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Man hatte den Tisch auf der Veranda gedeckt, die an das Wohnzimmer stieß. Das Licht der großen Hängelampe fiel prall auf das weiße Tischzeug, spiegelte sich in dem blanken Silbergeschirr und floß zwischen den großen, zackigen Blättern des wilden Weines hinaus ins Freie, wo es in dem hellen Schein des Mondes starb.
Berghof trat auf die Veranda, warf einen zufriedenen Blick auf den Eßtisch und schwang die Glocke.
Dann schritt er Frau Neuberg entgegen und bot ihr gut gelaunt den Arm. Heinrich führte die Schwägerin zu Tisch; sie sah zur Seite und gab ihm zerstreute Antworten, wie gewöhnlich. Es kam niemals zu einem richtigen Gespräch zwischen den beiden. Zuletzt blieben Georg und Daisy übrig; sie legte ohne Umstände ihre Fingerspitzen auf seinen Arm. Er empfand ein dunkles Glücksgefühl bei der leisen Berührung. 28
Die Försterin trat ein, eine gutmütige Matrone mit grauen Haaren; sie freute sich ehrlich, Georg wiederzusehen. Wie oft hatte sie ihm als Kind Märchen erzählt, wenn die Mutter keine Zeit für ihn hatte; sie spielten alle im Wald, und in jedem kam ein großer, frecher Fliegenpilz mit giftrotem Kopf vor, der irgendeine Schandtat beging. Es war ein Stück unzerstörbarer Jugend in dieser alten, vom Leben hart gerüttelten Frau.
Das Abendessen verlief in heiterer Stimmung. Als der Wein in die Gläser floß und das Gespräch immer lauter wurde, kam der Förster, angeblich um seine Frau abzuholen. Man wollte ihn natürlich nicht fortlassen, und er nahm nach einigem Zögern den angebotenen Platz an. Wenn irgendwo ein Gratistrunk in Aussicht stand, ließ er sich nicht zu lange bitten. Sein mageres, braunes Raubvogelgesicht drehte sich nach allen Seiten; endlich hatte er in einer Ecke den Korb mit den Weinflaschen entdeckt, der mit nassen Tüchern und Eisstücken bedeckt war. Er riet auf zehn Bouteillen, und sein Kennerblick täuschte ihn nicht.
Heinrich brachte einen Trinkspruch auf Georg aus. Der gute Junge wurde rot; niemals 29 war er noch als Hauptperson einer Gesellschaft gefeiert worden. Beim Anstoßen schüttete er richtig ein halbes Glas Rotwein über das Tischtuch.
»Jetzt wollen wir Musik hören!« rief die Hausfrau. Vor einigen Tagen hatte sie ein Grammophon kommen lassen, eine Überraschung für Georg. Zwar stand ein recht gutes Klavier im Wohnzimmer, aber seit Jahren hatte Frau Anna keine Zeit gefunden, zu spielen.
Heinrich widersprach heftig. »Um Himmels willen, nur das nicht – dieses heisere Gekreisch bringt mich zur Verzweiflung. Fräulein Daisy hat doch eine hübsche Stimme, wie wäre es, wenn sie . . .«
Frau Anna war tief gekränkt. Ein böser Blick traf den Schwager. Es war nicht das erste Mal, daß eine seiner Bemerkungen sie verletzte.
»Ja, Daisy muß singen!« rief Frau Neuberg. Sie war stolz auf die Stimme der Tochter und prahlte gern mit dem vielen Geld, das ihre Ausbildung gekostet hatte.
Daisy zog ein Mäulchen. »Wer soll mich denn begleiten? Mama ist sehr 30 konservativ und kann nichts als ein paar alte Arien.«
»Aber Daisy!«
Heinrich fing einen bittenden Blick Georgs auf und fragte: »Was wollen Sie denn singen?«
»Mein Gott, Mendelssohn, Grieg, Wolf – alles, nur keinen Operettenblödsinn.«
»Wenn Sie gestatten, daß ich Sie begleite . . .«
Sie nickte hoheitsvoll. Wenigstens ein Mensch in der Gesellschaft, der Sinn für ihre Leistungen besaß. Ein Mädchen wurde ins Försterhaus um die Noten geschickt.
Die Flügeltüren, die aus dem Klavierzimmer auf die Veranda führten, öffneten sich.
Heinrich griff ein paar Dreiklänge. Trotz seiner großen Leidenschaft für Musik hatte er in den zwei Wochen, die er auf Lindenburg weilte, das Instrument noch nicht berührt; denn auswendig spielen konnte er nicht, und das vorhandene Notenmaterial – Märsche und Operettenwalzer – war nicht nach seinem Sinn.
»Ach, der Ton ist gut,« bemerkte Daisy, in den Noten blätternd. »Du armes 31 Instrument, du möchtest ja so gern zeigen, was du kannst, und sie quälen dich mit Gassenhauern! Was haben wir denn da – Schubert – nein, dazu habe ich heute nicht die rechte Stimmung. Vielleicht Mendelssohn. Warten Sie nur . . .«
»Was wird sie wohl wählen?« dachte Heinrich. Er sah sie von der Seite an. Voll und scharf fiel das Licht der Lampe auf ihr Gesicht. Die Wangen, deren feiner Flaum an reife Aprikosen erinnerte, waren von weicher Rundung; das blonde Haar, in pikantem Gegensatz zu den braunen Augen, zeigte im Lampenlicht schimmernde Reflexe.
»Halt – dieses hier. ›Durch den Wald, den dunkeln geht . . .‹ Und hier bei dem ffmüssen Sie mir volle Freiheit lassen. Da singe ich die Viertelnoten als halbe.«
Er begann zu spielen.
Der warme, frische Mädchenkörper neben ihm wiegte sich leise in den Hüften. Ein unbestimmter Duft von seltsam gemischtem Parfüm strömte von ihm aus. Er nahm sich zusammen und schmiegte sich mit der Begleitung ihrem Gesang an, so gut er konnte. Es war nicht ganz leicht. Sie kümmerte 32 sich wenig um Takt und Vortragszeichen, aber es schien, als lebe sie jetzt erst auf in diesen Tönen, wie unter einem lauen Regen die Blumen sich entfalten; als fiele die Larve von ihr ab, die sie trotz ihrer großen Jugend immer trug.
Heinrich hatte das schöne, schwere Lied von berühmten Sängerinnen gehört. Mochten diese es mit größerer Virtuosität gebracht haben – hier schien es ihm der höchst persönliche Ausdruck einer verhaltenen Sehnsucht. Hatte diese Sehnsucht schon ihr Ziel gefunden? Oder barg sie sich noch hinter der gemachten Gleichgültigkeit, die das kokette Ding zur Schau trug? Eines glaubte er, der reife Frauenkenner, zu erraten: für Georg schlug dieses Herz nicht.
Draußen klatschten sie Beifall.
Daisy schürzte die Lippen. »Natürlich, und während ich sang, haben sie laut gesprochen.«
»Nicht alle. Sehen Sie nicht, wie Georgs Augen glänzen?«
»Kann sein. Es ist mir übrigens gleichgültig, ob jemand zuhört oder nicht! Am Ende treibt man doch nur sich zur Freude 33 eine Kunst. Ach! Wenn ich hier nicht das bißchen Singen hätte, müßte ich zugrunde gehen unter diesen langweiligen Menschen.«
»Gmunden ist halt amüsanter, nicht wahr?«
»O, dort war es reizend,« sagte sie mit schwärmerischem Augenaufschlag. »Gesellschaft, Tennispartien, Schwimmen, Regatta – und soviel nette Menschen.«
»Kleine Lebedame von siebzehn Jahren,« murmelte er.
Draußen gab der Förster, wahrscheinlich durch den Gesang angeregt, ein Trinklied zum besten. Es war, als ob ein alter Jagdhund heule. Aber die andern fanden die Sache nach den unverstandenen Mendelssohnschen Klängen sehr schön und stimmten mit ein.
»Bemerken Sie wohl die Wirkung der Kunst auf ein naives Gemüt,« sagte Daisy spöttisch.
Heinrich mußte laut lachen.
»Aber jetzt will ich noch etwas singen – gerade jetzt. Sie begleiten gut, und mein alter ungalanter Gesanglehrer behauptet, ich sei schwer zu begleiten.«
»Na ja,« lachte er, »mit der Melodei seid 34 Ihr ein wenig frei, doch sag ich nicht, daß das ein Fehler sei . . . Grieg?«
»Ja!« sagte sie mit strahlendem Lächeln und schlug »Ich liebe dich« auf, »Das ist mein Lieblingslied.«
»Schön. Aber diesmal gut Takt halten.«
Und sie sang das herrliche Lied mit einer Hingebung und Leidenschaft, wie es Heinrich nie zuvor gehört hatte.
Die süßen, glutheißen Klänge schwebten hinaus in die Nachtluft, schwangen sich fort über die Gruppe der plaudernden Menschen, die rücksichtslos ihr Gespräch fortsetzten, und verhallten leise im Rauschen der Tannen.
Nur Georg schwieg und lauschte mit angehaltenem Atem. Das war eine neue, fremde Welt, von der diese leidenschaftlichen Töne sprachen; eine Welt, deren Dasein er nur dunkel geahnt hatte inmitten der trockenen Gedankenarbeit, die bisher seinen Geist ausgefüllt. Die warme, klangvolle Stimme schien ganz allein zu ihm zu reden. Ihr sinnlicher Reiz drang durch alle Nerven, wühlte eine Menge unklarer Empfindungen in ihm auf. Es war das Weib, das ihm hier entgegentrat, in den keuschen Schleier der Musik gehüllt. Aber wie 35 das duftige Gewand vom Leibe mehr enthüllt als verbirgt, so klang auch diese Stimme in seltsam lockenden Lauten und erzählte von süßer, verschwiegener Lust.
Das Lied war zu Ende. Heinrich schloß das Instrument: »Genug. Das können Sie doch nicht mehr übertreffen.«
Sie dankte mit spöttisch-graziösem Knix für seine Begleitung und lief aus dem Zimmer, während er die Noten zusammenlegte.
Dann trat er in die Tür, lehnte sich an den Pfosten und überblickte die Szene am Tisch.
Die drei Frauen saßen eng beisammen und sprachen über Küche und Dienstboten. Auf diesem Gebiet konnten sie sich stets finden und verstehen, trotz aller sonstigen Verschiedenheit. Der Förster schenkte sich ein, streckte die Beine von sich und blickte stier vor sich hin. Der weiße Bartflaum an seiner Kehle hob sich scharf von dem weingeröteten Gesicht ab. Seine Frau warf manchmal verstohlene Blicke auf ihn. Sie kannte die Skala seiner Alkoholgefühle. Zuerst war er sehr schweigsam und trank sehr viel, dann wurde er gesprächig und sang; wenn er aber im dritten Stadium so wie jetzt die Beine ausstreckte und zur Decke glotzte, 36 dann war es Zeit, ihn sachte wegzuführen; denn das vierte Stadium brachte er meist unter dem Tisch zu.
Berghof saß ruhig in seinem Stuhl zurückgelehnt und runzelte nachdenklich die Brauen. Das eintönige Gespräch der Frauen störte ihn nicht in seinen Gedanken. Er schielte einmal flüchtig nach dem Förster; Heinrich schien es, als zucke seine Lippe verächtlich dabei. Wenn so ein alter Mensch nicht einmal weiß, wieviel er vertragen kann . . .
Dann blickte er nach Georg, der unter dem Einfluß des ungewohnten Weines einen Teil seiner Schüchternheit verlor und mit Daisy plauderte. Die Zukunft des Sohnes stieg vor ihm auf. Im Herbst sollte er an die Hochschule – da konnte er Verbindungen anknüpfen, die ihm später von Nutzen sein mußten. Dann ein paar Jahre Beamter auf einer großen Herrschaft, und dann sein eigener Herr! Ja, er sollte es weiter bringen als sein Vater. Der Sohn mußte ernten, wo er gesät hatte. Es ging ja aufwärts mit den Berghofs. Der Großvater, der sein Leben lang ein armer Güterbeamter gewesen – Karl als Leiter eines großen Betriebs –, das waren 37 zwei Stationen auf dem Weg der Familie. Aber Georg mußte frei werden und unabhängig, Herr auf seinem Eigen! O, es war Geld genug da für das einzige Kind – viel Geld . . .
Vielleicht ahnte der Bruder, der noch immer an der Tür lehnte und auf die Gruppe niedersah, etwas von seinem Gedankengang.
Als Heinrich Berghof den Eltern auf ihre dringenden Bitten versprochen hatte, seinen Sommerurlaub, statt wie sonst auf Reisen, in Lindenburg zuzubringen, wußte er ganz genau, daß er damit den alten Leuten ein Opfer brachte. Sie glaubten ja noch immer so fest an einen innern Zusammenhalt der Familie, und doch waren die Brüder schon seit der Kindheit ganz verschiedene Wege gegangen; und jetzt bemühten sich Karl und Anna auf ihre Weise, ihm den Aufenthalt angenehm zu machen, aber er dachte mit leiser Sehnsucht an sein stilles Studierzimmer, an die großen Räume der Bibliothek, wo er arbeitete, um das bißchen Brot zu verdienen, das er zum Leben brauchte.
Der Vater hatte ihn zu einer ganz andern Laufbahn bestimmen wollen und war noch 38 heute nicht mit seiner Berufswahl zufrieden, da Heinrich gegen vierzig Jahre alt war. Wie schwer war es ihm damals geworden, die Fesseln zu zerbrechen, die sie Pietät nannten!
Sollte jetzt mit Georg etwas Ähnliches geschehen? Und wieder kehrte sein Blick zu dem Jüngling zurück, zu dem er eine Wahlverwandtschaft empfand, die ihn geheimnisvoll an die Jahre des eigenen Werdens erinnerte.
Sie nannten es mit häßlichen Namen, dieses jugendliche Alter; in faden Romanen spielte es eine lächerliche und bemitleidenswerte Rolle – und doch gab es auf Gottes weiter Erde nichts Schöneres als einen jungen Menschen, seiner reifenden Kräfte kaum bewußt, errötend vor den Geheimnissen des Daseins; war es nicht ergreifend, wie er hinausfuhr auf die hohe See des Lebens, am Steuer stehend und lächelnd im Glanz des Morgenlichts! Das Meer ist still; die Wellen flüstern nur leise am Rand des Fahrzeugs, der Wind ist gnädiger Laune und streicht dir nur die Locken aus der hohen Stirn; o, bald wird der Sturm dich umbrüllen, die Wellen werden wie reißende Raubtiere über Bord stürzen, und 39 dein armes Herz wird zittern vor ihrer Wut; aber noch glaubst du an dich und an dein Glück!
Das laute Rücken der Stühle zerriß seine Gedanken. Sie brachen auf und machten viele Worte zum Abschied – und jedes zweite war irgendeine konventionelle Lüge, als schämten sich diese Menschen ihres einfachen Daseins, als könnten ihre Seelen sich nicht sehen in ihrer Blöße und müßten sich mit den Fetzen von Phrasen verhüllen.
Frau Anna war müde. Ihr Gesicht sah jetzt beinahe alt aus; bläuliche Ringe zogen sich um die Augen. Die tausend kleinlichen Sorgen des Hauswesens zersplitterten ihre besten Kräfte.
Heinrich stieg die knarrende Holztreppe zu seinem Zimmer empor. Die Kerze, die er in der Hand trug, warf seltsame Lichter auf das verschnörkelte Kapitell einer mächtigen Säule des Stiegenhauses, die aus alten Zeiten in die Gegenwart hereinragte.
Er beugte sich aus dem offenen Fenster. Der Duft der Blumen schlug ihm entgegen; er war stärker als am Tage; tief und schwer lagen die Schatten der Bäume auf dem Boden, wie 40 schlummernde Ungetüme, vom Mondlicht in ihre dunkeln Winkel gebannt. Ein Brunnen rauschte und plätscherte irgendwo, aber mit so gedämpften Lauten, als ob er im Schlafe zu sich selber spräche. Schwerfällig surrte ein schwarzer Käfer durch die Nacht. Und droben am Himmel funkelte der Böotes und der Wagen, Cassiopeia zeigte ihre schimmernden Zacken, und Venus stand nicht weit vom Monde mit ihrem freundlichen Licht. Vor dem Fenster einer Dienstbotenkammer bewegte sich eine dunkle Gestalt. Ein Bursche schlich zu seinem Mädel.
Es war wieder eine von den Stunden, wo sich irgend etwas Unsichtbares auf die Seele dieses einsamen Mannes niedersenkte.
Er trat in das Zimmer zurück und verriegelte die Tür. Da standen ein paar Bände; Heinrich nannte sie seine Gebetbücher. Zarathustra, Niels Lyhne, die Maikäferkomödie. Er hatte sie von daheim mitgenommen.
Tief aufatmend setzte er sich an den Tisch und nahm ein Blatt Papier und einen Bleistift.
»Nacht ist's; nun rauschen lauter alle springenden Brunnen. Und auch meine Seele ist ein springender Brnnnen . . .« 41
Leise flüsterte er vor sich hin.
Und als er eine Zeitlang sinnend dagesessen, begann er ein paar Verse auf das Papier zu werfen; aus dem Land der Träume kamen sie durch die Sommernacht geflogen, wie wilde Vögel, die ihre Heimat suchen. Da ließen sie sich nieder auf dem weißen Blatte und schlugen mit den Flügeln.
Morgen, wenn die klare Sonne schien, wurde das Blatt mit den Versen vielleicht wieder verbrannt . . . 42