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In einem kleinen thüringischen Bergstädtchen hatten sich zwei Schwestern angesiedelt, beide Fünfzigerinnen, die eine groß, schlank, braunhaarig, mit stolzem Gesichtsschnitt und aufrechter Körperhaltung, eine Frau Anna Gräditz, die andere, die unverheiratet geblieben war, mit schon ergrautem Haar und dem Hang, ein ganz klein wenig vornüber zu bücken. Diese beiden Damen hatten sich in halber Berghöhe eine bescheidene Villa erbaut, die schöne Aussicht hatte, und waren alle Tage zu erschauen, wie sie auf ihrer Bergstraße ohne Zwang spazierengingen. Rast machten sie gewöhnlich auf einer Bank dicht unter dem Walde, wo sie über das Wetter und die Beleuchtung sprachen und ihre Ansichten über Personen und Verhältnisse austauschten.
Das Schicksal war feindlich mit ihnen beiden umgegangen, der einen hatte es alle Blüten vom Baum gerissen, ehe sie sich zur Frucht hatten entwickeln können, der anderen hatte es alle Knospen zerdrückt.
Die Frau hatte in guter Ehe gelebt, hatte gesunde, liebenswürdige Kinder – es waren deren zwei gewesen – und eine auskömmliche Jahreseinnahme besessen. Der große Würger Tod hatte den Mann und die Kinder umgebracht, während zu gleicher Zeit sich äußere Verluste eingestellt hatten, die sich bitter bemerkbar machten.
Die Schwester hatte ein ganz anderes Schicksal gehabt. Sie war zeitig in den Bannkreis alter Leute geraten, die ein Talent in ihr entdeckt hatten, den Wünschen anderer den Vortritt zu lassen. Um dieses Talentes willen hatten sie sie festgehalten bis an ihr Lebensende und hatten sie mit Beifall verwöhnt wegen ihrer Tugenden in Wirtschaft und Krankenpflege. Dumm! dumm! ein paarmal war das Barrierchen, das das Mädchen draußen vom bunten raschen Leben trennte, doch ganz niedrig gewesen, und sie hätte den Sprung hinüber dreist wagen dürfen. Es hatte sich jedesmal um eine Heirat gehandelt. Aber der Sprung war immer unterblieben wegen peinvoller Vorherberechnung möglicher Unglücksfälle, die ihre Altchen aufgestellt hatten. Sie hatte auch keinen Funken Roheit in sich gehabt, derb ihre Ansicht herauszusagen und nach ihrem Willen zu verfahren.
Als die Altchen gestorben waren, fanden die beiden Schwestern den Zusammenschluß, bauten ihr kleines Haus, gingen spazieren, saßen auf der Bank unter dem Walde und tauschten ihre Ansichten aus.
Aber sie stießen immer gegen die Trümmer ihres vergangenen Lebens. Das wurde mit der Zeit eintönig und Gesundheit mordend.
Da begann das Fräulein eines Tages von der Kindheit zu sprechen, die voller Freiheiten gewesen war. Die Mutter, eine schalkhafte Frau, hatte ihren kleinen Töchtern Beinamen gemäß ihren Gaben gegeben. Die ältere (die unverheiratet geblieben war) hatte sie beispielsweise das Renneböhmchen genannt, wegen der windspielgleichen Schnelligkeit ihrer Füße. Späterhin, mit zehn oder zwölf Jahren, war aus dem Renneböhmchen dann das Genie geworden. Denn es war ganz merkwürdig gewesen, wie rasch das Kind erfaßt hatte und sich zurechtgefunden hatte mit aufgewecktem Geiste.
Das jüngere Töchterchen (das nun verwitwet war) war das Jaköble benamset worden, weil es voller kleiner köstlicher Schlauheiten und Umtriebe gesteckt hatte.
Als die beiden Damen von ihrer Kindheit sprachen, fielen ihnen diese kleinen Beinamen ein, sie gebrauchten sie und lächelten dazu ein wenig – eine über die andere. Was hatte aber auch das Schicksal gemacht! – es hatte das Genie so lange im Rundgang in der Enge gehalten, bis der wache Geist eingeschlafen war, und hatte dem Jaköble alle köstlichen Schlauheiten abgestreift. Das Jaköble war eine herbe Frau geworden und das Renneböhmchen ein altes, müdes Fräulein ohne Überblick.
Sie nahmen in der Folge die Beinamen ein wenig in Gebrauch, nicht zu jeder Anrede, aber doch ab und zu einmal, wie man es mit seltenen Spielzeugen tut. Dadurch wurde ihre Kindheit in ihnen wach mit hundert Untergedanken. Diese Untergedanken sprachen sich nicht aus, aber sie wirkten als Beleber und Schuttwegräumer. Sie machten mit der Zeit aus der herben Frau wieder das Jaköble und rüttelten die zerfahrenden Gedanken des Fräuleins wach, so daß das Genie ein wenig zum Vorschein kam. Ohne daß sie sich dessen recht bewußt wurden, spielten schließlich die beiden Schwestern dem Schicksal einen Streich, indem sie Grabsteine auf ihre vergangenen Jahre wälzten. Nun lag die Landschaft ihres Lebens klar vor ihnen, und sie konnten sich darin ergehen, wie sie wollten. So klar war ihr Ausblick selbst in ihren jungen Tagen nicht gewesen, wo allerlei kühne, künstliche, trügerische Aufstiege den Blick verengt hatten, bis dann das Schicksal damit aufgeräumt und an Stelle der bunten Wunsch- und Hoffnungskulissen seine Galgenberge aufgebaut hatte.
Es war erstaunlich, wieviel Verbindungen die Schwestern zu ihrer Kindheit fanden. Sie traten den Weg ganz fest, so oft gingen sie ihn. Und sie verpflanzten allerlei von jener Zeit in ihre jetzige Zeit. Sie wurden ganz jung und zum Lachen aufgelegt.
Das ist etwas Schnurriges, wenn reife Menschen jung werden – was ihnen da alles für Kräfte erblühen, die dem Genuß ihrer Tage dienen. Das Auge verschärft und verfeinert sich in Wahrnehmung aller möglichen Schönheiten, und der Geist ist alleweile zur Heranschaffung neuer kleiner Freuden bereit. Wunderbar ist es, diesem Vorgang zuzusehen.
»Man muß das Leben nicht allzuschwer nehmen«, sagte das Jaköble eines Tages, »sonst wird es zum Totdrücker. Wenn man nachts wach liegt – ich habe es erfahren – kommt es wie ein Alp mit hörbaren Schritten von der Tür zum Bett getreten, wälzt sich auf die Brust und engt den Atem ein.« Die Schwester entgegnete: »Auch dem Schicksal an sich sollte man nicht allzu große Zugeständnisse machen. Es steht da mit einem neuen Wehleidspacken, den es abgeben soll. – ›Legen Sie nur hin‹, sollte man ihm sagen – ›im übrigen ist dort die Tür. – Avanti! (Vorwärts) –‹. Man sollte es einfach hinausweisen.«
Schnurrig! schnurrig! die kleine, ganz bescheidene Villa erhielt eines Tages einen äußeren Aufputz durch ein grünliches Bortchen, das reizend aussah. Sodann wurde ein allerliebster Verandaplatz angelegt und mit hellen Möbelchen ausstaffiert. Innen im Hause selbst mußten die gesamten alltäglichen Farben weichen vor lieben, fröhlichen, feierlichen Sonntagsfarben.
So etwas auserlesen Ulkiges wie diese beiden Schwestern! Ihre bunten Gärten sind ihnen zertreten worden, ihr Herz ist mit Seufzern angefüllt worden bis zum Rande, so daß sie das letzte Drittel ihres Lebensweges in Trauergewändern betreten haben, die sie nicht wieder abzulegen gedachten – – und nun machen sie plötzlich kehrt, gehen ihr Leben zurück, suchen nach Hilfskräften, um ihre Tage froher zu gestalten, finden da etwas unter dem Schutt, das die Grenze seines Wachstums noch nicht erreicht hat, legen es frei und pflegen es. Sie putzen an ihrem Hause umher, auch an sich selbst, suchen Bekanntschaften nach, empfangen Gäste, und man hört sie auf ihrer Bergstraße fröhlich plaudern und lachen – – – fröhlich plaudern und lachen – – –.