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An einem dieser letzten Julitage, wo die Schulkinder von Lachweiler ihre langen Sommerferien beginnen und Kaplan Johannes um so ungestörter seine Marthapredigt studiert, während der Verweser Joseph Nimmer den Malern in der Kirche zuschaut und ab und zu auf eine Leiter steigt und einem alten Alemannengesicht oder einem Ekkehard oder Notker aus Sankt Gallen mit Braun und Chrom und Goldfarbe ein wenig nachhilft, bis sie etwas mehr kirchenhistorischen Charakter bekommen; an einem dieser letzten Julitage, fern von den kühlen Lachweiler Nußbäumen, in der brütend heißen, wind- und vogellosen Luft von Pisa, saß Therese Legli in einer dunkeln Ecke des steinernen Krankenzimmers und kugelte den Rosenkranz zwischen ihren strammen Fingern oder säbelte mit den Stricknadeln und blickte dann und wann in die andere Ecke, wo der arme Pfarrer lag. Schon drei Wochen besorgte sie den Kranken, ohne einen Gruß mit ihm wechseln zu können. Aber ihr Eifer blieb der gleiche, und ihr ruhiges, geschicktes Amtieren hatte ihr den Respekt des ganzen Personals eingetragen.
La suora svizzera, eccola, – brutta, ma superba! sagten sich die hübschen Assistenten.
Es war in diesem Steinsaal fast noch stiller als draußen im pisanischen Nachmittag. Nur Theresens Nadeln klirrten leise. Zuweilen, wenn vom Lager drüben ein besonders schwerer Atemzug oder ein langgezogenes Ächzen kam, huschte sie auf den Zehen ans Bett, trocknete die Stirne oder beträufelte die verbrannten Lippen des armen deutschen Mannes und verkroch sich dann wieder strickend und mit ihren funkelnden Augen wachend wie eine große, fleißige, alles belauernde Spinne in ihren tiefen Winkel.
Da kam es ihr plötzlich vor, der Patient benähme sich anders als bisher. Er tastete mit der Hand über die Decke wie suchend und rieb sich dann ein wenig mit dem Finger an der breiten Schweizernase, aber phantasierte nicht. Sonst hatte er immer hastig und unter vielem unverständlichen Gemurmel herumhantiert, jetzt geschah es still und wie mit Überlegung. Theresen fiel das sofort auf, und sie schlich samtleis wie eine Katze ans Kopfende des Bettes. Der Kranke hielt die Augen geschlossen, aber rieb sich immer noch die Nase und die Lider und versuchte den Kopf ein bißchen aufzurichten. Dann hob er ganz leicht die Wimpern und blinzelte furchtsam vor sich hin. Er rümpfte die Stirne dazu. Es war, als besänne er sich mit großer Mühe. Dann fiel er mit einem tiefen Atemzug ins Kissen zurück.
»Lieber Herr Pfarrer!« sagte Therese halblaut und neigte sich von oben zu ihm nieder.
Was war das? – Runde Kuppeln, blendend vor Sonne, und ebenso blendende Kalkweglein und grelle Marmorwände . . . dann ein Gewimmel von Menschen, von fremdem, schnellem Reden, haufenweis Bilder durch Bilder geschoben, Gesichter über Gesichter gezerrt, Straßen, die sich wie Bänder auf und zu rollen, Häuser, die untereinander laufen, Türme, die umfielen, aber in halber Höhe plötzlich steif stecken bleiben . . . hunderttausend Leute, die etwas fragen und den Mund offen behalten . . . Was war das? . . . Was war das? . . . Und so hohe Schreie, so dünne, stechende! Und dann auf einmal Stille und etwas wie eine feine, ferne Frage, etwas wie das Rauschen einer Bettdecke, etwas wie ein langes, müdes, warmes Hingestrecktsein auf einer Matratze . . . Nun wieder Glockengeläut', Frühmesse . . . er muß auf, es ist heut nicht an Kaplan Johannes, heut ist an ihm die Reihe. Er muß auf. Sonst kommt er zu spät. Schon lange sollte er auf sein. Die Leute knien in den Bänken, der Meßner hält schon die Albe ausgebreitet auf beiden Armen . . . Gott im Himmel! Auf, auf . . . . Aber wo ist er? Niemand kennt er! Niemand versteht er. Fremde halten ihn, binden ihn, überschreien ihn . . . fremde, schrecklich fremde Menschen. O du lieber deutscher Herrgott . . . auf, auf!
»Lieber Herr Pfarrer!« –
Nein, da ist eine deutsche Seele. Wer hat gerufen? – Das ist endlich ein Wort zu ihm, das geht ihn an. Das hört er jetzt deutlich durch alles Gewelsch hindurch. Wer ruft? Wer bist du, liebe deutsche Seele, zeig dich! – –
»Wie geht es Ihnen, hochwürdiger Herr Pfarrer?« –
Schon wieder diese Stimme! . . . Hat er denn geträumt? . . . War das alles vorher nichts? . . . Pfarrer? Hochwürden? . . . Jungfer Therese? . . . Lachweiler? . . . Gottlob, wir sind daheim.
Er öffnet die Augen. Dieses erste deutsche Wort hat ihm das Bewußtsein zurückgegeben.
Aber er zögert. Langsam, langsam heben sich die Vorhänge vor dem Licht. Es könnte täuschen. O es wäre furchtbar. Aber nun schaut er immer größer drein mit seinen kleinen, blauen Äuglein, so alten Äuglein und doch noch ganz wie junge Vergißmeinnicht am Lachweiler Bächlein neben dem Friedhof. Und o Wunder, da kommt es mitten durch die Kuppeln und schiefen Türme und Purpurröcke und klassischen, bleichen Marmorgesichter hindurch, so traut wie ein deutsches Kirchlein: dieses Quadrat von einem Kopf, diese Fenster von Brillengläsern, diese krumme, tapfere Nase, da kommt es mit herzhaften, lustigen Blicken und mit großem, scharfem Mund und blitzenden Plomben, und darüber hinweg hüpfen diese lieben, mutigen deutschen Wörtlein: »Hochwürdiger Herr Pfarrer, wie ist Ihnen? . . . Kennen Sie mich noch?« . . . Er nickt leise. – »Ja, ich bin's, Therese Legli, die Kaplanenköchin . . . und ich bleibe bei Ihnen, bis Sie ganz gesund sind. Dann reisen wir zusammen heim . . . ins liebe Lachweiler! . . . Seien Sie nur ganz unbesorgt. Und sprechen Sie kein Wort . . . . Sie sind gerettet . . . Die Lachweiler bekommen ihren Pfarrer wieder . . . Ich will noch heut telegraphieren: Unser hochwürdiger Herr Pfarrer genest! . . . Aber jetzt nur Ruhe, nur Ruhe!« –
Solche Weise geht wie ein Lied ein. Es füllt ihm Ohr und Herz. Er nickt noch einmal, er versucht zu reden, ihm tropfen die Augen, und mit einem »Deo Gratias!« sinkt Cyrillus Zelblein in den ersten fieberlosen Schlaf.