Heinrich Federer
Jungfer Therese
Heinrich Federer

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14

Am folgenden schönen Tag brach Johannes früh nach Peraut auf. Denn so konnte er noch bequem drei Krankenbesuche am Weg durch den Weiler Tobelwies machen.

Aber als er sich ein Weilchen mit der alten Mutter Trunz unterhalten hatte und sah, wie sie immer wieder die dürren, kleinen Greisinnenhände faltete und auf etwas wartete, da begriff er sie und langte nach dem Pastor bonus. Doch er zog nichts als einen Haufen Manuskript aus dem Frackschoß, wovon er vielleicht etwas drüben vorlesen will, wenn das Doktorstübchen dämmrig, die Luft frei, die Gesichter willfährig sind. Krankenbüchlein und Stola hat er vergessen. – Nun, wenn man solche Quartbogen vollschreiben kann, wird man wohl auch ein Gebetbüchlein ohne Vorlage beten können. Er legte also die Hände ineinander und betete zuerst mit ganz einfachem, einfältigem Willen zu Gott. Aber dann flossen die Worte immer reichlicher, die Sätze wurden länger, rhetorische Wendungen und poetische Bilder kamen. Es war ein Gemisch von Predigt, Psalm und Gespräch. Johannes fühlte sich dabei gehoben und konnte es nicht gut fassen, daß die Kranke darauf so gewöhnlich nach einem so ungewöhnlichen Gebet Amen und Danke! sagte.

Bei Fräulein Rosetta Boser, die sich eben von den Gesichtsrosen erholte, betete er wieder so und erntete mehr Anerkennung. Rosetta benahm sich in Lachweiler von ihrem kleinen, zarten Herzen weg durch alle Gestalt und Hantierung bis hinaus zum gespitzelten Namen wie ein feines, städtisches Wesen. Sie besaß Vermögen und vierunddreißig ledige, in aller Stille nach einem Prinzen schwärmende Lebensjahre zu eigen. Gern las sie die Romane der Gräfin von Hahn-Hahn und tat genau, wie sie es vom Benehmen zierlicher, hoher Persönchen ihres jungfräulichen Mittelalters hörte. So fragte sie nie: Was? sondern immer scharf: Wie? – Wenn jemand ihr etwas erzählte, horchte sie mit verschleierten Augen zu, aber legte überaus nett den kleinen Finger an die halboffenen Lippen. Beim Lesen oder auch beim Beten in den Kirchenstühlen unterbrach sie sich oft, schob wieder jenen kleinen, wichtigen Finger zwischen die Seiten und stierte mit einer Art von schwärmerischem Weitblick fernhin über das Buch hinaus. Beim Handreichen machte sie mit dem Ellbogen jenen spitzen, gen Himmel geschrägten Winkel, den sie am Bahnhof in Zürich einmal bei fremden Herrschaften bewundert hatte. Ihr Lächeln war ein wohlgestimmtes Pianissimo von künstlichen, silbernen hihihihi! – So hatte im Institut in Freiburg die Literaturlehrerin gelächelt. Lyrisch-romantisches Lächeln hieß man das unter den Backfischen. Rosetta hatte auch schon zwei Gedichte, eins an die Teerose und eins an die Seerose in der »Lampe« unter dem Pseudonym Graziella veröffentlicht. Neben dem jungen Studenten in der »Krone« und dem Hütlifabrikanten und seinen zwei Töchtern verstand sie allein Französisch ins Lachweilerdeutsch hinein zu parlieren. Zwar sagten viele Dörfler Merssi für Danke! Aber Rosetta empfahl sich immer mit biäng Merssi! Wie gern bewies sie ihre Bildung durch ein sanftes st! st!, wenn unter den Kameradinnen eine überlaut lachte, oder schlug ungnädig die Augen nieder, wenn auf das kräftige Niesen eines Jüngferchens der ganze Chorus noch viel kräftiger schrie: Zur Gesundheit, Bäschen! – Unarten, Roheiten! – –

Jetzt beim Gebete des Kaplans hielt Rosetta den kellenrunden Kopf schräg geneigt, wie Magdalena unter dem Kreuz, und atmete rasch und tief und laut. Aber als Johannes, weiß Gott von welchem poetischen Geist inspiriert, immer mächtiger betete und von den Glutblüten der Krankheit sprach und das Weinen und Wimmern einen Nachtigallensang des Schmerzes nannte, als er vom Purpurmantel der Geduld redete und das Lager der Krankheit mit dem flammenheiligen Rost Sankt Laurentius' verglich, da hob das Fräulein ihr vernarbtes Gesichtchen immer höher, zog den Mund zuckersüß zusammen und sog die langen Honigfäden dieses Gebetes wie eine Verzückte ein. Beim Abschied sagte sie mit künstlich schwacher Stimme: »So hat mir noch niemand gebetet, hochwürdigster Herr!«

Johannes war nun im Zug und betete daher beim tauben Großvater Fehrler im gleichen gewaltigen Stegreif. Der Alte sah ihn nur verwundert an. Er verstand kein Wort. Aber er vermutete, daß da ungewöhnlich gebetet werde, fast wie auf einer Kanzel.

Er erinnerte sich, indem er die eifrigen Gebärden des Kaplans beobachtete, an einen Trommler in der Feldmusik der Perauter Landwehr, der beim Staccato fast die gleiche Vorstellung gemacht hatte wie Johannes. Er gibt sich Mühe, dachte der Alte, aber ich höre nichts, auch wenn er Kanonen an meinem Ohr abfeuerte.

Allein Kaplan Johannes legte das verwunderte, muntere Gesicht des Greises zu seinen Gunsten aus. Selbst der Taube hatte etwas Frisches aus seinen Worten herausgefühlt.

So hat mir noch niemand gebetet! Dieses Wort ging dem Kaplan wie Musik nach. Und er musizierte mit ein: Natürlich, ich sag' es ja immer, unsere hunderttausend Gebetbücher reden aus einem Herz voll Papier und Buchhändlergeist, aber aus dem lebendigen Herzen muß das Gebet kommen. Wahrlich, der Welt tut ein neuer Thomas von Kempis not. Ich bin es nicht. Aber vielleicht ein Vorläufer . . . Auch kein Johannes Baptista, o Gott, nein, aber vielleicht doch ein ganz kleines Geistchen von seinem Geiste . . . Und auch ich werde zu leiden haben wie alle, die sagen müssen: Weg mit dem, etwas Neues kommt!

Hoch oben am Saum des aus der Tiefe murrenden Flußtobels ging er nun und blickte vor sich ins ansteigende, hohe Gebirgsland hinein. Aber über dem wilden und engen Kessel, fast in gleicher Höhe, sah er auch schon das schmucke und breitsitzende Dorf Peraut herüberglänzen. Ihm graute vor dem Hinuntersteigen so tief und wieder Hinaufklettern so hoch. Und doch, er konnte nicht anders, die Schleifen der Straßen waren zu endlos, die jähe Abkürzung den Hang hinunter zu gewinnreich, gleich da hinunter, hinunter!

Es ging reißend, aber lustig in die Tiefe. Über den Fluß führte eine tiefbraune gedeckte Brücke, die in ihrem uralten Eichenholz immer noch eine gar mannliche Figur machte. Dem Kaplan Johannes saß ein eigentümliches, wollüstiges Grauen vor dem Wasser von Kindheit an in allen Nerven. Er fürchtete es und suchte es doch. Oft war er als Knabe vor dem schwarzen, nächtlichen Seespiegel seiner Heimat bis ins Innerste erbebt, und doch riß ihn ein schauerlich süßer Zwang noch beim Zubettgehen ans nahe Wasser. Es zog ihn wie eine gewaltige Faust, die man zugleich küssen und beißen möchte. Dann mußte er sich vor der ungeheuren, blitzendschwarzen Fläche platt niederwerfen, mußte bis hart an das nasse, unergründliche, alles verschlingende Seemaul kriechen, bis Aug' und Ohr schon voll tosendem, finsterem Ertrinkungstod waren. Nun warf er sich wie wahnsinnig auf und rannte heim und schaute vom Gesims seines sicheren und verriegelten Zimmers noch einmal zum hexenhaften, atembeklemmenden See hinab, aber stürzte gleich wieder mit verhaltenen Augen weg und tief ins Bett, damit er nicht noch einmal dämonisch hinuntergetrieben würde. – Das war wohl eine Nervenkrankheit gewesen. Aber auch jetzt war es noch immer ein entsetzliches Vergnügen für ihn, nachts ein dumpfes Wildwasser tief unten in einem Felsriß zu hören und einen kreideweißen, giftigen Strich davon bis zu ihm heraufblitzen zu sehen, etwa ein Bündnerwasser wie den Rhein in der Via mala oder in der Medelserschlucht. Als Student hatte er sein Vaterland nach allen Wasserläufen bereist, den Seen und den Eiswiegen zu. Aber nichts freute und entsetzte ihn so, wie die großen, lebensgefährlichen Wasserfälle. Von einem der unheimlichsten hatte er sich stundenlang nicht mehr trennen können, so bannten ihn seine Schrecken: das war der Aarefall an der schwarzen, höllenhündischen Handeck.

Auch jetzt konnte er sich nicht versagen, mitten auf der Brücke zur kleinen Luke hinaus zu gucken. Mit schauderhafter Wonne sah er sich mitten über dem schneeweißen Schaum der Strömung. Rechts und links gähnten tiefe, grüne Wasserlöcher wie Sphinxaugen; doch hier in der Mittelströmung kochte und spritzte und schoß es hochauf und warf silberne Schaumkronen und drehte wütende Wirbel. Wer da fiele! Gott, der bloße Gedanke macht schwindelig. Aber ein kühles, meertiefes Schnaufen stieg aus dem Gestrudel auf. Das tat dem erhitzten Kaplan wohl. Er sah jetzt die Abhänge empor. Da rechts war er also heruntergekommen. Kaum zu glauben. Und doch wie von selbst war's gegangen. Aber jetzt links wieder sechs Kirchturm hoch hinaufklettern. Johannes stöhnt. Aber die Kehren der Straße sind unerträglich lang, heiß und staubig. Nein, nein, Johannes, frisch! – abkürzen!

Langsam klomm er die steilen Geißwege empor. Bald war er bachnaß vom Schweiß, aufgeregt vom Blut und scharfen Pulsklopfen und atmete immer schwerer. Ein Schwalbenzug von Gedanken nach dem anderen schwirrte auf ihn los, zwitscherte die Dachkammer seines Gehirns voll und rauschte von dannen.

Eins gab ihm jetzt am meisten zu denken: hier die Abkürzungen auf jähen, kühnen Stiegen, – dort die unendlich langen, aber sichern Schleifen der Straße. So ist das Leben, sagte er sich. Zum Teil eine gedehnte, langweilige, aber gefahrlose Strecke, zum Teil eine freche, rasche Abkürzung. Hunderte sterben auf der Straße im Kot vor Langeweile, vor Phlegma, vor Müßigkeit. Aber tausende stürzen bei den Abkürzungen, die einen aus Waghalsigkeit, andere aus Angst. Doch welcher Tod ist nun schöner? – – im gemeinen Alltagsstaub oder von einem jähen Fels hinunter? – Da gibt es doch keinen Zweifel! Und wenn man unterwegs nicht stirbt, wo ist man dann glücklicher und reicher und schneller am Ziel? – O sicher mit der Abkürzung! Aber die Menschheit, scheint mir, geht in ihrer Narrenmehrheit die langen, müden Kehren, hinwärts, herwärts, rückwärts! Ist denn diese Bequemlichkeit nicht einzig für die Schwachen, die Kranken, für die so am Zipperlein leiden oder gar an Krücken gehen, kurz für die Krüppel des Lebens eingerichtet?

Und dennoch, nicht einmal die Gesunden wollen die Abkürzungen machen. Von Zeit zu Zeit muß darum so ein frischer, unverbrauchter und furchtloser Mensch kommen und rufen: Ihr langweiligen Wallfahrer, seht da, eine Abkürzung! – Ich zeige euch den Weg. Paßt auf, es geht schneller, schöner, heldenmütiger so! – Das sind Helden, die der phlegmatischen Menschheit, der armen Schnecke, immer wieder einen Stupf geben, sie wieder ein wenig vorwärts rücken und aus dem ewigen Andante des lieben, schleppenden Lebens für ein Weilchen auch ein Allegro oder gar eine Marcia con brio machen. – Johannes dachte, wie er da drüben hinunter gerannt sei, habe er selber so ein kolossales Allegro gespielt.

Aber nun ging es andante, andante, – largo, largo – empor. Ihm flogen die Pulse, und der erbärmliche Atem wollte beinah ausgehen. Jeder Meter Höhe kostete eine verzweifelte Mühe. Wenn er stillstand, war es ihm gleich wieder seligwohl. Sobald er den Schuh hob, begann das Elend. Kam er heute wohl da noch hinauf? In der Tiefe polterte das Wasser, die Federwölklein über den Hängen am ruhigen Himmel verschwammen vor seinen trüben Augen. Wo, wo ist doch die nächste Schwenkung der Straße? Dann weiß ich einen, der plumps hineinwalzt. Heldenmut ist schön . . . aber, aber . . .

Horch, also doch, es hat geklingelt, eine Geißel hat geknallt, richtig, das war also nicht das Klingling in meinem Blut. Da, von der Höhe kommt's. Eine bekannte Stimme ruft. Himmelerdenglück, Allspach! »Codex, wart! . . . ich helf' dir!«

Dr. Allspach ist dem Freund mit seinem Einspänner entgegengefahren, hat den Heraufkrabbelnden unten am Ranft erblickt, schleift ihn empor und bettet den Erschöpften ins weiche, schwellendgrüne Kutschenpolster. »Willst du dir wohl noch einen Herzschlag holen, du Wicht und Waghals in einer Person! Schweig, schweig, sei ganz ruhig! Müßt ihr Prediger denn immer das Wort haben! . . . pst! . . . da, mein Sacktuch!« – Er wischt ihm die großen, hellen Tropfen aus den Wimpern und vom Stirnhaar. »Da, Kind, jetzt schau, wie das noch in die Höhe geht! . . . Spürst du das Berglüftchen hier! . . . Und da drüben in der Höhe, hinten am Wildberg, siehst du deinen Bischofssitz? – Aha, nicht wahr, das ist eine andere Apostelreise! nicht mehr Philippus zu Fuß, sondern Philippus beim Kämmerer – aber bitte, ich bin schon getauft! Also lies mir keine Episteln vor, sondern laß dich mal ordentlich anschauen, du wunderbarer Mann der Kirche!«

Johannes drückte die Hand seines starken Freundes dreimal und viermal. Er konnte noch nicht reden. Alle Glieder waren schlaff und zitterten vor Schwäche. Doch nun ging es mühelos den Berg hinauf. Man konnte im Polster liegen und nur so zusehen. Die Aussicht wuchs mit jeder Straßenbiegung, aber Fluß und Tobel sanken immer tiefer und waren endlich wie von der Erde verschluckt. Johannes fühlte sich unsäglich erquickt. Er streckte seine langen Beine und lehnte sich behaglich an den Samtrücken und hoffte, daß die Straße noch recht viele Schleifen ziehen müßte bis Peraut. Dann schloß er glücklich die grauen Augen unter der Brille, und der Mann, der die Menschheit aus ihrem trägen Tramp in ein hurtiges Tempo stupsen wollte, duselte unter dem gleichmäßigen Getrappel der Hufe und dem süßen Geklingel des Geschirrs langsam und zufrieden ein.


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