liebeswort für die Schwestern. »Lauft«, sagte er, »ihr Schweinsknöchelchen!« Da rissen die Mädchen den Mund weit auf vor Lachen.
Dabei vertiefte sich Magdalenerichs Wangengrübchen zum Entzücken, und Helenerichs Kinngrübchen hatte nie so einzig schön und lockend ausgesehen, so tief hineingemeißelt wie jetzt, in dem strahlenden geröteten, kindlichen Jungfrauengesicht,
Die Tante sah aus dem Fenster nach dem regendunkeln Erdreich, nach den Formen und Farben, die alle, welcher Art sie auch sein mochten, ins Bräunliche hinüberschattierten. Die Luft war feucht, eine Wachse- und Werdeluft.
Dann ging sie an den Glasschrank, machte auf und schob an den Gläsern und Tassen.
Zuletzt drehte sie sich herum und nahm mit stillen freundlichen Blicken die Stube in Augenschein.
Mitten auf dem Sofa stand ein großes, länglich hohes Kissen in sanften Farben. Es war mit einer geschweiften Obergarnitur versehen, die ihm das Aussehen gab, als wehre es mit den Armen, daß ihm jemand den Platz verkürze.
In dem hochmütigen Kissen steckte auch ein wenig von dem Geist des kleinen Napoleon. Die Tante nahm es lächelnd vom angestammten Platze, lehnte es gegen die Seitenwand, und nun sah es ganz geruhsam aus, als lade es das müde Haupt ein, sich darauf zu betten.
So freute sich die Tante weiter an jedem Stück, daß es gebührlich auf seinem alten Platze war, das Sofa, die Rohrlehnstühle, die Schränke, die Bilder an den Wänden. Und eine dankbare Freude erfüllte ihr Herz, daß auch sie wieder hier war, daß sie sich zurückgefunden hatte auf ihren Posten zu Gundermanns.
Die unvernünftigen, kranken Sehnsuchts- und Hochmutsgefühle waren verflogen, und eine starke, sonnige, sanfte Herbststille hatte von ihrem Wesen Besitz ergriffen, daraus der kleine Napoleon, der Aufrührer und Gewaltmensch, entwichen war.