Heinrich Federer
Jungfer Therese
Heinrich Federer

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19

Mit drei Sprüngen war Kaplan Johannes an der Haustüre, um dem Briefträger die »Lampe« abzunehmen. Wahrhaft, da stand es auf der ersten Seite, in fettem Druck für die hunderttausend Augen der Öffentlichkeit ungeniert hingeschrieben, was er in aller Zimmerheimlichkeit gesonnen hatte. Er wurde rot vor sich selber. Dann nahm er verwirrt die Feder hinterm Ohr hervor und fragte: »Wo muß ich da unterschreiben?« – »Es ist ja nur eine Zeitung!« spottete der Bote. »Unser Käsblättlein!« – Lachend trollte er das Stieglein hinunter. –

Es ist ja nur eine Zeitung! – das schoß wie ein kalter Wasserguß über Johannes. »Nein, nein,« rief es aus seiner innersten Seele hervor, als er den stolzen Titel »Wettervögel« gelesen hatte, »das ist mehr als eine Zeitung. Das ist ein Trompetentusch in die dumpfe Zipfelmützenstube unserer Michel, ein Fehdehandschuh, kühnlich ins Lager der Philister geschleudert, das ist ein Wind, der übers Land sausen und zentnerweise den Moder von den verschlafenen Stirnen fegen wird . . . Und du sagst, es sei nur eine Zeitung! . . . Ich muß dich bedauern, armer Briefträger Matthä! Dort gehst du mit den Lampen und ahnst nicht, was für Blitze du mit dir trägst . . . Sieh mal, nun läutet er beim Schulrat Frunz! . . . Wohl bekomm's, du alter Gerümpelherr! . . . Aha. Jetzt zum Kronenwirt! Nur zu, nur zu! Der runde, feiste Herr hat einen guten, aber so altbackenen Verstand, wie sein Brot am Montagmorgen ist. Du behaglicher Kauz, wirst natürlich meinen Artikel nicht lesen, sondern gleich die Mehlpreise von Rorschach studieren. Aber du schickst jede Nummer deinem Studenten in die Stadt. Und dieser gescheite Junge wird merken, was für witzige Vögel durch dieses Blatt schwirren und wie gut sie pfeifen, und er wird seinen Kameraden einige Melodien davon vorpfeifen. Und so weiter, und so weiter, lieber Briefträger Matthä, wenn du alles wüßtest . . .!«

Johannes ging in sein Studierzimmer, riegelte die Türe hinter sich zu und schloß die Fenster. Dann setzte er sich auf seinen harten, kirschbäumenen Brettstuhl hinter einen Tisch voll Bücher. Und erst in dieser wohligen Verschanzung begann er den Artikel ruhig zu lesen. Er kam ihm noch viel schöner vor als auf dem Schreibbogen. Die Sätze hatten noch flinkere Beine, noch gestenreichere Hände und eine noch viel feurigere Gebärde im Gesicht. Ihm war wie einem Kinde, das zum erstenmal ein Glas schweren Wein austrinkt. Er fühlte sich berauscht vom obersten Scheitel bis in die bebenden Sohlen. In diesem Schwung des Geistes merkte er nicht, daß zweimal statt »emanzipiert« marzipaniert stand und daß im herrlichen Sätzlein, wo er den Philister sich in ein »Antiquarium des Geistes« verbohren ließ, der gleiche Philister nun in einem Aquarium des Geistes herumplätscherte. Aus der »epischen Lunge« der Renaissance hatte der Drucker eine epische Länge gemacht. Die »wechselnden Stile des Jahrhunderts« waren zur wechselnden Stille des Jahrhunderts geworden. Die dreimaligen »Orgien« waren in die frömmern Orgeln verwandelt. Das und zwanzig noch schlimmere Druckfehler merkte Johannes nicht. Und wenn er sie auch gemerkt hätte, sie konnten den schönen Geist seines Aufsatzes nicht umbringen.

Der Gedanke war: ein Geistlicher spaziert über Land und sieht klugäugig bald ins offene Weite, bald ins winkelige Nahe. Von dort kommen die Wettervögel, die Boten froher Sonnen und dunkler Gewitter. Und hier verstaut und verschanzt man sich gegen das Frohe und das Dunkle, als ob jeder Vogel ein Unglücksrabe wäre. Da möchte der Spaziergänger nun doch in Liebe unterscheiden und erweisen, daß man die nützlichen einlassen und nur die schädlichen totschießen solle. Aber nicht vor beiderlei Geflügel ein Schreckmännlein aufpflanzen, wo es dann leicht geschähe, daß die braven Vögel davonfliegen, aber die bösen frech unsere Saaten plündern!

Johannes las sein Werklein dreimal durch und immer mit noch größerer Genugtuung. Aber eine wilde, brausende Fröhlichkeit ließ ihn nicht dabei verweilen. Es durfte in solcher Streitsache keine Kampfpause, keinen Waffenstillstand geben. »Vollenden wir! Vollenden wir!« sagte er sich mit einer Anwandlung von lustigem Hochmut, »da wir in solcher siegreichen Stimmung sind!« – Und er riß das umfangreiche Manuskript hervor und kritzelte vom Nachmittag bis weit über Mitternacht Quartbogen auf Quartbogen voll, fast ohne Atempause. Er durchsah und erweiterte das Frühere, fügte Neues hinzu, und da er alles längst in sich ausgekocht hatte und wie ein fertiges Süpplein in sich trug, so ging es mit dem Servieren auf die schneeweiße Tafel des Manuskripts hurtig genug. Als es vom Turme der alten Kirche mächtig ein Uhr schlug, zog auch Johannes um das letzte Wort »Triumph« einen gewaltigen Schlußschnörkel. Das Werk war fertig. Auch ein geistvolles Kapitel über das moderne Gebetbuch funkelte wie ein nagelneues Wunder aus den dürren Blättern. Johannes numerierte noch die Seiten und erhob sich dann todmüde, aber selig vom harten Sessel. Der Kopf tat ihm weh, und als er im Bette lag, war es ihm, als drehe sich die ganze Kammer um ihn herum. Kein Wunder, sagte er sich, wenn man den Globus in die richtige Achse eingestellt hat! – – Das meinte er mit Spaß. Aber es war ihm schon viel ernster, als er beifügte: Ich komme ja aus der Schlacht! Nur die Feiglinge und die Nichtstuer sind dann nicht müde. Aber die Sieger sind immer müde!

Als Johannes am Morgen nach der heiligen Messe in den Chorstuhl kniete, um seine Danksagung zu verrichten, hatten die Beter die Kirche wie immer schon verlassen. Nur der taubstumme Armenhäusler Paul Pauli in der hintersten Bank blieb wie gewöhnlich noch eine Stunde lang im schönen Gotteshaus als wie in einer prächtigen Stube sitzen und sah den Malern zu, die allmählich mit Farbentöpfen, Leitern und Malschürzen kamen und am Fresko des heiligen Gallus weiterpinselten. – Dem Kaplan war diese Viertelstunde in der morgendlichen Kircheneinsamkeit unendlich lieb. Es war so still. Man hörte nur fern das Bächlein zwischen den Gärten und etwa die Glocke der Kronenbäckerei neben der Kirche klingeln. Am Altar waren die Lichtlein gelöscht. Aber man sah es ihm immer noch an, was Großes sich da soeben abgespielt hatte. Da war noch das Kreuz, an dem Christus gestorben war; da lagen noch die Reste seines irdischen Kleides am Boden; da erblickte man noch die Fußstapfen seiner entsetzlichen Quäler ringsum, aber auch die Spuren, wo Maria und wo Johannes gestanden; und da leuchtete es noch weit und breit über den ganzen Berg Golgatha vom vergossenen Erlöserblut. Aber die große Heldentat war vorbei und den Hügel hinunter in die fernen Straßen und Stuben der Erde gegangen und wirkte dort ihre Rettung weiter. Indessen, für innige, ehrfürchtige Menschen war es doch ein gar köstliches Kreuzfahrertum, zum Berg zurückzukehren und den Boden zu küssen, wo man den Heiland niedergeworfen, und das Holz zu umarmen, an dem er gehangen hatte, und zu danken, daß es einst einen Fleck Erde gab, wo seine ungeheure Welterlösung geschah, und daß es heute in jedem Dorf wieder einen solchen hehren Platz gibt, mehr wert als der Stall von Bethlehem und als das heilige Grab von Jerusalem.

Dem Kaplan war es in dieser Viertelstunde immer seelenwohl. Er zog dann die Brille ab, die er beim Lesen brauchte, und vertiefte sich ungestört in das Erlebte. Er fühlte an seinen Händen noch den süßen Abendmahlsduft und auf den Lippen den Nachgenuß des Kelches. Er spürte noch immer die seidenen Gewänder um die Schaltern, und es klangen ihm noch im Ohr die wunderbaren: sursum corda! . . . hoc est enim corpus meum . . . ecce agnus dei; . . . und das gewaltige Erden- und Sonnenüberlebende: per omnia saecula saeculorum, AmenAuf die Herzen . . . das ist mein Leib . . . sehet das Lamm Gottes . . . von Ewigkeit zu Ewigkeit, Amen . . . . . . Wo auf Erden gibt es noch eine so große Sprache? . . . O müßte man doch nie von diesem Altare weg, in den licht- und andachtslosen Alltag hinunter! Oder könnte man den Altar mit seinem Glanz und Weihrauch und Gottesfrieden mitnehmen!

Wieder wie immer dachte Johannes, wie schön es doch sei, Priester zu sein. Er würde sterben am ersten Tag, wo er nicht mehr opfern, noch segnen, noch sonst wie ein Priester amtieren dürfte. In diesem Augenblick dankte er allen mit kleinen, innigen Gebetlein, die ihm zum Priestertum verholfen hatten, vor allem seiner stillen Mutter selig, dem alten Pfarrer seiner Heimat, seinen tüchtigen Lehrern, dem mächtigen und gütigen Bischof und seinem Regens, der ihn wie einen Sohn gehegt hatte. In diesem so heiligen Augenblick wußte er auch nichts mehr von den Schiefheiten und Nöten der Seelsorge oder von einem Zwiespalt im religiösen Denken. Da gab es nichts als eine große Eintracht, – ein Hirt, eine Herde! Und in dieser Viertelstunde wäre Johannes auch zu allem bereit gewesen: als Pfarrer sich auf die Insel der Aussätzigen einzuschiffen oder als Missionar zu den afrikanischen Menschenfressern zu wandern oder in einem malaiischen Heidenstaat sich für seinen Christus zu Tode martern zu lassen. Die ganze ungebrochene Begeisterung seiner noch so kindlichen und idealen Seele atmete sich da aus.

Heute aber kam ihm auch immer wieder das vollendete und sorglich in die Lade geschlossene Manuskript in den Sinn. Und es mischte seine irdische Freude in die überirdische dieses Kirchenstündleins. In seiner Fröhlichkeit konnte Johannes nicht anders, er mußte die Hymne der drei Knaben laut beten. Der Taubstumme da hinten im Schiff hörte ja nichts. So psallierte er denn jene prachtvollen Verse des Canticums, wo Himmel und Erde und alles, was darinnen ist, wie ein Mann aufsteht und den Allmächtigen lobt, immer lauter und fing sie zuletzt an leis im Choralton zu singen . . . Benedicite sol et luna Domino . . . Jeder Regen und jeder Tau lobe den Herrn . . . . Lobet ihn Kälte und Glut, du Licht, und du Finsternis, lobet ihn! Was im Wasser lebt und ihr, Geflügelte alle, lobet den Herrn!

O welch eine Poesie ist das! unterbrach sich Johannes. Wenn ich so dichten könnte! Und wie schon oft zuckte auch jetzt wieder jenes seltsame Wort seines liebsten Lehrers aus der Würzburger Studienzeit wie ein Blitz durch sein Gedächtnis: Ein Streiter Gottes kannst du wohl nicht werden, du bist zu schwächlich, aber ein Sänger Gottes könntest du werden, befleiße dich.

Ein Sänger Gottes! Da kommt es ja: Benedicite sacerdotes Domini Domino! . . . O ja, Herr, alles, was ich tue, soll dich loben, soll wie ein großes Gedicht an dich, du Herrlicher, sein!

Wie das Manuskript? . . .

Wer sagt das? Woher kommt das? Warum erschrecke ich?

Es trat eine große Pause ein. Johannes sang nicht mehr. Er hatte Mühe, sich zu sammeln, und blickte mit unsichern, flüchtenden Augen in der ganzen Kirche herum, als müßte jene stille Frage anderswoher als aus der eigenen Brust gekommen sein. Die Sonne drang durch die Fenster und berührte mit ihrem goldenen Zeigefinger das Kreuz auf der Kanzel und den Heiland daran. Dann fuhr sie über die vielen Stationen hin, wo auf jeder das Kreuz prangte, jetzt am Boden, jetzt auf den Schultern, jetzt niedergestürzt, weitergeschleppt, endlich erhöht über alle Erde. – Johannes kehrte zum Altar zurück. Aber da war das größte Kreuz auf dem Gipfel aufgepflanzt, und ein rührend schöner Christus aus bleichem Marmor hing müde daran. Er hatte eben das letzte Wort geseufzt: Es ist vollbracht. Man meinte sein Verscheiden in dieser Sekunde hier mitzuerleben.

Da sind überall Kreuze, nichts als Kreuze, nichts als der leidende, sterbende Heiland . . . Und mein Manuskript?

Was ist das? Um Gottes willen, was ist denn mit mir? Johannes fuhr sich über die nasse Stirne . . . Ich habe geschlafen, böse Träume haben mich geplagt, ich bin überarbeitet, mein Gehirn ist ganz überreizt, was neck' und quäl' ich mich selber? . . . Aber, das ist wahr, in meinem Manuskript wehrt man sich gegen das Leiden, man will nicht verspottet und mit Dornen, man will mit Lorbeer und Eichenlaub gekrönt werden. Und keine Geißel soll man spüren. Lieber schlägt man selbst drein. Man sträubt sich mit Händen und Füßen gegen die Verachtung, man verwirft das Stillesein und Demütigsitzen und Verborgenbleiben. Man will durchaus lärmen, will an die große Ecke der Menschheit stehen, man will gesehen, gehört, besprochen und reichlich gefeiert werden! Kurz, man will Sieger sein.

Und hier! – – schau, schau, – – jetzt fährt die Sonne über den Boden. Da sind die Gräber der alten Pfarrherren. Und auf jeden dieser Ziegel ist ein Kreuz gemeißelt und die zwei ausgereckten Arme und der zerrissene Mund und die ganze geknickte Gottesfigur. Und unten am Portal ist ein Kreuz, und auf den Glasfenstern bluten überall Kreuze, das Gotteshaus ist ein wahres Kreuzhaus. Es ist voll Leiden, Zusammensinken, Sichergeben, Sterben. Und von einem Kreuz zum andern klingt und ruft und stürmt es herüber, hinüber, das Schiff und das Chor vollbrausend: fiat voluntas tua! Herr, dein Wille geschehe!

Alle Freude war verflogen. Woher kommt dieser jähe Wandel? Geschieht mir nicht unrecht . . . mein armer, müder Kopf.

Aber daran läßt sich nichts wegklauben: im Manuskript heißt es immer: fiat voluntas mea! Die Kirche in Menschenglück und Weltglorie! Die Kirche wie eine Basilika neben dem Hause des Cäsars! Dach an Dach, Tor an Tor, im gleichen Stil und im gleichen irdischen Geflimmer. Die Kirche wie eine Königin unter Königinnen, wie eine Millionärin unter Millionärinnen, fröhlicher lachend als alle Lachenden, kräftiger dreinschlagend als alle Dreinschlagenden, feiner lebend als alle Feinlebenden, die Kirche obenan in der Börse, im Theater, in der Galerie, obenan in der Universität und in der Fabrik, die Kirche, in einer Hand den ganzen Himmel, aber in der andern auch recht viel reiche, schöne, lustige Erde.

Aber da hängt der Kirchenstifter und Kirchenherr, vom Himmel verlassen und aller Erde beraubt, nackt, allein, das Urbild der Armut.

Immer wirrer geht es im Kopfe des Kaplans durcheinander. Ihm ist, die Christus alle von den vielen Kreuzen schauen ihn mit ihren letzten, brechenden Augen an und sagen: Willst du, kleinwinkliger Mensch, meine Kirche wirklich besser machen als ich, der Gründer und Held der Weltgeschichte? . . . Und willst du es besser in ihr haben als ich, dein Herr und König? . . . Willst du triumphieren, wenn ich mich in den tiefsten Staub bücke? . . . Willst du lachen, wenn ich weine? . . . Verstehst du meine Erlösung so, daß ich allein litt und stritt, aber daß ihr alle nun wie auf einem Regenbogen von bunten Vergänglichkeiten hinüber zum Unvergänglichen lustwandelt? . . . Hast du vergessen: Wer mein Jünger sein will, nehme das Kreuz auf sich und folge mir nach. Die via crucis meine ich! Aber du meinst, auf dem Weg der gelehrten Bücher und der Kreditbanken, der Bühnen und Ateliers in den Himmel einzugehen. Ist das der schmale Weg? Schreibst du für ihn so ein prunkhaftes Opus? . . . Du willst die triumphierende Kirche erleben, noch ehe du die leidende mitgelitten hast. Du kleines, nichtiges und doch so gespreiztes und alles besserwissendes Knechtlein du in meinem Weinberg!

»Sie haben gesungen, junge Hochwürden, Sie sind ein glücklicher Mann,« flüsterte es plötzlich ans Ohr des Kaplans.

Der Mann aus der hintersten Bank, der vermeintliche taubstumme Armenhäusler, war langsam zum Chor hinaufgeschritten und legte mit diesen Worten seine schöne, weiße Hand freundlich auf die Achsel des Kaplans und wiederholte: »Sie müssen ein sehr glücklicher Priester sein.«

Johannes schrak auf und staunte den gütigen Sprecher mit silbergrauem Haar, aber einem noch ganz frischen, unversehrten Mannesgesicht fassungslos an.

»Entschuldigen Sie . . . . Sie haben den Bischof um einen Gehilfen gebeten. Ich bin's: Pfarrweser Joseph Nimmer! Mit einem so glücklichen Kaplan pastoriere ich doppelt gern . . . Kann ich noch zelebrieren? Ich komme gerade von der Station.«

Der Kaplan holte den kleinen Hans aus der Krone und half dem neuen Pfarrer beim Anziehen der Meßkleider. Dieser runzellose, ältliche, feine Herr gefiel ihm. Er sprach ein so reines Deutsch, wie man es in einem Dorf um eine Banknote nie zu hören bekäme. Und er machte ganz kleine, hübsche Gesten zu jedem leisen Wort. Seine Wangen waren noch apfelrot, wie bei einem frischen Büblein. Ein herziger Mann! Johannes gab ihm trotz des Ferialtages die bessere Sonntagskasel, die man nur an Duplex majus trägt. Hansli, der die heilige Garderobe und ihre uralten Bräuche gut kannte, glotzte den Kaplan darob an, als beginge er einen Irrtum oder fast eine Sünde. Aber Johannes wies ihn mit scharfen Blicken ab. Nun wollte er auch den alten, goldenen Kelch aus dem Kästlein holen, den man sonst für die höheren Feiertage aufspart. In diesen Moment sagte der Gast mit seinem tiefen, samtenen Baß: »Ach, nun habe ich meine halbe Seele im Rock behalten.« Und er hob Albe und Kasel umständlich und zog eine breite Perlmutterdose und ein umständlich weites, rotbetupftes, seidenes Schnupftuch hervor. »Placeat?« er bot dem jungen Priester eine Prise. Johannes lehnte unwillig ab. Da nahm Pfarrer Nimmer eine ergiebige Prise, legte die Dose auf den Tisch und schob das getupfte Tuch vorsichtig in den rechten Ärmel.

»Er ist ein guter, gebildeter Herr,« urteilte Johannes, »aber dennoch einer von den ganz konservativen. Da haben wir wenigstens so eine richtige Respektlosigkeit unserer alten konservativen Parochi!« – Er riegelte das Kästlein auf.

»Was sagen Sie zu diesen Malern?« fragte der Geistliche indessen im vollen Ornat und die Hände gefaltet. »Ich habe die Gemälde betrachtet. Sie taugen gar nichts.«

Der Kaplan stutzte. Dieser Mann genoß die erste Stunde Gastfreundschaft und kritisierte schon den Wirt. Und er tat es ein paar Minuten vor dem heiligen Opfer! Ihm selbst hatten diese grellen, unnatürlichen Klecksereien, wo die Figuren entweder entlehnt oder dann stümperhaft erfunden waren, gar nie gefallen. Hundertmal hatte er sich darüber schon geärgert und laut beschwert. Auch eine brennende Zeile stand über dergleichen banale Kirchenkunst in seinem Werk. Aber jetzt hätte er um keinen Preis mitschimpfen mögen. Er tat, als habe er den Verweser nicht verstanden, und schwankte verdrossen, ob er nun doch den besseren Kelch oder nur den für gewöhnliche Sonntage nehmen solle.

»Was wollen denn alle diese steifen Tiere an der Wand? Eine ganze Menagerie! Der heilige Gallus hat doch seine Mission bei den hiesigen Menschen gehabt . . . Und so nichtssagende Gesichter. Wie Spülwasser! Und der Wald an der Steinach, lieber Gott, genau wie Salat und Sauerkraut! Wer malt denn so was? Und wer zahlt so was?« fragte Pfarrer Nimmer mit eigentlichem Schmerz in seinem blühenden Greisengesichtlein.

»Das gefällt nun einmal unseren Leuten so! Sie wissen nichts anderes!« entgegnete Johannes und reichte dem Verweser nun zum Trotz den ganz gewöhnlichen Werktagskelch. »Und unsere Leute müssen es ja anschauen; ihnen muß es behagen, und sie bezahlen es! Da läßt sich denn nicht viel einwenden!«

Der Verweser seufzte ein wenig und lächelte versöhnlich zum Kaplan hinüber. Dann sah er das Kreuz an der Wand an, ward ernst und still und sammelte sich. Der ungeduldige Hansli an der Sakristeitüre betrachtete währenddem den Überzieher des Gastes und dachte: »Ein seidiger Kragen und so ein feines Tuch . . . . der kann mir ganz wohl zwanzig Rappen geben!« . . . Dann hustete er und kratzte ein wenig mit dem Fuß. Aber der Geistliche rührte sich nicht. »Der scheint ein langsamer Pfarrer zu sein!« sann der Bube weiter. »Wenn er mir soviel Zeit braucht, so sind fünfundzwanzig Rappen gar nicht zuviel. Der Höflisepp gibt mir sein Doppelpistölchen sowieso nicht unter dreißig!«

Endlich stülpte der Pfarrer das Birett auf und sprach mit Andacht: »Benedicite!«

»Deus, me commendo!« respondierte Johannes.

»Was hab' ich da für einen Meister bekommen?« fragte er sich auf dem Weg über den Friedhof. »Froh bin ich, daß der Bischof mir so schnell das Verwesertum abgenommen hat. Aber so ein seltsamer, fein-unfeiner Herr!« – Johannes wäre in der heiligen Messe geblieben, wenn seine Aufgeregtheit ihn im Chorstuhl ruhig hätte knien lassen. Aber das war unmöglich. Er sagte also Ottilien, sie möge noch ein Besteck aufstellen, der Stellvertreter des Pfarrers sei da. Darauf nahm die stille Jungfer ein Tüchlein hervor und weinte. Johannes aber ging das sogenannte Ruckgäßlein hinunter. Das war ein prächtiger Spaziergang. Auf der rechten Seite hatte man nichts als die Hinterwände der Dorfhäuser, mit Küchenfenstern, Holzlauben und schmalen Gemüsegärten. Kein Mensch war da. Alles drängte sich im Dorf gegen die Stube und ihre Straßenfenster. Aber links vom Ruckweglein dehnten sich vom Fußweg die Wiesen gegen den Hügel hinauf und zum Tobel hinunter wie eine weite, grüne Freiheit. Tief innen mähten jetzt Männer und Frauen in einem wunderschönen, gleichmäßigen Sichelschwung das hohe Gras nieder. Leis aufrauschend fiel es hin, aber ward sofort von Jungfern und Schulkindern, die barfuß hinterher liefen, mit den dreizinkigen Gabeln aufgewirbelt. Die Eisenspitzen funkelten in der frühen Sonne, und das feuchte Gras wehte jedesmal wie ein üppiger Blumenstrauß auseinander und überstreute den beschnittenen Platz. Man sprach kein Wort. Die Arbeit allein redete ihre ruhige, feierliche, mächtige Sprache.

Dieses Bild erquickte den Kaplan, und der würzige, feuchte Geruch, der vom frischgemähten Gras bis ins Weglein floß, machte ihm den Atem leicht. Er vergaß alles Widrige. Beim Krummenhaus hielt Johannes an. Da lag der Großvater jener Mähderleute, ein altersschwacher Bauer, mit gichtischen Beinen und siechte langsam dem Tode entgegen. »Ich will ihm einen Besuch machen,« sagte sich der Kaplan. »Er ist zu dieser Heuzeit wohl viele Stunden tags allein.« Johannes winkte gegen den Hügel, wo ein Mähder die Sense schulterte und ihm entgegenging. Zurück, zurück! . . . macht nur weiter. Ich finde den Weg zum Alten schon allein. Auch von der Hinterseite! Der Bauer wandte sich zufrieden um. Bei so köstlichem Wetter ist keine Minute zu versäumen . . . Er hätte soviel kluges Einsehen diesem jungen, eigentümlichen Kaplan nicht zugetraut. Vielleicht hat er doch als Bub auch etwa heuen helfen müssen. Balzomli zog die Sense wieder aus, paßte den Moment genau ab und hieb dann im großartigen Takt der anderen das schöne, reife Gras in langen Schwaden nieder. –


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