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Die Kränzchenfrau

Hanne saß am Tisch und verlas Mahlbeeren (Preißelbeeren). Die Tür zur Kammer, wo ihr Enkelkind schlief, stand auf.

Auch das eine Fenster war geöffnet.

Nun hörte sie draußen die Kinder lachen und einander zurufen, hörte die Gänse schnattern und die Hühner gackern. Und der lieben Sonne wurde auch der Zutritt ein wenig erleichtert.

Dazu füllte sich allmählich die Stube mit einem durchdringenden Geruch von Gewürznelken, der einem Töpfchen im Ofen entströmte.

Hanne stand auf, hob den Deckel vom Töpfchen, schüttelte den Inhalt ein wenig, deckte wieder zu und schob hinein.

Als sie an den Tisch zurückkehrte, sah sie da ihr Enkelkind stehn, das mit spitzen Fingern von den Beeren naschte. Der Junge war im Hemdchen. Man sah seine dünnen, nackten Beine und Arme. Er war ein langes, schmales Kerlchen von fünf Jahren mit schwarzem Haar und schwarzen, schüchternen Augen. Die Gesichtsfarbe war, wenn schon brünett, so doch bleich, wie die eines Stadtkindes.

»Ich bin gleich do-e mit der Besenrute!« schrie ihm die Großmutter drohend zu.

Aber das Kind naschte ruhig weiter, drehte nur ein wenig den schmalen Kopf zur alten Frau, indes ein Lachen über sein Gesicht flog.

»Geh her!« sagte Hanne und stellte den Waschnapf auf die Ofenbank.

Das Kind kam sofort heran und ließ sich geduldig waschen und mit dem groben Tuch trocken reiben. Nachher half ihm Hanne auch in die Höschen. Barfuß, ohne Jacke stand er dann neben ihr am Tisch und tunkte seinen Tätscher in den Kaffee.

Hanne verlas nun wieder. Ihre Füße steckten in leichten Pantoffeln mit buntgewirktem Fußblatt. Zu ihrem Arbeitsrock trug sie eine lose, sehr lange, sackartige Jacke von braunem Barchent, die durch die Schürze gegürtet wurde. Sie war nur eben mittelgroß, hager, man sah weder Bauch noch Hüften. Und die Taille war lang, fast bis zur Mitte der ganzen Gestalt, und der Nacken war ein klein wenig gebückt. Mit ihren dürren, verrunzelten Händen scharrte sie emsig zwischen den roten Beeren, die rieselnd in den Napf auf ihrem Schoße fielen. Ihr graues faltiges Gesicht unter den dicken, weißen Haaren hatte einen Ausdruck lachender Grimmigkeit.

Das Kind sagte: »Großmutter, ziehst denn du dir hinte nich dein Kleid an? Zieh dir doch hinte nur dein Kleid an, und dann fahren wir beide nauf zum Vogelschießen.«

»Heute können wir da nicht hin,« antwortete die alte Hanne mit drohender Stimme. »Da haben sie abgesperrt heute mit enner eisernen Kette, die muß ma erscht durchbeiße, und ich ha keine Zähne mehr.«

»Lonny mit ihrem Vater, die sind oo nauf«, sagte das Kind.

»Lonny ihr Vater, der kann noch beißen.« Sie sah das Kind an, das den Kopf hängen ließ, und sagte: »Mundier (iß) noch e Stückchen Tätscher.« Das Kind allein war ihr geblieben von allem, was sie besessen hatte. Alle, der Gatte, die Söhne, die Schwiegertochter, waren fortgestorben.

Sie brachte sich ehrlich durch mit Tagelöhnern. Im Sommer, bis tief in den Herbst, kam dann die Zeit reicher Ernte mit Beeren, Pilzen und medizinischen Kräutern. Und dann strickte sie und machte Kränzchen von Gewürznelken zu Geburtstagen und Jubiläen. Was sie an Holz gebrauchte, holte sie auf dem Rücken aus dem Forst.

»Hilf der Großemutter lesen«, sagte sie zum Kind. »Nachmittge gehen wir noch e bißchen auf den Schlag und zupfen Mahlbeeren, und für das Geld, da fahren wir nauf zum Vogelschießen. Erscht schaffe ich morgen früh die Beeren fort, und dann wasche ich dich mit Seife und kämme dich und ziehe dir e frisches Hemde an, und dann fahren wir Nachmittge nauf.«

Sie unterhandelten nun. Das Kind wollte auf die Reitbahn, und dann wollte es einen Spazierstock haben und eine Rostwurst.

Hanne stand auf und sah wieder nach den eingequollenen Gewürznelken, die sie im Töpfchen auf die Bank stellte. Die Beeren waren verlesen und wurden in die Kammer geschafft.

Nun wischte sie den Tisch ab, holte das Tintenfaß und die Feder und ein Blättchen Papier, außerdem ein Endchen schmales, rotseidenes Knitterband und zuletzt die Gewürznelken, die sie auf eine Tasse schüttete und auf einen feinen Draht aufzureihen begann. Sie zog immer vier Nelken auf, von denen sie je eins mit dem Köpfchen nach innen und eins mit dem Köpfchen nach außen drehte, und hinterher ein dickes Gewürzkorn, so daß das entstehende Kränzchen, sah man von der dunkelbraunen Farbe ab, einer Schnur von Korallen und Perlen glich.

An der Wand hing ein ebensolches fertiges Kränzchen in Handgröße. Aber es war schon altersgrau, verstaubt und zermürbt, das dünne Schleifchen graufahl und seines billigen Glanzes beraubt, und das Papier, das der Rundung untergeheftet war, gelb und morsch mit blassen, kaum mehr leserlichen Schriftzeichen.

Die Schriftzeichen bildeten eine Geburtstagsgratulation, die also lautete:

»Als ich heute früh erwachte
Und an Raimund Görbert dachte,
Fiel mir der Gedanke ein,
Es möchte sein Geburtstag sein – – –
Darum wünsche ich dich ein Häuschen von Zucker,
Von Schokolade eine Tür,
Einen Riegel von Bratwurst davür,
Und wär dabei eine Flasche Wein,
So sollt es mich von Herzen freun.

Dieses wünscht von Herzen Zilla Schrödter.«

Das Datum zeigte um fünfundzwanzig Jahre zurück.

Die das Kränzchen vor fünfundzwanzig Jahren bestellt hatte, war ein lachendes, junges Blut in der Pracht ihrer zwanzig Jahre gewesen, groß von Gestalt, rund und doch schlank von Gliederbau. Fein und edel war der Schnitt des Gesichtes gewesen, rot die blühenden Lippen, grau die Augen. Da auf der Bank am Ofen hatte sie gesessen und die Hände gerungen. Als sie am Abend dann sich fortgeschlichen, hatte sie das Kränzchen nicht mitgenommen.

Mitunter, wenn Hannens Blicke das Kränzchen streifen, fiel ihr das schöne, blonde Mädchen ein. Dann drohte sie mit der Faust nach dem Gewürzkränzchen, als sei es eine Person. Aber fünfundzwanzig Jahre sind eine lange Zeit, und es geschah zuletzt selten, daß Hannen der Anblick des Kränzchens die Bestellerin in das Gedächtnis zurückrief. Und wenn es doch geschah, so war es wiederum selten, daß sie zum Zorn fortgerissen wurde. Wenn man so alt geworden war wie sie, und soviel den Korb auf dem Rücken hatte tragen müssen, einen Tag wie den andern, dann wurde man gleichgültig gegen überwundene Schmerzen.

Der kleine Junge spielte draußen mit den Nachbarskindern. Er war bei allem sacht. Bloß manchmal überkam es ihn, daß er ein Junge sei, und er machte dann Skandal und lärmte mit der Stimme und mit Händen und Füßen.

Hanne freute sich, wenn sie es hörte. Und sie lachte auch jetzt darüber und schrie, das Gesicht zum offenstehenden Fenster gewandt: »Ich soll wohl mit der Peitsche komm – gelle nicht?«

Darauf wurde der Junge noch lauter, als fröhliche Antwort auf die Drohung. Und als wolle sie sich beteiligen, so fing die Küchenhenne unter dem Fenster zu singen an.

Das zwang Hannen aufzustehen, und sie holte ein Brotstückchen und lehnte zum Fenster hinaus.

Unten stand die weiße Henne, reckte und wandte den Hals, drehte den Kopf und verdrehte die Augen und sang ganz wundervoll. Sie hatte nicht etwa ein Ei gelegt, nein, sie stand hier und sang um die liebe Futtergabe. Der Gesang wechselte von hohen zu tiefen Tönen und wieder zurück. Er klomm immer eine vier- bis fünfsprossige Leiter hinab. War die tiefste Sprosse erreicht, so flog er mit einem schönen Schleifer zum höchsten Ton wieder empor, um allsogleich wieder hinabzusteigen. Sie sang: »Gaak, gaak, gaak, gaak, gaak.«

Als der Gesang ein Weilchen gedauert hatte, streute Hanne die Krumen aus, und die Henne schoß darauf zu.

Und dann fiel ein Schatten über die Futterstelle, und eine Mädchenstimme fragte: »Wohnt hier nicht die Kränzchenfrau?«

»Die bin ich«, antwortete Hanne.

Hurtig trat das Mädchen durch die Tür und wartete nach dem ersten Schritt über die Schwelle, daß man es willkommen heiße.

Da machte Hanne, die sich zurück in die Stube gekehrt hatte, und die das Mädchen betrachtete, einen zärtlichen, ganz tiefen, drolligen Diener und fragte: »Womit kann ich Ihnen diene?«

Das Mädchen errötete ob der Schalkerei und antwortete: »Ich woll gerne ein Kränzchen gemacht haben …«, hakte die Tragebänder vom Korb, setzte den Korb neben sich auf die Diele und holte ein kleines Päckchen mit zwei Wurststückchen heraus, die es auf den Tisch legte.

Hanne sagte: »Willkommen auch«, und reichte die Hand. »Setz dich nieder«, sagte sie und rückte einen Stuhl zum Tisch. »Die Wurst soll wohl ich habe?«

»Jo-e.«

Das Mädchen saß nun. Hanne hatte sich auch wieder gesetzt und hatte gleich ihre Kranzarbeit wieder vorgenommen.

»Das sieht fein«, sagte das Mädchen nach einer Weile. »Wieviel muß man denn zahlen for ein Kränzchen?«

»Sie geben immer fünfundzwanzig Pfennge«, antwortete Hanne, »und dann bringen sie noch was mit, e bißchen Speck zum Ausschmälzen oder e paar Eier. Du hast ja schon gebracht«, sagte sie und zeigte auf die schmale Wurstgabe, »da mußt du itze noch fünfundzwanzig Pfennige entrichte.«

Als das Mädchen schwieg, fuhr sie fort: »Ma hat nich viel dran. Ich brauche doch for zehn Pfennge Nelken, und acht Pfennge macht das seidene Band, und e Stückechen Schreibpapier, das versaut man sich auch, und dann e Stückechen Holz, man muß die Nelken doch aufquellen, daß sie riechen.«

»Das will ich wuhl zahlen«, antwortete das Mädchen. »Aber ich hab's notwendig; in einer Stunde muß ich heim.«

»So scharf gieht das nich. Man muß doch alles erscht zurichte. Aber«, sagte Hanne, »leichte könnte ich dir das hier geben, das Kränzchen. Das pressiert nicht so sehre. Für wen soll es denn?«

Das Mädchen strich an seinen Sachen und schaute vor sich nieder.

»Das soll für ennen Burschen.«

»Epper (etwa) for deinen Schatz?«

»Was Festes is das noch nicht.«

Die alte Frau sah das Mädchen an, schlank und gerade saß es auf seinem Platz in der blonden Pracht seiner zwanzig Jahre. Die Wangen waren gerötet, die Augen niedergeschlagen. Um den roten Mund lag ein sonderbarer Zug von stillem Kummer, der aber verflog, als es sah, daß es beobachtet wurde.

Das Mädchen stand auf, holte aus dem Korb ein Stück Brot und fing an zu essen. Zu dem trockenen Brot hatte es ein dünnes Endchen Wurst, von dem es spärlich zubiß.

»Im Ofen steht e Töpfchen Kaffee«, sagte Hanne gutmütig, »hol dir das.«

»Ich hab satt (genug)«, antwortete das Mädchen befangen.

Aber Hanne drang darauf, daß es folge, und so holte es den Kaffee.

»Was wollen wir denn for ennen Vers neinschreiben?« fragte Hanne nach einer Weile, während deren sie ihre Gewürzkörner und ihre Nelken auf den Draht gespießt und aneinandergeriehen (gereiht) hatte.

»Ich kann keinen Vorschlag mache, ich weiß nichts.«

»Hat er was?«

»Ach, jo-e.«

Da sagte Hanne mit erhobener wichtiger Stimme einen Vers her.

»Rosen und Vergißmeinnicht
Hab ich nicht gefunden,
Sonst hätt ich nach meiner Pflicht
Dir ein Kranz gebunden.
Drum kurz und gut, der Wunsch ist klein:
Du sollst gesund und fröhlich sein.«

Das Mädchen stellte das Kaffeetöpfchen auf den Tisch und sagte: »Das klang ja ganz fein.«

»No«, antwortete Hanne, die annahm, daß der Vers nicht vollen Beifall gefunden habe, »ich weiß noch mehr.«

Mit zwinkernden Augen sah sie das Mädchen an, beide Arme gegen den Tisch gestemmt. In den vorgeschobenen Händen hielt sie das halbvollendete, tropfende Kränzchen, das einen betäubenden, süßlichen Duft ausströmte.

Ihre Barchentjacke war doch sehr lang. Die alte Frau sah fast wie eine Mohnpuppe aus.

Man nimmt eine erblühte Mohnblume, biegt die Blumenblätter nach unten und gürtet zur Mitte mit einem Grashalm. Das feine grüne Mohnköpfchen steht oben heraus. Das seidenglänzende Mohnblumenblättergewand bauscht oben soviel wie unten. So wird eine Mohnpuppe gemacht. Vielleicht bauschte Hannens Jacke aber nicht, und nur der ein wenig gebeugte Rücken verhalf zu dem Eindruck.

Wie sie das Mädchen ansah, schaute dieses in lauter Falten, die Hannens Gesicht in Längsstreifen und Querstreifen durchzogen, und mitten zwischen den Falten in ein paar zwinkernde, verständnisvolle Äuglein, die bald zärtlich, bald grimmig dreinschauten.

So, indem sie das Mädchen mit ihren zärtlich-grimmigen Augen anblickte und dazu verschmitzt lachte, fragte sie: »Is er so instande, daß ma ihm kann was von Schokolade und Wein aufs Wunschblatt schreiben?«

Das Mädchen lachte stolz und antwortete: »Ei jo! Der hat's in Mitteln.«

Nun sagte Hanne den Vers her, der unter das vermorschte Kränzlein gesetzt war, das an der Wand hing, und darin ein Haus von Zucker gewünscht wird und am Zuckerhäuschen eine Tür von Schokolade und ein Riegel in Gestalt einer Bratwurst und zu allem Guten noch eine Flasche Wein.

Und das Mädchen sagte erfreut und lachte glücklich: »Das is ampart (apart). Das wird ihm gefalle.«

Zuletzt lachten sie beide über den kostbaren Spruch, indem ihnen die Tränen über die Backen liefen. Denn der Nelkengeruch war stark und reizte, man konnte davon weinen und niesen. Und sie niesten beide und trockneten dann ihre Augen.

»Wo bist denn du zu Hause?« fragte Hanne.

»Wir sind von Räsch. Ich diene auch do-e. – Ich hab keinen mehr«, sagte sie. »Meine Leute, die sind alle tut.«

»Wie is denn dein Hausname?«

»Wir heißen Weidmann. Mit Rufnamen heiße ich Hulda.«

»Bist du epper die Tochter von Schrödters Zillan?«

»Meine Mutter hat so geheißen. Sie sagten als for der ihren Vater Schalluber. Das kam von Kartenspielen her; er hatte so ofte den Schellenober.«

»For deine Mutter«, sagte Hanne, »habe ich auch manch ein Kränzchen gemacht. Die war überall berühmt, die konnte überall hinkomm. Da an der Wand das Kränzchen, das hatte sie auch bei mich bestellt. Aber das ist mir verblieben. Dein Vater ist beim Bau zu Schaden gekomm. Das Gerüste brach, und er konnte nicht merre flüchten. Dabei hat er seine linke Hand eingebüßt. – Ach ich weiß das noch«, sagte Hanne, schloß das Kränzchen und schlang das rote Seidenband oben herum zu einer kleinen spröden Schleife mit widersetzlichen Enden. »Die Hand war ganz blau. Do-e hielt er die Hand in Kamillentee, und dann legte er ein Pflaster druffe, das hatte ihn deiner Mutter ihre Mutter gelehrt. Er hat sich dann oo noch laßt versehne (besprechen), eure Nachbarn hat ihm seine Hand verpust. Aber nachher hat er die Hand doch eingebüßt. – Ach, mit den Mann haben wir Fahrten gemacht! Du kannst nich drauf zurückdenken, du warscht damals noch klein.«

Das Mädchen saß mit gefalteten Händen, Hanne stand auf, trug die Tasse fort, auf der die Nelken gelegen hatten, und wischte aufs neue den Tisch ab zum Schreiben des Wunschverses. Da entfernte auch das Mädchen die Brotkrumen von seinem Mahl.

Ehe sie sich setzte, fragte Hanne: »Wie heißt denn dein Bursche?«

»Der heißt Reimund Görbert.«

Hanne drehte sich um, sah das Mädchen an und fragte kurz: »Is das der Görbert in Hasel, for den sie der Blecherne sagen? – Ach, das kann doch der nicht sein.«

Das Mädchen stand ebenfalls.

»Das is sein Vater gewasen, der is aber tut. Der Sohn hat ja auch sinnen aufgelegten Namen. Sie sagen Schnabbrack!« Einen Augenblick schwieg die alte Frau.

Dann sagte sie, und ihrer Stimme war anzuhören, daß sie ihren festen Entschluß kundtue: »Du kannst das Kränzchen nich kriege. For den Burschen mach ich kei Kränzchen. Der wird auch nicht besser sein, wie sein Vater war. – Deiner Mutter ihr Kränzchen«, sagte sie, »das da an der Wand hängt, das is for seinen Vater gewesen. Da war deine Mutter so alt, wie du itze bist. Wie lange is denn das her, daß sie gestorben ist?«

Das Mädchen, das mit den Händen über seine heißen Wangen strich, antwortete: »Das is acht Jahre her.« Es hatte die Augen niedergeschlagen vor Bangigkeit.

»Und dei Vater, der starb vier Jahre zuvor. Der war noch jung, wie der mit seinem Leben fertig war. Du bist nachen (nachher) ausgetan worden – gelle?«

»Jo-e, ich hab das aber nicht schlecht gehabt. Arbeiten muß ma ja, wenn ma untern Leuten is. Aber ich ha immer gute Behandlung gehabt. Freilich, man därf sich nicht stille hinsetze, man muß immer springen.« – Sie trat näher zur alten Hanne und sagte mit stoßender Stimme: »Ich muß ja häm, wollt Ihr mir nicht das Kränzchen fertig mache?«

Aber die reckte ihre verhutzelte, dürftige Gestalt und sagte scharf und giftig: »Ich habe dir gesagt, für den Burschen mach ich kee Kränzchen, daß du's ihm verehren sollst! Ich habe das Kränzchen da an der Wand for deine Mutter gemacht, die hat es deinen Burschen seinen Vater wollt bringe. Du siehst ja, es hängt noch immer do-e. – Die Stunde, die ich da mit deiner Mutter zugebracht habe, die bleibt mir merkwürdig mein ganzes Leben. Wie die da auf meiner Ofenbank hat gesessen und hat gedacht, der Herrgott hätte sie verlossen. Ist ihr ja nischt Besonders nich possiert. Das possiert ja mehr Mädchens. Aber ich nehme das nicht auf mich, daß ich dir oo tue dazu verhelfen.«

Sie wischte mit der Faust über ihren Mund.

»Deine Mutter«, sagte sie, »die war hier im Dienst, die hat manchesmal hier bei mich gesessen abends mit ihren Strickstrumpf oder mit ihren Spinnrad. Mein Franz – er is lange tot – mein Sohn, der hätte sie ja wohl gerne hämgeführt, aber sie wußte immer auszuweiche. Dann schüttete sie mir mal ihr Herze aus. Sie hätte ennen Schatz, sagte sie, aber es wäre noch nichts Festes. Und wie ich sie nun befragte, wer das wäre, da gestand sie das ein – daß das Reimund Görbert aus Hasel wäre. – Ich habe sie satt gewarnt, den sein Vater gibt das nicht zu. Wuferne du aber meinen Franz nimmst, habe ich gesagt, mein Schnure (Schwiegertochter) hat das mal gut, ich freß keine Menschen. Ach, sie war ja schmeichlerisch, deine Mutter, sie möcht's schunne bloß der Schwiegern wegen, sagte sie. Aber sie hätte dem andern nu mal ihr Herz geschenkt. Davon könnte sie nicht ablossen.

»Der alte Görbert tat nicht viel her, der saß feste drauf auf seinem Gelde. Und wenn der Bursche mal zum Tanze kam, da hat er sein Mädchen nicht sehr traktieren können. Ich dachte zuletzt auch, wie sie nich abließ: Immer leben kann der Alte ja nicht, und gegen Zilla'n kann keiner nischt einwende, fleißig is die. Und meinen Franz struierte (instruierte) ich, er müßte sich ergebe, sie wolle durchaus den andern haben. Sie war ja bloß Dienstmagd, und Görberts waren gar sehr vermögend; aber ich dachte for mich: Warum soll ihr das nicht glücken? Der kann keiner nichts anhängen.

»Der junge Mensch, der Reimund, kam balde fort zum Militär. Von da aus schrieb er ofte an sie. Mal paßte ihm däs nich, mal gäs (jenes). Das Essen wäre schlecht, und sie müßten hungern, hat er geschrieben. Da hat denn lieber sie gehungert. Die hat ihm Wurscht geschickt und Geld geschickt. Ich habe sie was geknecht (gescholten). Dafor hätte der doch seinen Vater, habe ich gesagt, daß der ihm was zuschickte. Aber ich hab's bald aufgegeben.«

»Ich pappre mal mit meiner Nachbarn vor der Türe und da spricht die for mich, Görberts Reimund wäre ja nu retour vom Militär; seinen Vater hätte der Schlag gerührt, aber nich sehre. Er hätte aber Druck dahinter gemacht, daß er seinen Jungen nicht mehr hergeben könnte. Und da kommt er auch schon die Straße rab, und Zilla, die kommt ebenfalls rab, aber die kommt vom andern Ende her. Und wir warten nune, er soll stehen bleiben und soll mit ihr reden. – Aber er tut nicht desgleichen. Er spricht keinen Ton. Er läuft an ihr vorbei mit der Forsche. Und meine Nachbarn sagt for mich: ›Das is doch aber ungezogen‹, sagt sie, ›so was macht ma doch nicht. Ist ihm denn das Mädchen nicht mehr gut satt?‹ – Und da gieht Zilla an uns vorbei und streicht mit ihren Händen über ihre Backen und dummt uns oo an. – ›Das ist aber wirklich wunderbar‹, sagt meine Nachbarn. Und ich sage: ›Der ist nicht gut zu Mute‹, sage ich. ›Die schamt sich. Der blut ihr Herze.‹

»Ja, das hat da angefangen zu bluten.

»Einen Sonntag is sie bei mich in der Stube und steht am Fenster und zielt (blickt) naus. Und da gieht er vorbei und bleibt stiehnich (stehen) und redt mit wem. Und zielt rein bei mich ins Fenster. – Er tat aber so wegwärts, als ob er gar nicht wüßte, wer das wäre, die da stände. – ›Laß den gieh‹, sage ich zu Zilla'n, ›der taugt nichts.‹ – ›Ach‹, spricht sie, ›ich sehe hinte so garschtg, er wird mich nich erkannt haben.‹ – ›No, dann geh naus und überzeuge dich‹, sag ich. – Sie ging auch. – Der nahm aber seine Beine in die Hand und luuf die Straße nab, was seine Schuhe aushalten wollten. Sie hat dann noch an ihn geschrieben, sie wollte ihn treffen, aber er hat keine Antwort gegeben.

»Einen Abend kommt sie bei mich, ich soll ihr e Kränzchen machen. Die Nelken hat sie schon eingequellt gehabt, das rote Band hatte sie auch schunn gekauft. Und dann suchte sie ennen Versch aus, denselben, den du dir hinte ausgesucht hast. – ›Für wen denn?‹ frage ich. – ›Für Reimund Görbert‹, sagt sie. – Ich spreche: ›Das wird dich gereuen. Der tut ja so wegwärts wie enne alte Flasche.‹ – Sie sagt: ›Da hunn sich welche eingemischt‹, sagt sie. ›So leichte muß man eins nicht preisgebe, und ich habe ihm alle Jahr zum Geburtstag sein Kränzchen verehrt.‹ – Ich mache dann das Kränzchen auch fertig, und wie ich aufkucke, da tropfen ihr die Tränen ganz dick aus den Augen. – Ich sage: ›Du weinst ja gar!‹ – Sie sagt, das wäre von den Nelken, die riechten so scharf. – Aber ich spreche: ›Mir machst du keine Lügen weis.‹

»Ich habe das Kränzchen aber doch gemacht und den Spruch geschrieben. –

»Wie ich den aber drunter will feste machen, kommt meine Nachbarn und sagt: ›Weißt denn du schon, daß Görberts Reimund aus Hasel e Schelm is?‹ – ›Wie denn?‹ sage ich. – ›Ach,‹ sagt sie, ›mit Müllers Beaten. Gestern war Tanz in Hasel, aber da hat sich kee Mädchen von ihm laßt anpacke. Er wird sie schon heiraten, die ist nicht arm.‹

»Meine Zilla tat ganz still und ging heim. Ihr Kränzchen hat sie aber nicht mitgenommen. Indessen am andern Tag zu Mittge (Mittag) kam sie daher gesprungen und wollte es holen. Und das Fenster stand grade auf, und sie stand davor und betrachtete das Kränzchen. Sie sah mal gelb, mal weiß.

»Da pfeift drußßen wer. Da steht Görberts Reimund drußßen und pfeift, sie soll mal hinkommen.

»Sie is gleich zwei- und dreifach nausgesprungen, wie sie's hörte. Und da hat er ihr gesagt, mittelwent (mitten) auf der Gasse, er wäre mit Müllers Beaten aufgeboten, und sie sollte keinen Skandal drum machen. Mit ihr, hat er gesagt, daß er sie heiraten dürfte, da würde sein Vater nie die Einwilligung geben.

»Ich habe sie wieder in die Stube geholt, und da hat sie grade rausgeschreit und hat die Hände gepatscht und konnte sich nicht zufriedgen. Und ich dachte: Wird denn das nicht balde aufhören, das Geschreie, das halt ich ja nicht aus. Aber ich habe noch ganz anderes aushalten müssen.

»Sie wurde mit der Zeit ganz still. Ihre Augen hatte sie bloß e Linzchen (ein bißchen) auf, aber nicht sehre, und pappern tat sie gar nicht. Sie stierte egal vor sich hin und sprach keine Silbe. Ach, meine Knie waren so zittrig, ich habe nicht kniebeln könn, und ich habe nicht laufen könn. Da hängte ich das Kränzchen derweile an die Wand, und da ist's hängen geblieben.

»Bockners Ida, wo sie diente, die kam, sie sollte häm kommen. Die war nicht schlecht. Zilla mußte ihr immer das weiße Haar ausreefe, die wollte keine weißen Haare haben. Aber meine Zilla stand nicht auf. Die saß da wie ein gemaltes Bild und stierte runter und sprach keine Silbe. Nachher kam auch der Mann gesprungen und sagte: ›Wo bleibt ihr, ihr Weibsen? Die Kuh, die heckt (kalbt). Kommt, kommt! Geht e bißchen zur Hand.‹ –

»Da stand sie auf und ging heim und machte ihre Arbeit.

»E paar Tage später hatten wir Spinnstube bei meiner Nachbarn. Und Nachtwächters Emmeline sagte, Zilla wäre itze drüber naus. Ich sagte: ›Das weßß ich besser.‹ Und Bockners Ida sagte: ›Die gefällt mir gar nicht. Die paßt nicht mehr for die Welt.‹

»Damals kam alle Jahre zweimal en Mann hierher, der heilte alle Krankheiten mit Sympethiekuren. Und der kam den einen Tag auf meinen Hof und lockerte ennen Stein in der Hofmauer und schiebte was rein, und nachen machte er wieder zu und ging weg.

»Wie es Abend war, pocht eins an, und der Mann kam in meine Stube und sagte: ›Ich komm bei euch rein, ihr Leute,, daß ihr nicht denkt, ich habe euer Vieh, verhext.‹ – ›Ich kann mir schon denken, Mann‹, sagte ich, ›was Sie gemacht haben.‹ – Do-e setzte er sich auf die Ofenbank und sagte: ›Ich will gerne was dafür tun.‹ – ›Mann,‹ sagte ich, ›hier ist ein junges Mädchen, mit der ist das nicht mehr richtig; wenn Sie der doch helfen könnten.‹ – Da bin ich hin und habe sie geholt.

»Er hat ihr was zum Einnehmen gegeben. Aber geholfen hat das nicht. Ein paar Tage später haben sie ihr die Hände gebunden und haben sie fortgefahren. Das ganze Dorf war auf'n Beinen, so hat die geschrien.

»Mit der Zeit wurde sie koriert, und sie is dann nach Leipzig, hat da aber keinen Dienst gekriegt. Nachen hat sie sich ins Vogtland gehalten, und da ist sie auch gut angekommen. »Damals starb mein Mann, und ein Jahr dernach haben wir meinen Franz hinterhergetragen auf'n Gottsacker. Mein Berthold ging noch zur Schule, itze habe ich den auch schunn hergeben müssen und seine Fraue auch. Mir ist bloß noch das Kind verblieben.

»Da kommt Zilla wieder. Sie sah andersch als wie sonst. Sie hatte so'n geschlagenes Gesichte gekriegt. Und da erzählte sie, wie ihr's gegangen war. Und da fingen ihre Tränen an zu laufen. ›Ach, Hanne!‹ machte sie immer. ›Ich muß doch sieh, daß ich mich andersch wende‹, sagte sie. ›Ich kann den nicht vergasse.‹

»Da war en Bursche, den sie in ihrem Dienst hatte kennengelernt, er war Zimmermann und hatte sie in sein Herze eingeschlossen und wollte sie heiraten. Er war aus Räsch gebürtig. Und da ist er wieder hin, und die Hochzg (Hochzeit) hat auch stattgefunden.

»Wir haben immer gedacht, wir müssen sie wieder ins Irrenhaus zurückeschaffen. Aber dann bist du zur Welt gekommen, und das hat sie abgelenkt. Dein Vater war gar ein guter Mann, der hat ihr viel nachgesieh. Glücklich ist der aber nicht gewesen. Die war nicht mehr for die Welt.« Die alte Frau wischte noch einmal über den Tisch, setzte sich, zog das Tintenfläschchen heran, korkte auf und rückte das Papier. Dann rechnete sie ihre Linien aus, schnitt das Papier rund nach der Form des Kränzchens, das sie weit zurück auf den Tisch schob, und fing an, ihre Buchstaben zu malen.

Das Mädchen hatte sich auch wieder gesetzt. Es hatte aufrecht mit gesenkten Blicken vor der Frau gestanden; jetzt saß es am Tisch, mit dem Kopf in der aufgestemmten Hand, und die Hand verdeckte die Augen und das halbe Gesicht. Man hörte das Kratzen der Feder, die sorgfältig ungelenke Buchstaben malte. Hanne schrieb, mit aller Andacht. Kein schwerer Atemzug hob die Brust der alten Frau. Aber sie hörte das Mädchen leise seufzen, und dann bemerkte sie auch, daß es sein Taschentuch hervorzog und seine Augen trocknete.

Daß der Vater ihres Burschen das Unglück ihrer Mutter verschuldet hatte, ängstigte das Mädchen wohl, aber es weinte doch um eigenes Leid.

Was die alte Hanne erzählt hatte aus dem Leben der Mutter, das hätte sie ebensowohl aus dem Leben der Tochter erzählen können. Man hatte Hulda auch gewarnt: Der nimmt dich nicht! Der war auch beim Militär gewesen, und es hatte ihm »däs und gäs« nicht gepaßt! Der war auch zurückgekommen und kannte sein Mädchen nicht mehr!

Und sie hatte gedacht, wie ihre Mutter gedacht hatte: Da haben sich welche eingemischt, hatte ihn bestellt, und er hatte sie vergeblich auf sein Kommen warten lassen.

Zuletzt hatte sie gehört, da ist eine Frau, die Nelkenkränzchen macht – und war hergekommen, um sich einen Glückwunsch schreiben zu lassen. Sie hoffte, der Bursch werde sich ihrer Liebe noch erbarmen, denn sie konnte ihn nicht aus ihrem Herzen reißen.

Vor dem offenen Fenster fing das Küchenhuhn wieder an zu singen.

Das Gesicht der alten Hanne erstrahlte, und sie schrie grimmig: »Du denkst immer bloß ans Futterhole, aber deine Gackeier, da wärsch dir recht, wenn die e andrer legte« – holte aber doch ein paar Brotkrumen und streute sie zum Fenster hinaus.

Dabei sah sie, wie das Mädchen aufrecht am Tisch saß und mit einem sonderbaren, stillen Blick vor sich niederschaute.

Als Hanne sich wieder setzte, sah das Mädchen auf, bückte den Kopf nach dem Glückwunschblatt vor und sagte erschreckt und ängstlich: »Ihr schreibt ennen falschen Spruch. Wir hatten doch den andern ausgesucht.«

»Der Versch is richtig«, antwortete Hanne kurz und las vor:

»Heute, zum Geburtstagsfeste,
Wünsch ich Sie das allerbeste,
Glück, Gesundheit, langes Leben,
Das möge Sie unser Herrgott geben,
Zufriedenheit und recht viel Moos,
Das streu Ihr Gott in Ihren Schoß.

Den hat sich das Mädchen ausgesucht, die sich das Kränzchen bestellt hat«, sagte sie. »Der soll for ihre Dienstfraue.«

Und Hulda stammelte: »Ich ha gedacht – ach, mein Gott! – Ich muß ja doch heim.«

Hanne antwortete: »Ich halt dich nicht feste. Freilich werden dich deine Leute nicht sehr gut empfangen, wenn du so lange ausbleibst.«

»Aber wir hatten ja doch ausgemacht, daß ich das Kränzchen –«

Hanne stand auf und sagte: »For den Burschen, da mach ich keins.« Sie räumte, während sie es sagte, ihre Schreibgeräte fort und legte das fertige Kränzchen in den Tischkasten.

Als sie dann ihre Augen erhob und das Mädchen noch immer auf seinem Platz erblickte, reckte sie ihre verhutzelte Gestalt kerzengerade empor, hielt die Arme straff zu beiden Seiten und wiederholte mit erhobener Stimme: »For den Burschen mach ich kee Kränzchen. Wenn du ihm aber dennoch eins willst bringen«, und sie wies mit gerecktem Arm steif und drohend auf das Kränzchen an der Wand, »da magst du jen's nehmen.«

Sie ging hin, hakte das Kränzchen vom Nagel und brachte es daher. Mit dem Ärmel wischte sie den Staub ab. Dabei zerkrümelten Nelken und Gewürzkörner und rieselten zur Erde. Das Kränzchen zeigte nun große Lücken.

Hulda hatte den Korb aufgenommen und streifte die Korbbänder über die Achseln. Ihre Wangen glühten, die Augen hielt sie zu Boden geschlagen, um den Mund lag ein Zug hilfloser Erwartung. Sie stand zögernd an der Tür, den Drücker schon in der Hand.

Da hielt ihr Hanne das Kränzchen hin.

»Das bringe du nur deinem Burschen«, sagte sie. »Das hat deine Mutter dahier gelossen, wie sie narrsch geworden is. Da hast du Anspruch druffe uf das Kränzchen.«

Mit dem Kränzchen in der Hand ging Hulda aus der Tür. Hanne sah sie im Sonnenschein am Fenster vorübergehen in der blonden Pracht ihrer zwanzig Jahre.

 

Sie steckten Brot und Wurst in die Tasche. Hanne gürtete den Jungen mit einem Strick, an den sie vorn ein Töpfchen mit einband. Sie selbst befestigte ihr Töpfchen mit dem Schürzenband, nahm die Gießkanne und schloß die Haustür zu.

Und nun gingen sie nebeneinander über die Saalwiesen.

Sie trugen alte Schuhe an ihren nackten Füßen. Der Junge hatte sein verschossenes Hütchen aufgesetzt, Hanne hatte ein Tuch rund, so daß die Ohren freiblieben, um ihren eisgrauen Kopf gebunden. Ihr Rock war geflickt, auch die blaue, fahle Schürze zeigte Flicken und Stopfflecke.

Da der Tag schön war, zog der Junge sein Jäckchen aus, das er unter den Arm klemmte.

Darüber schalt Hanne.

Der Junge drehte den Kopf ein wenig schief, lachte sie an und begann zu pfeifen. Es klang fein und nett, wie er zierlich seine Melodie einhielt, und Hanne lauschte ihm mit stiller Freude.

Sie liefen tüchtig. Hanne trug die Gießkanne wie einen Korb am Arm und bückte den Rücken, als ob sie einen schweren Wagen hinter sich herziehe. Der Junge ging nebenher mit seinem leichten Kindergang.

So kamen sie über die Saalbrücke und stiegen in die Berge. Hanne hielt eine Art Pfad inne, aber der Junge lief steil am Berge empor, indem er in das Heidekraut und Gestrüpp faßte und sich an den Fichten hielt, die hier noch vereinzelt standen.

Auf der Berghöhe angelangt, warf er sich nieder, so daß er auf dem Bauch zu liegen kam, schob das Hütchen in den Nacken und rief nach seiner Großmutter.

Er rief: »Hanne!«

Sie schrie zurück: »Ich komm schunne. Ich will dir schunn deine Verpflegung zuteil werden lassen. Du sollst nich Hanne sprechen.«

Er aber rief weiter: »Hanne, lernst du mir itze balde das Kränzchenmachen? Daß ich oo kann Kränzchen machen?«

Sie antwortete: »Erscht mußt du doch in die Schule.«

»Nachher lernst du mir's aber dann«, sagte er.

Er erschaute sie nun schon, wie sie heraufkam, die Gießkanne für die Beeren am Arm, in der andern Hand einen Baumzacken als Stock zum Stützen. Und da kugelte er sich auf den Rücken und zog die Füße heran.

»Großemutter«, sagte er, »wenn ich groß bin, da werde ich Dreher.«

Hanne antwortete sogleich: »Das wirst du unterlosse.«

»Ich gieh doch in die Fabrike, und do-e drehe ich Kapseln«, sagte der Junge. »Wie sehen denn die Kapseln, Großemutter?«

Hanne hielt ein wenig inne.

»Das weßßt du doch, du dummer Schnabel, wie die sehen. Die sind rund. In die Kapseln da stellen sie die Töpfchen und Täßchen nein. Die kommen in den Brennofen, die Kapseln. Die türmen sie da auf, immer eine oben auf die andere druffe, bis ganz hoch, und darneben stellen sie wieder welche, das sind richtige Säulen, die sie da aufbauen.«

»Vater hat auch Kapseln gemacht – gelle?«

»Dein Großvater auch. Komm! Komm!«

Sie war schon ein Ende vorauf, ehe der Junge aufsprang und hinterherlief.

Sie gingen durch die ganz dichte Heide auf dem Kamm des Berges dahin. Bald kam dann eine Senkung und dann wieder eine Steigung, und dann klaffte ein Riß und verlängerte ihnen den Weg.

Als der Riß umgangen war, senkte sich der Berg, und sie mußten tief hinab, und als sie hinab waren, mußten sie abermals steigen.

Dabei kamen sie auf eine kleine Blöße und fanden Heidelbeerkraut.

Nun lief der Junge und naschte, und Hanne schimpfte, ging krumm dahin und pflückte und schüttete die Beeren dem Jungen in das Töpfchen.

»Wenn du deinen Spielvogel kriegst, da werden wir nichts erschaffe, da brauchen wir nicht erst hin zum Vogelschießen.«

Das half.

»Hanne …«, sagte er.

Aber sie unterbrach ihn grimmig: »Du sprichst Großemutter, oder ich leg dich hin und verpusch dich.«

Da sagte er: »Großemutter, wir gehen aber auf die Reitbahn, und ich setze mich auf das ganz große Pferd, und du tust dich auf das kleine Pferd setze. In die Kutsche kauz ich mich nicht. Und nachen kaufst du mir ennen Spazierstock.«

»Da zieh ich dir gleich eins mit über«, gab sie zur Antwort, »jo-e, das tu ich.«

»Eine Uhr tust du mir auch kaufen.«

»Ja, ich kauf dir enne Turmuhr, enne ganze große.«

Er naschte nun seine Heidelbeeren aus dem Töpfchen. Darüber erreichten sie einen Schlag, der mit Mahlbeerkraut bedeckt war, und fingen an, einzusammeln. Hanne hatte das Jäckchen des Jungen in ihren Schürzengurt mit eingebunden, und der Junge lief emsig und pflückte mit seinen kleinen Fingern.

»Du mußt alle zupfen«, drohte die Großmutter, »du mußt nicht bloß die großen abzupfen.«

»Ich zupf bloß die dicken«, sagte der Junge. – »Großemutter, enne Rostwurscht muß ich auch haben, die mußt du mir auch kaufen.«

»Ach, du denkst, das geht alles nach deinen Willen«, sagte die Alte. »Das kann nich immer so geschieh, wie du dir das denkst. Ja, enne Rostwurscht kauf ich dir.«

Und nun pflückten sie emsig und gingen gebückt zwischen dem grünen Kraut dahin, der Junge mit seinen nackten Ärmchen und den kurzen, weißen Hemdärmeln und Hanne in ihrer rostbraunen Barchentjacke mit dem ungeheuer langen Taillenabschnitt.

Die Sonne brannte heiß. Aber sie achteten dessen nicht und schritten weiter über die Halde und pflückten in ihre Töpfchen. Die Gießkanne, in die die Ernte eingesammelt wurde, stand oben am Wald. So konnten sie mit beiden Händen die roten Beeren zupfen.

Als die Halde abgesucht war, setzten sie sich hin, Hanne holte das Brot hervor, und sie aßen, in der einen Hand ein Stück Brot, in der andern ein wenig Wurst.

Dabei sagte der Junge: »Hanne, wenn ich groß bin, da tu ich dich heirate. Verpuschen tu ich dich nicht, du haust mich itze oo nich.«

»Seine Großemutter«, erwiderte Hanne, »die kann ma nich heiroten.«

»Ich tu dich aber heirote. Sonnabends da geb ich dir immer alles Geld, was ich heimbringe, wenn ich dann Dreher bin in der Fabrik.«

»Ach du wirst kee Dreher, tu mir das nicht an.«

»Der Vater und der Großvater, die sind auch Dreher gewasen, die Dreher verdienen gar viel Geld.«

»Die fangen balde an zu husten«, murmelte die Alte.

Jetzt hustete auch das Kind. Da nahm sie das Brot, das sie schon zum Munde gehoben hatte, und steckte es wieder in die Tasche. Sie saßen auf einer Erdstufe, ihre nackten Füße mit den schlechten Schuhen waren vorgestreckt und versanken im grünen, buschigen Kraut.

»Großemutter, kaufst du mir enne Uhr aufs Vogelschießen?«

Sie sagte: »Wir wollen weiter. Mach! Komm!«

Aber der Junge hatte dann seinen Spielvogel, kletterte mannshoch an den Bäumen empor und schoß Kugelbock, und Hanne mußte allein einsammeln.

Und dann kam das Kind dahergehuscht und flüsterte ihr etwas zu.

»Wie? Wie?« fragte Hanne.

Das Kind fürchtete sich.

»Da …«, sagte es und wies mit dem Finger.

Hanne reckte den langen, dürren Hals und erblickte ein junges Menschenkind, das unter den Bäumen lag und sich nicht regte. Als sie ganz nahe hinkam, sah sie freilich, wie der Körper von verstecktem, längst besänftigtem Schluchzen hin und wieder zuckte.

Das Mädchen hatte die Hände auf sein Gesicht gedeckt und lag auf den Händen. Der Korb stand daneben am Baum, und oben auf dem Korbtuch lag das Nelkenkränzchen. Aber der Draht war zerbrochen, und es hingen locker nur noch wenige Nelken daran. Das verblaßte Schleifchen war ganz zerknittert, und vom zermürbten gelben Papier mit dem launigen Glückwunschvers hatten sich Fetzen abgelöst und waren verlorengegangen.

Hanne sagte laut zum Kind: »Das is ja die Hulda, dummer Schnabel, die ruht en bißchen.« Und dann sagte sie weiter zu dem Mädchen, das erschreckt sich aufgesetzt hatte: »Du bist ja noch nicht häm! Deine Leute werden dich schlecht empfangen. So vertiefen muß ma sich nicht. Deine Mutter hatte sich auch zu sehre vertieft …«

Das Mädchen erhob sich. Der Kopf war ihm so wüst vom verzweifelten Weinen, daß es taumelte. Das ganze Gesicht war dick verschwollen.

Es war ein stilles Mädchen, das nicht viel Worte zu machen verstand.

Es rückte am Korb, band die Bruchstücke des Kränzchens vorsichtig in ein Tuch und deckte das Korbtuch darüber, alles mit sachten und doch festen Bewegungen.

Als es sich duckte und den Korb auf den Rücken nahm, sagte Hanne grimmig: »Was bist du denn nu gewillt zu tun?«

»Ich habe mich drein ergeben«, gab das Mädchen sanft zur Antwort. Aber die Tränen schossen wieder aus den Augen.

»Das ist ein Unglücke mit der Liebe«, sagte Hanne, »die kann einen so beschmeichle und bemache, und hinternach kommen die Wehtaten.«

Das Mädchen trocknete das Gesicht mit dem Zipfel der hellen Schürze und antwortete: »Jo-e, Ihr habt's besser. Ihr habt den klennen Jungen, da hat Euer Herze Genüge dran.«

Wie sie das sagte, ging mit dem Gesicht der Kränzchenfrau eine Veränderung vor, es wurde fahl und still. Und alle Falten zogen sich in die Länge. Alle die grimmigen Falten, die so frohen Muts erschienen, hatten sich in Falten tiefen Grams verwandelt.

»Mädchen«, sagte sie, »auf wie lange hab ich denn den noch? Sein Vater, der war Dreher, und sein Großvater, der war auch Dreher, und so immer weiter zurück, den Großvater sein Vater auch. Die Dreher sterben alle zeitig. Die fangen balde an zu husten. Meine sind alle tut, die ruhen alle auf'm Gottesacker. Ma weeß nicht, wie das den Herrgott poßt, ob er mich erst abruft, oder ob ich noch erst muß den Jungen hergebe. Su ist das.« Und sie senkte den Kopf. Der Junge stand daneben, den Mund ein wenig offen, die schwarzen Träumeraugen schräg zur Großmutter aufgeschlagen. Sein Gesicht lächelte.

»Du bleibst noch bei mich, Hanne«, sagte er bettelnd, »bis ich aus der Schule bin.«

Sie drohte steif mit krummem Finger und sagte grimmig:

»Poß auf, wenn ich die Rute hole … Du sollst nicht Hanne sprechen. Wo spricht ma denn Hanne zu seiner Großemutter.«

Er umfaßte sie.

»Du sterbst noch nicht, Großemutter«, schmeichelte er. »Du bleibst noch bei mich, bis ich aus der Schule komme.«

»Du bist noch nich drinne in der Schule, dummer Schnabel«, wehrte sie.

»No jo-e, da kannst du doch bei mich bleibe – da kannst du doch noch – noch e bißchen warten –«

»Da habe ich nichts bei zu wollen«, sagte sie dumpf, »das macht der liebe Gott nach seinem Willen, ob er dich erst will hole – oder ob er mich erst will hole.«

Das Kind fürchtete sich. Es wühlte den Kopf in ihre Röcke und weinte.

Hulda war marschfertig und wandte sich zum Gehen.

Als sie ein Endchen gegangen war, kreuzte ein Bergriß ihren Weg, und sie mußte weit daran entlang, ehe er so flach wurde, daß sie hinüber konnte. Sie kletterte hinab und jenseits wieder hinauf und ging dann wieder den ganzen Umweg zurück.

Und als sie hinüberblickte, woher sie gekommen war, sah sie drüben auf der schroffen Kante zwischen dem grünen »Mahlbeerkraut« die Kränzchenfrau mit ihrem Töpfchen am Taillenband und mit der Gießkanne am Arm.

Und sie hörte ein leises, hübsches Pfeifen, so eintönig fast, als ob die Grasmücke singt, aber auch so fein und lieb, und erschaute den kleinen Jungen, der hinter der Großmutter drein pilgerte mit seinen schlechten Schuhen auf den nackten Füßen, mit den kurzen, leuchtendweißen Hemdärmeln über den braunen, dünnen Armen.

Und er pfiff und pfiff und legte den Kopf auf die Seite und blinzelte mit seinen schwarzen Augen in das Geäst der Fichten, durch das die liebe Sonne schien.


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