Egid v. Filek
Ein Narr des Herzens
Egid v. Filek

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Es waren bange, traurige Zeiten, die nun kamen. Endlose Nächte im Krankenzimmer, das mit dem scharfen Geruch starker Arzneien erfüllt und von einem matten Öllämpchen, einem Totenlicht gleich, dämmerig erhellt war; bittere Stunden, in denen sich die Eltern mit Selbstvorwürfen quälten, ohne zu begreifen, was den Sohn zu dem furchtbaren Entschluß gebracht hatte.

Aber einstweilen war keine Zeit, zu fragen und zu untersuchen.

Der Arzt, den Berghof zum Glück zu Hause getroffen und mitgebracht hatte, schüttelte den Kopf. Die großen Adern am Handgelenk waren durchschnitten, und wenn nicht das geronnene Blut die Öffnung zum Teil verstopft hätte, so wäre jede Hilfe zu spät gekommen.

Regungslos lag er in den Kissen; sein schmales Gesicht unterschied sich kaum in der Farbe von ihnen, so blutleer und weiß erschien es. 269

»Er wird die sorgfältigste Pflege brauchen, Frau Oberverwalter,« sagte der Arzt bedeutsam zu der Mutter.

Und das waren Lebensworte für sie; sie weckten in ihr jenes tiefe Erbarmen mit den Hilflosen, den Kindern und Kranken, das in der Brust auch der einfachsten Frau schlummert. Und das war es, was hier zunächst Not tat. Tag und Nacht wich sie nicht von ihm, die warmen Hände um das matte Lebenslicht haltend, das jeden Augenblick zu verlöschen drohte.

Und sie hatte Muße genug dazu, denn es war gar einsam und still geworden in Lindenburg. Frau Neuberg war mit dem Brautpaar abgereist. Daisy, durch die letzten Ereignisse arg erschreckt, fand keine Ruhe mehr, solange die Türme des Schlosses vor ihren Augen standen. Nun war Frau Anna wieder allein in den weiten Räumen, nur die alte Försterin kam täglich und erkundigte sich nach dem Befinden des Kranken, und weil der Arzt keine Blumen im Krankenzimmer duldete, brachte sie ganze Arme voll frischgebrochener Tannenzweige mit.

Berghof war tief erschüttert durch den 270 unerwarteten Schlag, der ihn so plötzlich getroffen hatte. Er begriff, daß in jener furchtbaren Stunde, da Georg Hand an sich gelegt, auch sein Erziehungssystem zusammengebrochen war. Das Kind, das er zu beherrschen geglaubt wie irgendeinen aus der großen Zahl seiner willenlosen Untergebenen, war plötzlich zum Mann geworden, der den Tod einem Dasein vorzog, das nicht nach seinem Sinne war – das erschreckte und ängstigte ihn. Und wieder beschlich ihn eine Art von Furcht vor dem eigenen Kinde, das seiner Hand entglitt, das sich selbst eine Zukunft bauen wollte. Und er gelobte sich, ihm nie wieder entgegenzutreten, ihm seinen Willen zu lassen.

In dieser Stimmung schrieb er seinem Bruder nach Wien, als der Arzt nach einigen bangen Tagen die größte Gefahr für überstanden erklärt hatte. Einen seltsamen, verworrenen Brief, ganz verschieden von seinen sonstigen trockenen, fachlichen Schreiben. Schonend berichtete er über das Unglück, sprach von der beginnenden Besserung im Befinden des Kranken, der sich sehr nach einem Wiedersehen mit dem Onkel sehne – und deutlich stand zwischen den Zeilen zu lesen, wie gern er 271 die fernere Leitung Georgs in die Hände Heinrichs legen wolle. Und so war denn auch die Antwort des Bruders in auffallend herzlichem Ton gehalten, so sehr ihn auch die Tat des armen Jungen erschüttert hatte. In der nächsten Zeit konnte er vom Dienst nicht abkommen, aber er versprach seinen Besuch nach einigen Wochen. Und es klang wie mühsam verhaltene Freude aus dem Briefe – dem längsten, den Heinrich je an seinen Bruder gerichtet hatte.

Das war ein Trost für Berghof. Mit neuer Kraft stürzte er sich wieder in seine Arbeit. Der Spätherbst kam – die großen Abschlußrechnungen, die Ende des Jahres zu legen waren, mußten vorbereitet werden, und wieder begann das Getriebe in der Kanzlei, das die Herbstzeit unterbrochen hatte.

Und nun ging es auch besser mit Georg. Einige Stunden täglich durfte er schon im Lehnstuhl sitzen. Und in das blasse Gesicht kam wieder etwas Farbe. Am wohlsten war ihm, wenn er einen Brief des Onkels erhielt, der ihm jetzt fast täglich schrieb.

Draußen heulte der Sturm um die trotzigen Mauern des Schlosses, riß die Schindeln von 272 den Dächern und die letzten Blätter von den Bäumen des Parks. Die Mutter machte sich im Krankenzimmer zu schaffen, legte ein paar mächtige Holzscheite in den Ofen und schob Georg das Kissen unter dem Nacken zurecht.

Das Zimmer war erfüllt vom Duft frischer Tannenreiser. Treff, der während der Krankheit seines jungen Herrn beständig neben dem Bett gelegen hatte, schüttelte seine mächtigen Glieder und tappte mit der Tatze auf den Arm des Lehnstuhls, in dem Georg saß.

Und als Frau Anna bemerkte, daß er leichter atmete und seine Augen freier blickten als sonst, tat sie endlich die Frage, die sie schon lange hatte stellen wollen: »Georg – sag mir nur, warum hast du uns das getan?«

Er schwieg und wandte den Kopf mit einem schmerzlichen Ausdruck zur Seite.

Endlich sagte er: »Frage nicht, Mutter. Du würdest mich nicht verstehen. Es gibt Dinge in uns, über die man nicht sprechen kann. Denke, es hätte mich irgendein Unglück getroffen, ein Freund auf der Jagd hätte mich zufällig schwer verwundet, oder sonst etwas dergleichen wäre geschehen. Und quäle mich nie, nie wieder mit dieser Frage – hörst du?« 273

Sie sah bekümmert auf den Sohn. Aber sie schwieg und fragte nicht weiter. Sie fühlte einen Willen, der nicht zu beugen war – und nach der Weise schwacher Naturen fügte sie sich dem Kinde, das ihr nun so plötzlich über den Kopf gewachsen war.

Denn auch mit Georg war eine große, tiefgreifende Veränderung vorgegangen.

Das Weiche, Haltlose, Verträumte in ihm begann zu verschwinden und machte einer ruhigen, selbstsichern Männlichkeit Platz. Und er zog festere Linien um seine Eigenart, er erkannte, was ihn von den andern unterschied. Und in dem Maße wie er seine Gefühlswelt umschloß und begrenzte, ward er auch gerechter gegen die Menschen seiner Umgebung; er begriff, wie Vater und Mutter, die er vordem mit dem Maßstab gemessen, den ihm das Herz, nicht der ruhig erwägende Kopf geliefert, eben auch Menschen waren wie andere, von den Verhältnissen, von der täglichen Umgebung, von den kleinen, unaufhörlich tätigen Kräften des Alltags geformt und gebildet und abgeschliffen, so wie der harte Felsen von Regen, Schnee und Wind modelliert wird, die ruhelos, Tag und Nacht hindurch seine Gestalt verändern. 274

So war jenes traurige Ereignis am Ende doch für alle zum Heil geworden. Es hatte sie aufgerüttelt aus dem Einerlei des Tages, ihnen die Augen geöffnet und Gefahren gezeigt, die sie sonst nie in ihrer wahren Gestalt gesehen und erkannt hätten.

Und als die ersten Fröste kamen und die kahlen, zum Himmel emporstarrenden Baumzweige mit dem glitzernd weißen Reif bedeckten, der in der klaren Morgensonne so prächtig funkelte, trat eines Tages Heinrich Berghof ins Zimmer – unangemeldet, unerwartet und darum desto freudiger begrüßt von den drei Menschen, denen er jetzt ganz anders gegenübertrat als vor wenigen Monaten.

Nach Tisch zogen sich die Eltern zurück, wie auf Verabredung, und Heinrich blieb allein mit Georg, dessen Wangen sich höher färbten in der Freude des Wiedersehens.

»Was mußt du durchgemacht haben, armer Junge,« sagte Heinrich und fuhr ihm flüchtig über den braunen Kopf. »Aber laß nur – ich denke immer, das alles hat eben so kommen müssen. Das sind die Schmerzen und Qualen des Reifenden, von den erfahrenen 275 Alten belächelt, und doch für den Jüngern groß und schwer genug, um sein Herz zu zermalmen.«

»Wie kommt es nur, Onkel, daß du das alles so gut verstehen und empfinden kannst – so ganz anders als Vater und Mutter? Du hast doch selbst keine Kinder.«

Heinrich blickte nachdenklich in den hellen Wintertag hinaus und verfolgte mit den Augen ein paar weiße Wölkchen, die über den beschneiten Wald hinsegelten. »Vielleicht deshalb, weil ich mich immer bemühte, Mensch zu bleiben – weil ich den Götzen nicht geopfert habe, die uns die Lebensfreude aus dem Herzen saugen – dem Erfolg, dem Reichtum, der Machtgier. Darum bin ich heute arm und einflußlos – aber mein Herz soll jung bleiben, so Gott will, auch wenn mein Haar grau wird. Aber was schwatzen wir von meiner höchst unbedeutenden Person – jetzt handelt es sich um deine Zukunft. Vor allem mußt du heraus aus dieser engen Umgebung. Hier siehst du ja doch nur alles aus der Froschperspektive – kleinlich und verzerrt, ohne Verhältnis zum Ganzen. Komm einmal für ein Jahr nach Wien, in meine Nähe. Mit den Eltern habe 276 ich schon gesprochen, sie sind einverstanden – der Vater schien sogar erfreut über meinen Vorschlag.«

Eine Wolke legte sich über Georgs Stirn. »Ja, Onkel, mit tausend Freuden würde ich mit dir gehen – aber, siehst du, es ist doch noch nicht alles klar in mir. Noch immer muß ich an jene Nacht denken, da ich erfuhr, daß der Vater mit Porges –«

Aber Heinrich wehrte lebhaft ab. »Laß das gut sein, Georg. Wie sich die Sache auch verhalten mag, du hast kein Recht, darüber zu richten. Und wenn es so wäre: laß das Vergangene vergangen sein. Wohin kämen wir, wenn wir Nachkommen alles, was die Voreltern getan oder unterlassen haben, als Ketten mit uns schleppen sollten. Nutze deine Kraft, schaffe dir selbst eine Existenz durch die unantastbare Arbeit deiner Hände, deines Geistes. Dann brauchst du die Schatten der Vergangenheit nicht zu fürchten.«

Georg sah ihn nachdenklich an: »Du hast recht, Onkel. Und wenn du mir helfen willst –«

»Gewiß will ich das, und wie gern, mein Junge!« 277

Er streckte ihm die Hand hin. Ein Strom von Freude erfüllte sein Herz. So war sein einsames Leben ja doch nicht verloren; die Schätze des Wissens, die er gesammelt, sie kamen einem Jüngern zugute, den sie fördern konnten auf der Bahn, die aufwärts führt. War das nicht tausendmal besser, als sich zu quälen mit Werken, zu denen Mut und Kraft ja doch nicht reichten?

Draußen sank die Sonne. Der Himmel war klar und stahlblau, und die roten Dächer des Dorfes flammten durch die reine Luft. Georg sah in die Landschaft hinaus. Und die Ereignisse der letzten Wochen schienen ihm wie ein böser, trüber Traum, aus dem er jetzt erst erwacht war.

»Also abgemacht, Georg, du kommst mit mir. In eine reiche, bunte Umgebung, voll von Anregung aller Art, will ich dich bringen, dir das Reich der Kunst zeigen, dir Bücher geben, kurz, dich fördern, wie ich kann. Dann erst sollst du frei und selbständig deinen Beruf wählen, und wenn du dich später doch zu dem des Vaters entschließest, wird er dir gewiß an die Hand gehen. Und zu Ostern, wo ich lange 278 Urlaub habe, machen wir eine Reise nach Venedig, Rom, Palermo – Junge, du weißt ja gar nicht, wie groß und schön die Welt ist und wie viele Heilmittel sie besitzt für unsere kleinen, armseligen Schmerzen!«

Und Georg lächelte und drückte wieder die Hand des Onkels.

»Siehst du,« sagte Heinrich leise, als fürchte er belauscht zu werden, »du bist durch die Schatten des Todes eingegangen zu einem neuen Leben. Und darum wirst du das Leben ernst nehmen – und schätzen nach seinem wahren Wert. Der Tod ist nicht als Feind zu dir gekommen, sondern als ernster Berater. Und seine Hand deutet hinaus ins Leben mit seinen tausend Emtwicklungsmöglichkeiten und läßt die Farben stärker und tiefer leuchten, wie die schwarzen Zypressen des Südens den herrlichen Himmel noch schöner machen«.

Georg blickte ihn dankbar an. »Manchmal ist mir zumute, als wärest du eigentlich mein Vater. Soviel hast du mir gegeben.« 279

Heinrich schüttelte den Kopf. »Vater – Sohn – was sagt uns das? Freunde laß uns sein, Georg. Das ist mehr, viel mehr. Denn zwischen uns ist Wahlverwandtschaft. Und auch ich bin ein solcher Narr des Herzens!«

 


 


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