Heinrich Federer
Jungfer Therese
Heinrich Federer

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11

Therese schälte Kartoffeln, als der Kaplan bei später Nacht heimkam. Schöne, lange, kein einzigesmal abgerissene Rinden schälte sie ab. Sie wandte sich freundlich nach Johannes um, der in den Küchenstuhl sank und noch ganz voll vom geschauten Tode war. Er erzählte, wie der Arme das Gesicht verzog und röchelte, dann lange Zeit nicht mehr atmete, so daß man glaubte, er sei tot, und plötzlich sich wieder schwer gegen diese ruchlose, langsame Marter des Todes aufbäumte. Es war entsetzlich.

Therese goß ihm indessen Kaffee in die große Tasse und schnitt ihm Brot und Käse dazu und schälte dann wieder prachtvolle Rinden. Es schien, sie lächle ein wenig und sie horche so einer schweren Geschichte viel zu gelassen und überlegen zu.

»So ist eben der Tod,« sagte sie endlich ruhig und fing an, die Kartoffeln in Schnitzel zu schneiden. Es krachte lustig dabei. – »Hochwürden müssen sich daran gewöhnen!«

»An den Tod gewöhnen?« fuhr der Kaplan fort, »wer kann das? Sie, Allerweltsjungfer, doch gewiß auch nicht! So etwas Grausiges bleibt immer grausig. Sie hätten das sehen sollen, ha! –«

Jungfer Therese lächelte mitleidig. Sie hatte mehr als hundert Sterbenden den Schaum vom Munde gewischt und hernach die Augen geschlossen. Sie hatte sterben sehen mit Trotz und geballten Fäusten und sterben mit ausgebreiteten, bewillkommnenden Armen; sterben wie gequälte Würmer und sterben leicht wie Vögel, die den Fittich hangen lassen, nochmals zu pfeifen probieren und zu Boden fallen. Unter ihren Händen war man an dünnatmiger Auszehrung, am wilden Typhus, an blutspeiender Lungenentzündung gestorben, aber auch an einem abgeschnittenen Bein, an einer Kugel durch die Stirne, an verschlossenem Magen, an mancherlei Krebs und an Gehirnerweichung. – O, sie kannte auch das Sterben der Wassersüchtigen, so ein mühsames, schweres! Dieses Kind von einem Kaplan, sie begriff es ja, mußte erschüttert sein. – Sie ließ ihn reden. Aber er wird sich diese Erschütterungen abgewöhnen müssen.

»Sie schauen mich so mitleidig an, was haben Sie? Sie lachen mich wohl gar aus?« eiferte der Kaplan.

»Was denken Sie auch, Herr Kaplan! Ich begreife Sie wohl. Aber wenn Sie einmal so alt sind wie ich, so werden Sie das Sterben auch viel ruhiger betrachten. Es wird Sie nicht mehr aufregen.«

»Nein,« rief der Kaplan entrüstet, »ich will hoffen, daß ich nie so ledern werde, die entsetzliche Majestät des Todes nicht mehr zu empfinden und nicht mehr zu fürchten . . . Ich will hoffen, daß ich ihn immer als etwas Abnormes spüre, etwas Außerordentliches, Schreckhaftes, etwas, das eigentlich nicht sein sollte, das . . .«

»Aber es heißt doch,« unterbrach das stramme Fräulein und hieb krachend eine harte Kartoffel auseinander, »es ist jedem Menschen gesetzt, einmal zu sterben. Das ist doch eine Regel und nichts von Ausnahme . . . oder abnom . . . verzeihen, Hochwürden . . . wie heißt das? Ich bin nicht gelehrt . . .«

»Abnormales! Sie verwechseln. Der Tod ist eine Ausnahme, eine Ausnahme von der Regel. Die Regel lautet: Der Mensch ist unsterblich. Und die Ausnahme sagt: Weil er aber von irdischen Lüsten sich regieren ließ und sündigte, so muß er an seinen Sinnen, will sagen, an seinem irdischen Teil, am Leibe, ausnahmsweise . . .«

»Aber wenn die Ausnahme so manchmal vorkommt wie die Regel!«

»So oft ich lateinisch rufen will: O Gott! muß ich sagen: Deus!! Das ist eine Ausnahme. Alle anderen Wörter machen ein e, nicht ein us. – O paroche! o Pfarrer! O acellane o Kaplan! Aber immer: O Deus! o Gott! Immer, also mehr als millionenmal! Und das ist doch eine Ausnahme.«

»Das ist Latein, das versteh' ich nicht, o sacellane! Aber gut, wenn die Ausnahme so oft vorkommt, als wäre sie die Regel, dann müssen wir uns eben an diese Ausnahme gewöhnen.«

»Ja, wenn wir stark wären wie ein Paulus oder ein Johannes. Aber bis wir rufen mögen: O Tod, wo ist dein Stachel? werden noch viele Friedhöfe voll.«

»Jeden Tag beten wir doch mehr als zehnmal: Bitt' für uns arme Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Absterbens, Amen. – So gewöhnen wir uns ans Sterben, Hochwürden! Übrigens möcht' ich Sie fragen, ist dem Meßmer der Tod des Remigi Egger schon angesagt worden, daß er noch das End' läutet? 's ist schon halb neun Uhr! . . . Nicht angesagt? . . . Gut, so lauf' ich schnell noch hinunter. Im Stüblein liegt allerlei von der Post.«

Therese sprang in die dunkle Nacht hinaus und nahm den Weg der Abkürzung halber zwischen den finstern Gräbern des Friedhofs zur Küsterei hinunter. Johannes aber erbrach voll Ehrfurcht einen Brief des Pfarrers mit dem erhabenen Stempel Rom. Cyrillus Zelblein berichtete, er fühle sich unpäßlich von der heißen Luft und komme in vierzehn Tagen wieder heim. Er warte nur noch darauf, den Papst zu sehen. Kardinäle habe er etliche, den großen, heiligmäßigen Rampolla in der Sakristei von Sankt Peter genüglich gesehen. Rote und violette Herren gebe es die Menge, mehr als Kapläne zu Hause! Und Kirchen! und Paläste! und Brunnen! Und was für Tenöre im Choral! Das ist das Schönste in Rom nach dem Papst und den Katakomben und den Reliquien. Die Kirchen gefallen mir nicht besonders. Es sind keine Stühle und fast keine Menschen darin. Aber Holzbeigen und Katzen. Und dann diese Schelme! Ganz Italien scheint mir eine einzige langfingrige Diebin zu sein. Meine größten und rotesten Schnupftücher hat man mir am ersten Tag gestohlen. Dann das Futteral zum Operngucker, dann – weiß Gott zu welchem Nutzen – das Proprium fürs Brevier. Ich lebe billig, esse fast nur Minestrone und Makkaroni und kaufe jede Stunde wieder ein Pfund Kirschen und Pflaumen. Das Pfund zwei Soldi! – Das Glockenläuten und Orgelschlagen und Beten ist hier bei weitem nicht so schön wie bei uns daheim. Ich habe Heimweh nach unserer lieben, einfachen Kirche, nach einem deutschen Lied und nach einem währschaften, rotbackigen Schweizerapfel. Alles hoffe ich bei Ihnen wohl anzutreffen. Halten Sie die paar Tage noch geduldig die Schlüssel der Parochia, bis sie Ihnen mit großem Dank und kollegialer Liebe abnimmt

Ihr ergebener Pfarrer Cyrill.

Unendlich enttäuscht legte Johannes diese römische Epistel weg. Sollte man glauben, das Papier komme von Rom? Wehte ein einziges, winziges Lüftchen der ewigen Stadt daraus? Welch ein Spießbürger war doch Pfarrer Zelblein in Lachweiler geworden! Er sieht vor den kleinen Verunzierungen der Tiberstadt ihre grandiose Seele nicht. Keine Silbe von der Antike, nichts von Renaissance, von Raffael oder Michelangelo! Nichts von Weltpolitik zwischen Vatikan und Quirinal, zwischen Staat und Kirche, Petrus und Erdenpolizei! Ja, ja, der gute Pfarrer hat Heimweh nach unseren Mostäpfeln. Der brave, liebe Mann – ist eben auch so ein Mostapfel, will sagen, ein durch und durch verbauertes Wesen!

Neben diesem Schreiben lag eine Ansichtskarte von Wilhelm Petra. Der machte zurzeit den Doktor juris und schrieb nur die drei Worte auf die Karte: Gedenke unserer Wette! – Dieser Willy war sein liebster Freund durch die acht Bänke des Gymnasiums gewesen. Sie blieben sich auch an den gesonderten Fakultäten treu. Es war abgemacht, daß jeder den Doktorhut erobere und, wer ihn früher über den Schädel klappe, dürfe vom Nachzügler eine Champagnerkneipe mit vier echten Havana verlangen.

Beim Anblick der lieben Schrift und mehr noch der Säulen am Universitätsportal und der thronenden Minerva auf dem Giebel ward Johannes nachdenklich. Er hatte längst auf die Ehre jenes gefeierten Hutes verzichtet. Seine Gesundheit, sein Geld und seine Obern warnten ihn vor dem Wagnis. Das ärgerte ihn eine Weile, aber war nun verwunden. Allein jetzt trat plötzlich mit einer sonderbaren, harten Schärfe vor seine Kaplanseele: wie weltfern und fremd er schon hier in Lachweiler geworden sei. Er kam sich merkwürdig alt und philisterhaft vor. Ob er wohl noch mit Wilhelm disputieren, noch im Stegreif eine philosophische These in der kleinen, feinen Korona der »Romania« gegen einen Juristen verfechten, ob er überhaupt noch mit Anstand und Schliff einem Souper bei Professor Jost oder dem Prinzen von Löwenstein beiwohnen könnte? Er zweifelte. Ja, es war fraglich, ob er noch einen sophokleischen Chor zu übersetzen vermöchte. Lieber das Sichere: eine der alten berühmten Thukydidesreden auswendig vortragen, in die er sterblich verliebt war und die er so oft rezitiert hat! Probieren wir es einmal . . . Wo Perikles sich so prachtvoll . . . im zweiten Buch . . . vor den erzürnten Mitbürgern rechtfertigt, die da! frisch: »So trat er denn vor und sprach folgendes: Parelthon de elexe toiade. Kai prosdechomen moi ta tes orges hu hymon . . . opos hym . . . nein, Dummheit, . . . es . . . es . . . ach, es geht nicht!« Nun also die Leichenrede 1, 35 u. f., die vielmal verdroschene: »Hoi men polloi ton eirektoton . . . . . . nein, nein . . . . . . ton enthada eirekoton ede . . . ede . . .« Ach was, das Griechische geht einfach nicht mehr. O Gott, o Gott, ist es schon so weit gekommen!

Er wagte sich nun auch an keine Tacitusrede oder Horazode, und es tröstete ihn gar nicht, daß ihm jetzt immer die banale Zeile des Sallust einfiel: »Omnes homiones, p. c., qui de rebus dubiis etc.,« die jeder Syntäxler schon herplappert. Nein, nein, er war am Versumpfen. Und da hatte er noch eben den alten Pfarrer einen Mostapfel gescholten. Ihm war, er runde sich selber schon behaglich feist und plump zu so einem Provinzgewächs aus. Ja, ich muß wieder mehr studieren, schreiben und in die Bücher gucken, sagte er sich bitter und riß sogleich die Schnur des Bücherpaketes auf. Band auf Band grub er heraus und blätterte darin und las und vergaß Zeit und Schlaf und alle Sorge. Er überhörte das Gute Nacht Theresens vor der Stube. Nun, das begreift man. Aber er überhörte sogar die langsamen, tiefen Schläge der Totenglocke.

Am folgenden Tage begann er eine Artikelserie: »Im geistlichen Frack durchs weltliche Land.« – Wie surrte die stenographierende Feder über das Sudelpapier! Es war erst das Vorwort. Aber wie es da schon heimlich funkelte und ferne Donner hören ließ. Er wolle reden von einer gesunden Weltlichkeit im Geistlichen und von einer gesunden Geistlichkeit im Weltlichen und wie sich die zwei Stiefgeschwister in ungeschiedener Freundschaft, ja, man dürfe sagen, in Brüderlichkeit umarmen sollen. – Er wolle reden vom Aberglauben, der wie Grünspan das Gold des Glaubens überziehe. Ein Kapitel solle lauten: Päpstlicher als der Papst, kirchlicher als die Kirche, also selbst Papst und selbst Kirche! – da wollte er einem falschen, eitlen Eifer heimzünden, Herr Gott Zebaoth, daß diese Quacksalber der Religion glauben, das Fegfeuer zu sehen. – O er könne jetzt nicht alles im voraus schon verraten. Aber es werde jeder Schuldige seine scharfe Prise Schnupftabak bekommen und darüber – hoffentlich zu seinem Heil! – gewaltig niesen. Der ganze Unwille des Kaplans, der sich da und dort angesammelt hatte, spielte schon in dieses kriegerische Vorwort hinein. Der Verdruß, daß ein Priester nicht flöten solle, daß man unreines Weihwasser behalte, die Sterbenden belästige und bespritze, zu wenig lüfte, beim Beten mehr singe und seufze, als denke, der Ärger über das wirklich elende Gehältlein des Schullehrers und über den Marterkasten von einer dunklen, engen, niedrigen Dorfschule, kurz alles, was der Kaplan von Therese oder den Dorfleuten oder im Eggerhofe oder in der dumpfen Schule bisher gelitten, spritzte jetzt schwarzblütig aus der Feder auf den Entwurf da.

Vielleicht sendet er einiges davon in eine große Zeitung, vielleicht bindet er alles zu einem gewaltigen Reformbuch zusammen, so oder so, diese Kapitel werden durchs Land rumpeln, wie eine Schwadron Reiter, Ergib dich oder stirb! –

Als Johannes sich endlich auf die Matratze warf kam er sich vor wie Herkules, da er bereits den halben Augiasstall gesäubert hatte.

Aber der Kaplan hatte vergessen, daß aller Eifer verzehrt, besonders wenn man der großen Flamme nur ein so schwächliches Wachs bieten kann wie er, der kränkliche, brustleidende, luftschnappende Reformator. Wirklich konnte er am Morgen kaum zelebrieren, so beklommen war er und so ununterbrochen plagte ihn das Husten von der Lunge herauf. Ganz glücklich war er, als er endlich im bequemen Küchenstuhl saß und einen starken Kaffee schlürfte und dabei zusehen durfte, wie Therese so still und gewaltig neben ihm an den langen Winterstrümpfen weitersäbelte und, wenn er kaum ausgetrunken hatte, gleich wieder die Tasse mit ihrem wunderbaren, dampfenden, atembefreienden Kaffee füllte.

»Heute dürfen Sie mir nichts schreiben,« sagte sie nur. Aber wie teilnehmend! So, daß Johannes fügsam den Kopf senkte und lispelte: »Keine Silbe, Fräulein!«

Am Nachmittag war ihm wieder köstlich wohl, und er verkroch sich aufs neue, wie eine Schnecke, in die neuen Bücher. Gerade saß er mit dem gewaltigen Papst Innozenz am Laterankonzil und wollte eine große Rede halten, auf daß Papst und Kaiser mitsammen an der Spitze eines Kreuzheeres nach Asien zögen und bald in Konstantinopel, bald in Ephesus, Smyrna oder Jerusalem, im Winter etwa auch in Alexandria residierten, bis der Orient wieder katholisch wäre, – da klopfte Therese nüchtern an die Türe, riß ihn aus allen Mitramännern heraus und schupfte ein Mägdlein herein, das einen Topf dicken, gelben Bienenhonigs in den Händen trug. Anneli, – ach, er wußte den Geschlechtsnamen nicht auswendig, aber das war sein tüchtigstes, sein bestes Kind in der fünften Klasse. Dazu ein Unband von Munterkeit.

»Schau, schau,« sagte er, Papst Innozenz mit der rechten Hand höflich ein bißchen auf die Seite schiebend, »was bringt mir das Anneli da! Soll das für mich sein?«

»Ja, Herrr Kaplan! und einen schönen Gruß von der Mutter. Das ist von unserem eigenen Korb, läßt sie sagen, nicht Kunsthonig. Sie sollen nur alle Tage einen Löffel morgens und abends nehmen. Das sei gut für die Lunge und gebe eine kräftige Stimme.«

»Weiß denn deine Mutter, daß ich auf der Brust so kra– so schwach bin?«

»Sie hat's gestern bei Eggers gehört. Sie sagte, der Kaplan habe so schwer schnaufen müssen und fast nicht laut vorbeten können. Und wir haben ein Vaterrrunserrr beim Nachtgebet für den Herrrn Kaplan beten müssen, ich und der Frrriedli!«

»Wie heißt du nur mit dem ganzen Namen?« fragte Johannes, von dieser Nachricht und dem surrenden rrr leise beunruhigt.

»Anna Peiler in Sempeln!«

Vor dem Kaplan drehten sich einen Augenblick Kind und Honighafen. Er mußte sich auf die Tischkante stützen. Der ganze Lateran verschwand. Vom Kreuzzug keine Rede mehr. Er wußte dem Kind weiter nichts als: »Danke, danke!« zu sagen. Aber er stopfte ihm ein sehr schönes Gebetbuch in den Sack, und es durfte nicht weniger als ein halbes Dutzend Heiligenbildchen auslesen und dazustecken.

Er versuchte dann zwar seine große kirchenpolitische Rede fortzusetzen, aber es ging nicht. Bald fehlte das Subjekt, bald das Prädikat im Satz. Die Kirchenväter schliefen ein. Papst Innozenz fing an, das Brevier zu beten. Die Sekretäre nagten am Federkiel oder fingen Fliegen vor Langweile. Die Rede . . . die Rede . . . es ging einfach nicht.

Nur ein lieber, hübscher, lächelnder Mönch, der bisher stumm gewesen, blieb munter. Er trug eine braune verstaubte Kutte und hielt sie an den Lenden mit einem Strick zusammen. Aus seinem Ärmel kroch ein Graswurm und schaute mit seinen schönen grünen Äuglein sehnsüchtig dem Einsiedler ins Gesicht, als fragte er: Franz, wollen wir nicht bald aus diesem Marmor wieder in unseren umbrischen Wald ziehen? Aber Franz machte: Pst! pst! . . . und ging dann auf Johannes zu. Sanft legte er die Hand auf seine Achsel und sagte mit einer Stimme wie Musik: »Nicht immer reden, Herr Kaplan, auch reden lassen! . . . Hat man dir nicht eben eine Rede gehalten?«

Dann verschwand der ganze heilige Traum, und Johannes sah nur noch die Bücher um sich und den goldigen Honighafen daneben. Der, ja der, hatte soeben eine starke Rede gehalten. Vor diesem Prediger zerrann alle große Rhetorik. Die Bücher verstummten. Frau Nanette Peiler mit diesem Töpflein behauptete das Schlachtfeld.

Es folgte eine Woche, die Sonne und Regen, Gewölke und Wind über die wehrlosen Menschen da hinten im Gebirge wirr durcheinander schüttelte. Johannes mußte sich oft über das Betragen des Spatzenvölkleins um die Kaplanei herum wundern. Regnete es, so fingen sie ein endloses Gelärm auf der Dachtraufe und in den Gartenbäumchen an. Aber wenn der Himmel wieder in seinen blauen Humor kam, dann wurden sie still, gingen ihrer Arbeit nach für Nest und Junge und piepten kaum hörbar, wenn sie etwa im Bogen über den Kirchturm flogen und dort ihren halbblinden Senior hinter dem Uhrenzeiger eine famos zusammengestohlene Mahlzeit kauen und verdauen sahen. Er stahl immer noch brillant, der alte Hocker!

Was gab es übrigens bei den Spatzen zu verwundern? Tat der Kaplan nicht genau so? Wenn alles mit seinen Pfarrkindern gemütlich und angenehm ablief, dann hatte er seine größte Freude am stillen Lesen hinterm Tisch, am Spazieren und wohl auch Schwärmen unter den dunklen Nußbäumen des Friedhofs, am treuherzigen Erwägen eines Psalms oder Predigtstoffes, am Sitzen bei den Kranken und am Zuschauen, wenn die Dorfplatzkinder am Abend Rößli und Reiter spielten. Dann schien er der friedlichste, artigste Mann, der Kaplan der Kapläne. Aber wenn etwas Mißliches oder Rauhes in seinen Tag fiel, so ein Unverstand von außen, oder auch von innen, dann fing das Zwitschern und Pfeifen an und dann ward ins Manuskript ein weiteres Kapitel geschimpft, bis zum gemütlichen Vesperkaffee.

Dann pflegte Therese, bis der Kaffee kalt würde, die Legende aufzuschlagen und mit ihrer schmetternden Stimme vom Tagespatron vorzulesen. Der Kaplan trank seine drei heißen Tassen währenddem aus, aß Brot und Käse und horchte behaglich zu, wie die Einsiedler gefastet, die Märtyrer gelitten, die Kirchenlehrer gekämpft hatten.

Es war der zehnte Heumonat, und man bekam zu hören, wie die zwei lieblichen Schwestern Rufina und Sekunda so fürchterlich gemartert wurden, ehe sie sterben durften. Theresens Stimme jauchzte. Keine Heiligen waren ihr so lieb wie die Märtyrer. Sie empfand eine gewisse Enttäuschung, wenn der Held gleich schon nach dem ersten Verhör enthauptet wurde, oder wenn ihn im Amphitheater der Leu sofort verschlang. Sie wünschte ihm eine größere, blutigere Glorie. Wenn darum so zwei starkmütige Jungfern, wie diese Schwestern, zuerst mit Bleikugeln gepeitscht wurden und doch nicht starben, dann in glühende Sessel sitzen mußten, dann mit Steinen am Hals in den Tiber fielen, aber wie schneeweiße Tauben aus dem Wasser tauchten und Psalmen sangen, so daß der ohnmächtige Tyrann sich nur noch mit dem Beil zu helfen wußte, dann kannte Theresens Verehrung keine Grenzen mehr. Dann triumphierte sie mit ihnen über Marter und Tod, lachte höhnisch über die Drohungen des Statthalters, legte einen unvergleichlich verächtlichen Ton in die Antworten an den Cäsar, sagte stolz: Schneide, brenne, zersäge, rädere, kreuzige, Tyrann, was ist das alles für ein Mückengekrabbel, wenn die Gnade meines Herrn bei mir ist! – Wurden dann die Martern geschildert, so kamen die Worte der Vorleserin spitzig wie Nägel heraus, ihre Sätze klatschten wie Peitschenhiebe, und ihr Atem brauste wie ein Feuer. Sie zog und zerrte am Buch und erst, wenn der Heilige das Haupt neigte und verschied und wenn eine fromme Matrone nachts kam und den Leichnam in die Katakomben tragen ließ, dann senkte sich die Stimme, ward stiller und feierlicher und kühler, und man merkte, daß die Legende nun durch die dunklen, unterirdischen Gänge ihrem Ende zuging.

Als Therese fertig gelesen hatte, blickte sie kühn über die Kaffeekanne und die Brötchen hinaus und sagte: »Wären doch heute noch solche Jungfern zu finden! und solche Männer wie Sankt Pantaleon am siebenundzwanzigsten und wie der heilige Apollinaris am dreiundzwanzigsten! Aber es gibt wohl keine solche Helden mehr!« Traurig schlürfte sie den kalten Kaffee aus.

Johannes hatte diesen Nachmittag gerade in einem Geschichtswerk gelesen, wie wenig Historisches sich aus den Märtyrerakten mit Sicherheit erweisen lasse, wieviel Wunderblumen die Sage und wie noch viel mehr Gedörn der Aberglaube in die einfache Geschichte habe wachsen lassen, wie nötig daher eine strenge Sichtung wäre. Kritischer als je hatte der Kaplan heute der Legende zugehört, und es reizte ihn unendlich, dieser hieb- und stichfesten Jungfer nun eins zu versetzen.

»Es hat auch damals schwache Leute gegeben, wie heute, Theres!« sagte er mit gesuchter Gleichgültigkeit in der Stimme. »Und dann muß man auch nicht jedes Wort der Legende als bare Münze hinnehmen.«

Das Fräulein sah den Kaplan verdutzt an.

»Es ist doch kein Dogma, daß dieser oder jener Heilige aus dem Feuer oder Wasser heil heraussprang. Mir kommt es wunderlich genug vor, daß so oft glühendes Blei und reißende Bäche und Gift und Tiger und Rad nichts ausrichten. Da hilft alles nichts, bis es dann heißt: securi percussus oder capite feritus est – zu deutsch: ist enthauptet worden. Wenn das Beil kommt, hört das Wunder immer auf. Nur in Zürich die heiligen Felix und . . .«

»Hochwürden! Hochwürden!« rief Therese beschwörend.

». . . und Regula, die sollen noch ihre Häupter ein Stück weit in den Händen getragen haben. Hm! Bedenken wir doch, wie die Menschen wundersüchtig sind! Hat nicht letzthin die Leichenbeterin behauptet, sie habe um acht Uhr, als der Remigi starb, jemand eifrig vor ihrer Stube die Schuhe abputzen, aber nur nie anklopfen hören. Da, ratsch, hab' sie die Türe aufgerissen. Kein Mensch war da. Aber schon läutete das Sempler Totenglöcklein. – Und später hieß es, der alte Michel Fronz habe schon drei Tage lang, wenn er am Eggerhaus vorbeiging, einen dicken Kerzenrauch in die Nase bekommen und ein seltsames Gemurmel wie von vielen Betenden vernommen. So geht das weiter. Schließlich ist einer alten Frau der Tote erschienen. Seht, Therese, so entstehen Legenden.«

Das alte quadratische Mädchen starrte den Kaplan entsetzt an.

»So sind die alten Legendenschreiber in guten Treuen recht wundersüchtige Plauderer gewesen und haben ihre Sache auch einem wundersüchtigen Volk ausgekramt. Solide, echte Akten von jenen römischen Gerichten hat man bei all diesen Martergeschichten nur selten.«

Endlich wird die Jungfer ihrer Verblüffung Meister und fragt streng: »Aber steht denn nicht das alles auch im Brevier, Herr Kaplan, im Brevier, das sie alle, vom Papst bis zum Lachweiler Kaplan, tagtäglich beten müssen?«

»Es steht wohl manches Blutige drin,« versetzte Johannes, »aber nicht so dick und schwer aufgetragen, wie in Eurer uralten Legende da!«

»Bitte, was steht denn von den zwei heiligen Schwestern drin?«

Der Kaplan las aus seinem schönen, noch funkelnagelneuen Pars Aestiva des Breviers: »Rufina et Secunda, sorores virgines Romanae – – hm, das ist's noch nicht, – – richtig hier: virgis caedi – das heißt niedergepeitscht – ardente balnei solio includuntur – hm, hm, balnei solio – – wird besagen: in glühende Schmelzöfen geschlossen – – saxo ad collum – Stein am Hals – – –«

»Sehen Sie, sehen Sie!« triumphierte Therese.

»In Tiberim projectae – – in den Tiberfluß geworfen – ab angelo liberatae – vom Engel gerettet – –«

»Da haben wir's, sogar ein Engel ist dabei.«

»Ach was!« rief Johannes und legte das Buch auf den Tisch, »auch die zweite Nokturn ist kein Dogma. Auch da gibt es Irrtümer . . . historische Fehler, Übertreibungen! Viele sehr tüchtige und sehr fromme Priester kenne ich, die da meinen, das Brevier müsse in diesem historisch-biographisch-hagiologisch-pragm . . .«

»Um Gottes willen, Herr Kaplan, reden Sie Deutsch!«

». . . in diesem Legendenteil einmal gründlich verbessert werden.«

»Aber diese Wunder alle mit dem Wasser und Feuer und Stein am Hals sind doch möglich. Bei Gott ist doch kein Ding unmöglich!«

»Gewiß, gewiß!« sagte Johannes magistral, »aber darum muß doch der liebe Gott nicht immer alle Möglichkeiten ausüben, die es gibt. Gott könnte auch einen Enthaupteten ins Leben zurückrufen. Aber das liest man in der Legende nie. Nie! – – Warum gerade dieses allerschönste Wunder nie? – Wißt, Jungfer Therese, daraus entnehme ich, daß der liebe Gott sich auch bei den Heiligen lieber mehr ans Natürliche als an die Ausnahme vom Natürlichen gehalten hat, – daß die Wunder nicht so aus der Historia heruntergeflogen sind wie Blätter vom Baum. – – Ich muß offen gestehen, ich zweifle immer ein wenig, wenn gar so Seltsames berichtet wird. Es gefällt mir noch immer am besten, wenn es, wie bei den meisten Päpsten der christlichen Urzeit, die noch nicht gefabelt hat, so groß und schlicht heißt: martyrio coronatus est – er ist mit dem Martyrium gekrönt worden. – Kann man es schöner sagen?«

»Mit dem Martyrium gekrönt worden,« sprach Therese langsam wie ein Gebet nach, – »das ist prächtig gesagt.« – Aber im anderen war sie nicht beruhigt. Ihr Gesicht blieb tief bekümmert. Jahrhundertelang waren doch alle diese großen, furchtbaren Wunder geglaubt, von Buch zu Buch hinübergeschrieben, von den Kanzeln gepredigt, von Päpsten und Bischöfen verehrt worden. Diese Legende hat ihre unzähligen Leser gegen alle Bosheiten des Lebens fast unüberwindlich gemacht. Warum fängt man gerade heute an zu zweifeln?

»Wir sind eben in einer fortschrittlichen Zeit, Therese,« erklärte Johannes, »wir wollen nicht bloß glauben, sondern auch wissen!«

Wissen! – Das war das kleine, alte Schlangenwort. Hochauf sprang Therese wie gestochen.

»Wissen, wissen! Ja, das geht jetzt durch die hochmütigen Menschen, aber wie ein Zwerg auf Riesenstelzen. Was wissen wir denn? Unser Chirurg im Hauptspital war doch sicher eine Berühmtheit. Aber manchmal hörte ich ihn am Seziertisch sagen: Das ist der Knochen . . . das ist der Nerv . . . das ist so und so warmes Blut gewesen. Aber nun weiß ich doch nichts. – Wieso nichts, Herr Doktor? – Weil ich das, was den Knochen und Nerv und das Blut warm und tätig macht, doch nicht kenne, das Leben, das Lebendigmachen. – Ja, was wir wissen, ist nur totes Zeug, nichts Lebendiges. Das Leben wissen wir nicht. – So sagte er, und so sag' ich auch. Wir wissen das Tote. Wo der und der Märtyrer geboren und gestorben ist, und wo sein Grab liegt, und wie alt er wurde und solches Zeug. Aber das Lebendige von ihnen . . . die Zeichen, die Kräfte, die Wunder wissen wir nicht, die hat kein Zivilstandsbureau vorgeladen und gestempelt und besteuert, so daß man heute davon noch immer die schönsten Papierzettel übrig hätte . . . nein, das wissen wir nicht . . . das müssen wir einfach jenen Alten glauben, die es uns erzählen. Sie haben's doch auch nicht erfunden oder gestohlen, sondern das war in der Luft, wie der Wind; das ging herum wie ein Licht, alle haben ein Flöcklein davon gesehen oder gefühlt, und endlich hat es einer aus allen heraus hübsch in eine Legende zusammen geschrieben . . . So mein' ich. Ich versteh es nicht gelehrt zu sagen, aber so ist's!«

»Nein, so ist's nicht! Was heute nicht geschieht, ist auch wohl früher nur eine große Seltenheit gewesen. Aber die Legende da tut, als wäre einem das Wunder an alle zehn Finger gesprungen.«

»Sie glauben zuwenig, Herr Kaplan!«

»Sie glauben zuviel, Therese!«

»Ist denn Christus nicht übers Wasser gegangen? Hat er nicht mit sieben Broten ein paar tausend Menschen gespeist? . . . Und machte er nicht aus dem Wasser Wein? . . . Und erweckte so viele Tote, den Lazarus sogar nach drei Tagen Verwesung? Fast jeden Sonntag lesen Sie uns, Herr Kaplan, ein Wunder von der Kanzel vor. Und daneben wollen Sie . . .«

»Das war Christus, Therese, Christus der Herr selber!«

»Aber doch Christus auf der Erde unten, mitten unter den Menschen unserer Art, Herr Kaplan!«

»Aber doch Gott und Gottessohn! Fräulein Legli!«

»Ja, und die hier im Buch sind des Gottes Diener und Brüder, Herr Kaplan! Christusbrüder. Tun, was er täte, wenn er noch auf Erden wandelte! Gerade wie Sie jetzt für den Pfarrer taufen und trauen müssen. Hat ihnen denn der Herr und Meister nicht selbst gesagt: Denen, die da glauben, folgen diese Wunder nach: sie treiben Teufel aus, reden mit neuen Zungen, heben Schlangen auf, und es schadet ihnen nichts, was sie Tödliches trinken, Kranken legen sie die Hände auf, und sie werden gesund, . . . haben Sie uns das nicht an der Auffahrt von der Kanzel gelesen, bei Markus 16, und dann gepredigt, das sei das letzte Wort des lieben Heilands gewesen, das allerletzte, Herr Kaplan, gerade von den Wundern?«

Jetzt stutzte Johannes und wußte schließlich sich nur mit dem Späßchen zu helfen: »Sie sind ja gewaltig wie ein Konzilsvater beschlagen! Zu Trient hätten Sie gewiß mit Salmeron die erste Geige gespielt.«

»Nicht, nicht! Spaßen Sie nicht!« wehrte Therese energisch ab; »wie ist's mit Markus 16?«

Johannes schwieg.

»Und wenn nun vom Heiland her auch Petrus und Paulus Wunder wirken, warum sollen es nicht auch die übrigen Apostel und warum nicht die Pfarrer und die Kapläne dieser Apostel können? . . . Und von diesen wieder die folgenden Pfarrer und Kapläne, und so weiter durch alle Zeit und Legende hinunter bis heute? Warum sollten Sie es nicht können, wenn der Sturm Gottes über Sie kommt? Ach, Herr Kaplan!« – das alte Fräulein hob flehend die Hände empor – »fangen Sie nicht an zu zweifeln! Alles ist wunderbar, in uns, um uns, über uns, alles, alles! Und wer da anfängt, nein zu sagen, der verliert Gott und damit das Wunder und damit alles zusammen! Auch den Himmel! Der Himmel ist auch ein Wunder!«

Da nach diesen heißen Worten Johannes noch immer nichts sagte, lief sie, wie gewöhnlich nach einem scharfen, ungelösten Disput, in den Schopf zu ihren lieben Hühnern hinunter. Bibibibibibibabababa bibibia . . . bibibiba bia bia! hörte der Kaplan sie rufen. Sie warf Maiskörner in strammen Schüssen unter das erschrockene Federvieh. Bibibia! . . . bibibia! . . . tönte es wieder, aber nicht wie Locken, sondern so scharf und heftig, als ob sie Blitze ausstreue.


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