Egid v. Filek
Ein Narr des Herzens
Egid v. Filek

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Es war welliges Hügelland, das man aus den Fenstern des großen, behaglichen Zimmers sah, wo Georg seine Kindheit zugebracht hatte; es waren wogende Kornfelder, die im Winde goldene Wellen schlugen, ein brauner Fluß mit vielen Windungen, eine einsame Ruine hoch auf dem steilen Rand des Ufers, und endlich die duftblaue Masse des fernen Waldes.

Auch konnte man einen Teil des Hofes überblicken und durch das geöffnete Scheunentor sehen, wo das Gesinde ein- und ausging, um Vorbereitungen für die Ernte zu treffen.

Die Mähmaschine wurde instand gesetzt. Zwei Mechaniker klopften und hämmerten an den Zahnrädern herum. Aus der Kanzlei des Oberverwalters kam ein Trupp neu angeworbener Arbeiter. Das Grünfutter für das Vieh, schon in der Kühle des Morgens eingebracht, wurde auf Schiebkarren in die Ställe geführt. Mägde stützten im Obstgarten die 43 Baumäste, die sich unter der Last der Sommeräpfel zur Erde neigten.

Berghof trat aus der Tür der Kanzlei. Ein Knecht führte ihm das Pferd aus dem Stall. Er gab den beiden Praktikanten einige Befehle und schwang sich in den Sattel, während die kleine Wetti das Hoftor öffnete.

Treff, der durchaus mitwollte, mußte am Halsband mit Gewalt zurückgehalten werden.

Berghof rief zu den Fenstern des ersten Stockes hinauf: »Willst du nicht mit mir kommen, Georg?«

»Heute nicht, Vater. Ich bin von gestern noch müde.«

Dröhnend schlug das Tor zu.

Der Oberverwalter begann seinen täglichen Ritt durch die Felder. Heute wollte er ihn bis zum Waldhof ausdehnen, wo seit drei Tagen ein neuer Schaffer angestellt war. Dieser unausgesetzten Beaufsichtigung aller Beamten und Dienstleute verdankte er den größten Teil seiner Erfolge auf der Herrschaft. Die strenge Ordnung, die er durchgeführt, erwarb ihm das unbegrenzte Vertrauen des Grafen. Das Gut trug von Jahr zu Jahr immer mehr, besonders seit der Errichtung der 44 großen Spiritusbrennerei, deren schlanker Kamin am Rand des Waldes in die Luft ragte.

Er sprengte durch das schmutzige Dorf. Eine Herde Gänse lief schreiend über die staubige Straße und duckte sich in den Graben. Hier und da zog ein Bauer respektvoll den Hut. Ein großer Teil der Jugend des Dorfes, Burschen wie Mädchen, arbeitete auf dem Gutshof. Berghof gab ihnen Brot und Verdienst.

Am Ende der langen Kirchhofmauer hockte ein junger Mensch. Jetzt trat er dem Reiter in den Weg.

»Was gibt's denn?« fragte dieser unwirsch.

Der andere zog mit einer bittenden Gebärde den Hut. Er war bis gestern Knecht auf der Herrschaft gewesen; Berghof hatte ihn plötzlich entlassen, weil er aus Nachlässigkeit den Kühen frisches Futter gegeben, so daß zwei der Tiere krank geworden waren.

»Aha, du willst deinen Posten wieder. Nein, ich kann dich nicht brauchen, Michel Kern. Habe Leute genug, die verläßlicher sind. Die Stelle ist schon besetzt.«

Michel begann zu betteln. »Herr, meine 45 Mutter ist krank, sie kann nichts mehr verdienen, Herr, ich . . .«

Berghof gab dem Pferd einen Schlag mit der Gerte und ritt, ohne ein Wort zu verlieren, weiter.

Bald war er in einer Staubwolke verschwunden. Der Knecht blickte ihm mit geballten Fäusten nach.

Draußen inmitten der großen Kornfelder ließ der Reiter das Pferd im Schritt gehen und wischte sich mit dem großen roten Taschentuch die Stirn.

Der kleine Zwischenfall mit dem Knecht hatte sein Blut doch ein wenig in Wallung gebracht. Es kostete ihn immer noch eine gewisse Überwindung, den Leuten so scharf entgegenzutreten. Er war von Natur nicht grausam. Aber dieser brüske Ton gehörte nach seiner Überzeugung nun einmal zum Amt. Man mußte nicht nur der Herr sein, sondern es auch zeigen.

Er zog einen Feldstecher hervor und richtete ihn nach den Wiesen am Waldrand, wo die Tagelöhnerinnen Heu rechten. Die dort vorne mit dem grellroten Kittel, die Justina, war erst seit acht Tagen im Dienst. Ein 46 tüchtiges Frauenzimmer. Ihre braunen, nackten Arme bewegten sich auf und nieder in regelmäßigem Takt. Was für starke Hüften sie hatte! Und dabei noch jung – noch nicht so abgerackert wie die andern, die drüben den Heuwagen beluden und ihre Arbeit wie Maschinen verrichteten.

Die Sonne stieg höher. Ihre sengende Glut trieb den keuchenden Menschen den Schweiß aus den Poren. Sie bissen die Zähne zusammen und arbeiteten weiter, rastlos, denn sie wußten, daß der strenge Herr sie beobachtete. Aber was sie trieben, war keine Arbeit mehr, es war ein Kampf der Erde mit ihren eigenen Geschöpfen, ein Ringen mit dem Boden und seinen Kräften; man zwang ihn nieder mit eiserner Faust, trieb ihm die scharfen Messer der Pflugschar in die Weichen und peitschte ihn auf mit grausamen Mitteln, mit jeder Art von List und Gewalt, damit er mehr und immer mehr geben sollte. Und jede Stunde des Tages ward ausgenützt, bis die Nacht ihren schwarzen Mantel schützend um die vor Erschöpfung zitternden Glieder der Erde schlug – und am nächsten Morgen begann aufs neue die 47 unermüdliche Arbeit. Und lockend winkte Nutzen, Vorteil, klingender Gewinn als Lohn der unendlichen Mühe.

Berghof liebte diesen Kampf. Er fühlte: noch war er nicht auf der Höhe, noch stieg die Linie seines Lebens aufwärts, noch freute ihn die Jagd nach den materiellen Gütern des Daseins. In den Jahren dieses heißen Ringens war er zum Mann geworden.

Er ritt auf die Wiese zu. Als die Weiber ihn kommen sahen, arbeiteten sie mit doppeltem Eifer. Ihnen gönnte er eher ein Wort des Beifalls, der Aufmunterung als den Männern. Das braune Gesicht der Justina färbte sich dunkler. Ein Seitenblick traf den großen, starken Mann, der wie aus Erz gegossen auf dem Pferd saß. –

Georg hatte dem Vater nachgesehen, bis er bei einer Biegung des Weges verschwand. Dann setzte er seinen Strohhut auf und stieg die ausgetretenen Stufen der breiten Treppe in den Vorsaal herab. Die hatte einst zu den großen Empfangsräumen geführt; dicke Teppiche hatten auf ihr gelegen, seidene Schleppen waren darüber gerauscht, damals, als hier noch ein glücklicheres Geschlecht 48 gelebt und jene reizenden Rokokofeste gefeiert hatte, von denen die schmelzenden Klarinetten Mozarts erzählen.

Aus der Milchkammer klang jetzt ein scharfer, metallischer Ton, immer höher anschwellend. Die Zentrifugen arbeiteten. Georg schritt über den Hof. Die Weiber liefen mit bloßen Füßen und hochgeschürzten Röcken aus dem Stall; rauschend floß die Milch aus den großen Kannen in die Vorratstrichter. Der Praktikant, Herr Neruda, stand neben der Stalltür und notierte den heutigen Milchertrag. Er kam sich sehr wichtig vor.

Der Vater hatte den Wunsch ausgesprochen, daß Georg die erste Zeit der Ferien das Getriebe auf dem Gutshof studieren und Einblick in die verwickelten Geschäfte der Ökonomie gewinnen sollte. So bereitete er ihn am besten auf die Hochschule vor.

Georg überschaute das bunte Bild von Geschäftigkeit, das sich ihm darbot. Herr Neruda erklärte ihm mit großer Umständlichkeit die Milchwirtschaft und unterließ dabei nicht, seine eigenen Verdienste um die Führung der Melktabellen ins richtige Licht zu 49 setzen. Georg nickte mechanisch dazu. Aber kein tieferes Interesse zog ihn nach dieser Welt der praktischen Arbeit. Sein ganzes Wesen neigte zur Betrachtung, zu nachdenklicher Geistesarbeit im stillen Zimmer. Das laute Schreien der Beamten und Schaffer, die Flüche der Knechte, das Keuchen der schwerbeladenen Mägde, die mit roten, schwitzenden Gesichtern die Milchkannen daherschleppten, der Geruch in den Kuhställen und Schweinekoben, das alles erfüllte ihn mit einem unbestimmten Gefühl der Abneigung.

Während Herr Neruda in die Kanzlei ging, um den Galaktometer zu holen, schlenderte Georg dem Park zu. Hier, in der tiefen Stille unter den großen Bäumen, wohin der Lärm des Wirtschaftshofes nicht drang, war ihm wohl.

Er betrachtete den mächtigen Stamm des alten Nußbaumes, in dessen Rinde er vor Jahren den Namen Daisy geschnitten hatte. Die Buchstaben waren kaum mehr zu erkennen; wie große Narben mit wulstigen Rändern sahen sie aus. Ein Bild aus der Kindheit tauchte vor ihm empor. An dieser Stelle hatte er oft neben Daisy gesessen, wenn 50 sie mit ihrem dünnen, sympathischen Kinderstimmchen kleine Volkslieder sang. Da lehnte er den Kopf an den Stamm und hörte zu, während er dem guten Treff das Fell kraute, der damals noch ein ganz kleines Hunderl mit plumpen Tatzen war. Auch versuchte er selbst zu singen, aber er traf weder Ton noch Melodie – so lernte er wenigstens die Texte auswendig und half ihr aus, wenn sie stecken blieb.

Das alles stand vor seinen Augen, so klar und deutlich, als sei es gestern geschehen, als müßte das putzige kleine Ding jetzt wieder wie damals aus dem Gebüsch herauskommen und ihn mit Verschwöreraugen verlocken, in die Stachelbeerhecke zu kriechen und ihr ein paar Taschen voll von den süßen Früchten zu holen. Damals hatten die beiden Mütter die Kinderfreundschaft begünstigt. Es gab in der Küche zu tun, die Kinder quälten soviel mit ihren Fragen; solange sie miteinander spielten, hatte man sie doch wenigstens vom Halse.

Und Georg dachte weiter an den Tag, da er mit dem Vater vor einem hochgewachsenen Mann im schwarzen Priesterkleid gestanden hatte – dem Leiter des geistlichen Pensionats. 51 Wenn er heute auf die acht Jahre zurückblickte, die er im Gottesfrieden der alten Klostermauern zugebracht, so erschienen sie ihm schön, trotz der harten Geistesarbeit. Auch in dem stillen Garten des Klosters, wo die Bäume fast so hoch und mächtig waren wie hier im heimatlichen Park, lag ein Stück der Kindheit. Murmelnd schritten die Zöglinge, Hefte und zerlesene Bücher in den Händen, die breiten Alleen auf und nieder. Die Zeit stand still; man lebte hier in der Vergangenheit. Da draußen, irgendwo in der Ferne, lag die Welt, die ewig unruhige, verzehrende, die uns das Mark aus den Knochen saugt im heißen Kampf um Geld und Erfolg. Hier aber lehnte man jeden Gedanken an Vorteil und Nutzen vornehm ab; der ruhige Ernst der Arbeit, der Reiz leidenschaftsloser Betrachtung, die das Studium um seiner selbst willen betreibt, zog alle bessern Elemente unter Lehrern und Schülern in seinen bestrickenden Bann, auch solche, die anfangs mit Widerstreben, nur dem Drängen der Eltern folgend, sich in die Anstalt hatten aufnehmen lassen.

Eine Spottdrossel ließ aus dem grünen Dämmer eines Baumes ihren Ruf ertönen. 52 Er sah empor; sie flatterte auf und flog von Ast zu Ast. Die Legende von dem Mönch zu Heisterbach fiel ihm ein, der tausend Jahre dem Sang des Vögleins gelauscht hatte; und jetzt zum ersten Male erfaßte er die tiefe Symbolik. Wer das könnte – alles, alles um sich her vergessen und sich versenken in die Zeiten der Vergangenheit, ohne an die arme, freudlose Gegenwart zu denken! Laß die Welt des Tages um dich herum weiter hasten und toben, laß deine Haare grau werden und deinen Körper verfallen. Steig in den kleinen Kahn und treib hinaus auf das weite, uferlose Meer des Wissens, das zu befahren so köstlich ist . . .

So hatte einst Pater Ignatius, sein Klassenlehrer, zu ihm gesprochen – ein stiller, weltfremder Mensch mit großen Träumeraugen, der den hübschen Knaben besonders in sein Herz geschlossen hatte. Und so war Georg Berghof aufgewachsen, ängstlich abgeschlossen von der Welt, erfüllt mit phantastischen Ideen über das Leben da draußen, das er nicht kannte.

Als er sich jetzt dem Teich näherte, an dessen Ufer zwischen vermoderten Weidenstümpfen das alte durchlöcherte Boot lag, hörte 53 er eine Stimme halblaut griechische Verse lesen.

Er trat überrascht näher.

Der Oheim lag auf dem dichten Moos, den Kopf in die Hand gestützt. Georg hob das Buch auf, das er vor sich liegen hatte. »Die Odyssee?« fragte er erstaunt.

»Warum nicht?« erwiderte Heinrich lächelnd. »Oder haben sie dir in der Schule den armen Homer so verekelt, daß du nicht begreifen magst, wie man ihn als reifer Mann lieben kann?«

»Nun ja, einer von den alten Lehrern ließ uns nur Präpositionen und Aoriste heraussieben. Aber Pater Ignatius hat uns doch oft auf die Schönheiten der Landschaftsbilder aufmerksam gemacht.«

Heinrich schüttelte den Kopf. »Auf der Schulbank habe ich den Homer auch nicht verstanden. Aber vor zwei Jahren hatte ich etwas Geld zusammengescharrt, nahm Urlaub und besuchte die Inseln des Ägäischen Meeres. Und wenn es dann Abend wurde, das Schiff draußen stillstand und wir in Ruderbooten an die Küste fuhren, wenn die Matrosen singend im Takt das graue Wasser schlugen und 54 Blumendüfte von der nahen Insel herüberwehten und die ambrosische Nacht aus dem Meere stieg wie zu den Zeiten des alten blinden Dichtergottes – da erst begriff ich die Odyssee!«

Georg hörte mit leuchtenden Augen zu. Und Heinrich, seltsam berührt von diesem andächtigen Lauschen, erzählte weiter und weiter. Seit Jahren hatte er seinen Urlaub zum größten Teil auf Reisen zugebracht und ein großes Stück der Welt gesehen; aber am meisten zog es ihn doch nach den Mittelmeerländern mit ihrer uralten Kultur, ihren märchenschönen Landschaften. Und wenn er begeistert von jenen Stätten sprach, weil er einen teilnehmenden Zuhörer vor sich sah, so wehte es aus seinen leisen Worten wie der Wind vom Meere, der durch die Palmen streicht.

Wohl hatte Georg oft genug von jenen Orten gehört, bei deren Klang die Seele des Kulturmenschen leise erzittert – Sparta, Athen, Delphi, Rom – Dichter hatten sie besungen, Maler in Bildern dargestellt. Aber aus den Worten des Oheims wehte der Duft der Wirklichkeit, der allein Plastik und Leben gab.

Daß man die Welt mit solchen Augen anschauen konnte, hatte er bisher kaum geahnt. 55 In der Schule boten sie doch meist nur verstandesmäßige Kenntnisse.

Jetzt sah er schroffe, nackte Felsen aus dem Schaum der Brandung aufsteigen, von Zyklopenfaust geschleudert, der Ätna hob sein schneebedecktes Haupt aus grünen Orangen- und Zitronenwäldern in den tiefblauen Himmel, schöne Menschen badeten im Meer, und der melodische Gesang der Schiffer klang über die spiegelglatte Fläche.

So verstand Heinrich Berghof die Odyssee. Und dem erstaunten Knaben ward es klar, daß dieses Werk, von verstaubter Pedantenweisheit wie ein Beispielbuch für grammatische Regeln behandelt, ein unsterbliches Kunstwerk war, das mit rätselhaftem Glanz bis in unsere Tage herüberleuchtet.

Die Sonne stand hoch am Himmel; ihre Strahlen fielen durch das Gewirr der Zweige auf den grünen Moosteppich und hoben hier und da ein Fleckchen heraus, das wie ein Transparent aufleuchtete. Schon zweimal hatte die Glocke vom Herrenhause geläutet, die zum Mittagessen rief.

Die beiden hörten sie nicht. 56



 << zurück weiter >>