Gustav Theodor Fechner
Die Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht
Gustav Theodor Fechner

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Die Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht

Gustav Theodor Fechner

Dritte Auflage

Leipzig, Druck und Verlag von Breitkopf & Härtel, 1919


Inhalt

Erster Teil. Grundzüge.

I. Eingang.

II. Historischer Gesichtspunkt.

III. Grundpunkte beider Ansichten einander gegenüber.

IV. Entwicklungsprinzipien der Tagesansicht.

V. Positive Entwicklungsmomente der Tagesansicht gegenüber den Negationen der Nachtansicht.

1. Gott.
2. Die sinnliche Erscheinungswelt.
3. Die Seelenfrage Sterne und Pflanzen.
4. Die Erde insbesondere.
5. Das Jenseits.
6. Das Übel in der Welt.

VI. Religiöse Ansichten und Aussichten.

VII.Glaubenssätze.

Zweiter Teil. Ausführungen.

VIII. Das Alte und Neue der Tagesansicht.

IX. Die drei Glaubensprinzipien der Tagesansicht.

X. Zur Theologie der Tagesansicht.

1. Sachliches.
2. Sprachliches.
3. Die Unveränderlichkeit des göttlichen Wesens.

XI. Zur Seelenfrage.

XII. Zur Lehre vom Jenseits.

XIII. Über die Vermittlung des allgemeinen und höheren Geisteslebens mit der Natur.

XIV. Zur Teleologie.

XV. Die Weltfragen der Lust und Unlust. Optimismus und Pessimismus.

XVI. Die Freiheitsfrage.

1. Allgemeine Gesichtspunkte.
2. Vertretung des Indeterminismus.
3. Vertretung des Determinismus.
4. Das Gebet.

XVII. Das Kausalgesetz. Der Begriff der Kraft und die Erfahrungsschlüsse.

XVIII.Prinzip der Tendenz zur Stabilität als Finanzprinzip der Welt. Psychophysische Hypothese der Lust und Unlust.

XIX. Was veranlaßt und berechtigt uns, eine Außenwelt anzunehmen und wiefern ist eine Erkenntnis ihrer Beschaffenheit möglich.

XX. Vermittlung der Tagesansicht mit der naturwissenschaftlichen Auffassung der Natur.

XXI. Grundverhältnis zwischen materiellen und geistigem Prinzip. Dualismus und Monismus.

XXII. Stellung der Tagesansicht zur Monadologie. Synechologische Ansicht der monadologischen gegenüber.

XXIII. Spiritistisches.

1. Stellung der Tagesansicht zum Spiritismus.
2. Stellung des Spiritismus zur Religion.
3. Persönliche Bemerkungen.

XXIV. Ergänzende Bemerkungen zur Begründung der Tagesansicht.

XXV. Schluß.

Erster Teil

Grundzüge

I. Eingang.

Eines Morgens saß ich im Leipziger Rosental auf einer Bank in der Nähe des Schweizerhäuschens und blickte durch eine Lücke, welche das Gebüsch ließ, auf die davor ausgebreitete schöne große Wiese, um meine kranken Augen am Grün derselben zu erquicken. Die Sonne schien hell und warm; die Blumen schauten bunt und lustig aus dem Wiesengrün heraus, Schmetterlinge flatterten darüber und dazwischen hin und her, Vögel zwitscherten über mir in den Zweigen, und von einem Morgenkonzert drangen die Klänge in mein Ohr. So waren die Sinne beschäftigt und befriedigt. Aber für den ans Denken gewöhnten reicht solche Befriedigung nicht lange, und so spann sich aus der Beschäftigung der Sinne allmählich ein Gedankenspiel heraus, das ich hier nur etwas weiter ausgesponnen und mehr geordnet wiedergeben will.

Seltsame Täuschung, sagte ich mir. Im Grunde ist doch alles vor mir und um mich Nacht und Stille; die Sonne, die mir so glänzend scheint, daß ich mich scheue, ihr mein Auge zuzuwenden, in Wahrheit nur ein finstrer, im Finstern seinen Weg suchender, Ball. Die Blumen, Schmetterlinge lügen ihre Farben, die Geigen, Flöten ihren Ton. In dieser allgemeinen Finsternis, Öde und Stille, welche Himmel und Erde umfängt, schweben nur einzelne, innerlich helle, farbige und klingende, Wesen, wohl gar nur Punkte, tauchen aus der Nacht auf, versinken wieder darein, ohne von ihrem Licht und Klange etwas zu hinterlassen, sehen einander, ohne daß etwas zwischen ihnen leuchtet, sprechen miteinander, ohne daß etwas zwischen ihnen tönt. So heute und so war es von Anbeginn und wird es sein in Ewigkeit. Was sage ich: vielmehr Milliarden von Jahren war es nicht kalt genug, und wie lange wird es dauern, so wird es zu kalt für den Bestand von solchen Wesen sein. Dann wird alles wieder ganz finster und stille sein wie vordem.

Wie aber konnte ich auf solch’ absurde Gedanken kommen? Ich kam auch nicht darauf; ich kam nur darauf, daß man darauf gekommen ist, und fand es seltsam, daß man so allgemein darauf gekommen ist. Sind es doch die Gedanken der ganzen denkenden Welt um mich. Wie sehr und um was sie zanken mag, darin reichen sich Philosophen und Physiker, Materialisten und Idealisten, Darwinianer und Antidarwinianer, Orthodoxe und Rationalisten die Hände. Es ist nicht ein Baustein, sondern ein Grundstein der heutigen Weltansicht, daß es so ist, wie ich sagte, daß es ist; glücklich, daß sie doch in etwas stimmt. Was wir der Welt um uns abzusehen, abzuhören meinen, es ist alles nur unser innerer Schein, eine Illusion, die man sich loben kann, wie ich’s noch jüngst gelesen; bleibt aber eine Illusion. Licht und Ton in der äußeren, von mechanischen Gesetzen und Kräften beherrschten, zum Bewußtsein noch nicht durchgedrungenen, Welt über die organischen Geschöpfe hinaus sind nur blinde stumme Wellenzüge, die von mehr oder weniger erschütterten materiellen Punkten aus den Äther und die Luft durchkreuzen, und erst, wenn sie an den Eiweißknäuel unsres Gehirns, ja wohl gar erst, wenn sie an einen bestimmten Punkt desselben antreffen, sich durch den spiritistischen Zauber dieses Medium in leuchtende tönende Schwingungen umsetzen. Über Grund, Wesen, nähere Bestimmungen dieses Zaubers streitet man; über die Tatsache ist man einig; und von allen Denk- und Erkenntnistheorien, in denen die Philosophie sich eben jetzt erschöpfen und leeren will, als wollte sie noch eine Philosophie gebären, führt keine zu einem Zweifel an der Richtigkeit dieser Tatsache, es sei denn, um den Zweifel für unlösbar zu erklären, oder die Welt in Stäubchen zu zertrümmern, die nur sich selber, aber nicht die Welt erleuchten.

Zwar der natürliche Mensch wehrt sich gegen diese Weisheit. Er glaubt, daß er die Gegenstände um sich sieht, weil es wirklich um ihn hell ist, die Sonne nicht erst hinter seinem Auge zu leuchten anfängt, daß die Blumen, Schmetterlinge so bunt sind, als sie ihm erscheinen, die Flöten, Geigen ihren Ton ihm schenken, nicht umgekehrt von ihm empfangen, kurz, daß es ein Leuchten und Tönen durch die Welt über ihn hinaus und von draußen in ihn hinein gibt. Aber er läßt sich von der Wissenschaft belehren, und glaubt nun um so klüger zu sein, daß er eine Illusion weniger hat. Die Illusion zwar bleibt und spottet seines Wissens wie dieses seiner Illusion spottet. Was von beidem hat endlich recht? Gewiß ist, daß die Illusion nie weichen wird; steht das Wissen, daß es eine Illusion ist, wohl ebenso fest, und ist es nicht vielmehr selbst eine Illusion? Braucht man doch das Sprichwort, daß Ehrlich am längsten währt, nur dahin umzukehren, daß, was am längsten währt, ehrlich ist, um es zu glauben. Naturam furca expellas, usque tamen redibit, wird das nicht auch von der natürlichen Ansicht der Dinge gelten?

Ja müßte nicht jene nächtige Ansicht vor sich selbst erschrecken, wenn ihr der Spiegel vorgehalten wird, meinte sie nur gleich, sie sei es selbst, was sie darin erblickt; und muß doch bei einigem Besinnen jeden ihrer Züge darin wiederfinden. Aber wird sie mit solchen Zügen vor der Welt bestehen können, wenn diese ihrerseits anfängt, sich zu besinnen? Vielmehr, hätte sich die Welt die ganze Unerbaulichkeit dieser Ansicht, die ganze Unwahrscheinlichkeit derselben, die ganze Schwäche ihrer Gründe von jeher so klar dargestellt, als mir in jener Stunde, sie hätte nie zur Weltansicht werden können. Nun ist Klarheit das Letzte in diesen Dingen, das Letzte wird aber auch die Klarheit sein.

In der Tat ist mein Glaube, daß, so sicher als auf die Nacht der Tag, auf jene Nachtansicht der Welt dereinst eine Tagesansicht folgen wird, die, statt sich in Widerspruch mit der natürlichen Ansicht der Dinge zu stellen, vielmehr damit unterbauen und darin den Grund zu einer neuen Entwicklung finden wird. Denn, schwindet jene Illusion, welche den Tag in Nacht verkehrt, so wird natürlicherweise alles Verkehrte, was damit zusammenhängt, und es ist viel, mit schwinden müssen, und die Welt in neuem Zusammenhange, in neuem Lichte, unter neuen positiven Gesichtspunkten erscheinen.

Damit das Licht über uns hinaus in aller Welt gesehen, der Schall gehört werde, muß es ein sehendes und hörendes Wesen dazu geben. Und hat man nicht schon sonst von einem Gott gehört, der in der Welt allgegenwärtig und allwissend waltet, Für die Nachtansicht aber ist seine Klarheit, wenn er überhaupt für sie noch ist, über den Dingen; darum die Welt unter ihm so finster, stumm und öde. Für die Tagesansicht ist die Welt von seinem Sehen durchleuchtet, von seinem Hören durchtönt; was wir selber von der Welt sehen und hören, ist nur die letzte Abzweigung seines Sehens und Hörens; und über allem, was er mehr als wir von der Welt sieht und hört, baut sich in ihm auch höheres als in uns. — Nach der Nachtansicht braucht Gott keines Lichtes, um zu sehen, keines Schalls, um zu hören, umgekehrt das blinde Licht, der taube Schall keines Gottes; und so kommt ihr leicht mit dem einen das andere abhanden und überwächst der Materialismus den Boden; indes nach der Tagesansicht beides, was sich braucht, auch sich fordert und eins das andre hält; damit sinkt der Materialismus unter den Boden. — So ändert sich von der Nachtansicht zur Tagesansicht die ganze Stellung Gottes zur Welt; und wie sich das Verhältnis des allgemeinsten und damit höchsten Geistes zur Welt ändert, ändert sich auch das Verhältnis aller Einzelgeister zu Gott und Welt.

Man fragt verwundert: bist du so kühn, die heutige Weltansicht umstürzen zu wollen? Ist nicht das selbst, daß die Welt bei ihrem übrigen Widerstreite in ersten, letzten und höchsten Dingen doch einig in jener Ansicht ist, die dir beliebt die Nachtansicht zu nennen, Beweis genug, daß sie darin mit Notwendigkeit über die natürliche Ansicht der Dinge hinausgegangen ist?

Es möchte sein, wenn sie nur nicht in allem, was mit dieser Ansicht zusammenhängt, uneins wäre. Also suche ich vielmehr den Grund, daß sie es ist, darin, daß sie in jener Ansicht einig ist. Zerstöre den Knoten, in dem Fäden zusammenlaufen und zusammenhalten, so bleibt allen die Lücke zwischen allen gemein; doch alle fallen auseinander; und wenn alle Welt durch einen fundamentalen Rechenfehler in dem Satze übereinstimmte, daß zweimal zwei fünf ist, so würden die verschiedensten vergeblichen und sich wechselseits dafür erklärenden Versuche gemacht werden, die ganze Weltrechnung in Übereinstimmung damit zu bringen. In solchen Versuchen sind wir heute noch befangen.

Tritt in die Hallen der Philosophen, wo das Welträtsel sich mit seiner eignen Lösung abquält. Was siehst du? Da streiten sich Dinge an sich, Ich und Nichtich, Kraft und Stoff, einfache Wesen, Absolutes, Begriff, Wille, Unbewußtes um den Namen dessen, was aus der Nacht und Stille heraus die Illusion einer leuchtenden tönenden Welt, ja des Raumes und der Zeit selbst, in uns erzeugen soll; und die Weisesten bieten für den Grund der Existenz, der, alles Scheines bar, alle Scheine wirft, doch eben nur jene Namen mit Bestimmungen, die aus der Scheinwelt selbst abstrahiert sind, und toben damit gegeneinander; die Gottesgelehrten aber toben wider sie und sind selber nur einig in dem, was sich am meisten widerspricht.

Zu jener hadesgleichen Welt weisen sie auf einen zugleich allmächtigen, allweisen, allgütigen Gott, der mit unbedingter Freiheit eine Welt schaffen konnte, wie er wollte; und er schuf diese Welt voll Finsternis, voll Geschöpfe, die einander verschlingen, voll Krankheit, Mißwachs, Wassers- und Feuersnot, Übel aller Art; und sie belehren uns, daß ein solcher Gott zu einer solchen Welt und eine solche Welt zu einem solchen Gott nicht passen wolle, sei nur teils Folge unsrer Sünde, teils Fehler unsrer niedrigen Erkenntnis. Denn obwohl allgegenwärtig und allwirksam, so daß ohne ihn kein Haar von unserm Haupte fällt, sei er doch viel zu hoch für uns, als daß wir etwas von ihm wissen können; um so fester aber haben wir an ihn zu glauben, und alle Widersprüche, die uns so erscheinen, uns durch seine Unbegreiflichkeit zu erklären.

Die Naturforscher aber lachen dazu, wissend, daß sie allein es sind, die etwas wissen, und froh der sicheren Wege immer mehr zu wissen. In den Nerven haben sie die sicheren Zeichen und Mittel der Empfindung und im Gehirn das Instrument des Geistes, worüber hinaus die Welt keins hat, keins ist. Ob es zwar Schwingungen in Luft und Äther über die Nerven hinaus gibt, sie wissen, daß Schwingungen nur in phosphorhaltigem Eiweiß Empfindung bedeuten, und neigen dazu, die Psychologie als einen Zweig der Chemie zu betrachten: aus Kohle, Phosphor und Sauerstoff im Protoplasma kommt der Geist. — Mit dem Protoplasma, als gemeinsamen Urstoff von Nerven und Polypen, beginnt eine zweite Schöpfung, die der geistigen Dinge; mit der Erkenntnis des Protoplasma fiel der erste volle Lichtstrahl in die Wissenschaft dieser Dinge; und nachdem die Jünger der Natur verlernt haben, Gott als Schöpfer dieser Dinge anzubeten, beten sie das goldene Kalb des Protoplasma dafür an. — Das Auge scheint zum Zweck des Sehens gemacht, die Naturforscher wissen, daß es nur dazu gebraucht wird, ohne zu irgendeinem Zweck gemacht zu sein. — Bei Philosophen und Theotogen treiben Freiheit und Notwendigkeit wie zwei umeinander kreisende Schmetterlinge ein unermüdliches Wechselspiel miteinander; die Naturforscher wissen, daß, wie alles in der Welt, auch Leben und Empfindung, einer unverbrüchlichen gesetzlichen Notwendigkeit gehorchen; die Welt über Menschen und Tiere hinaus aber tot, empfindungslos ist, weil sie derselben Notwendigkeit gehorcht. — Die geistigen Pferde meinen, daß sie den Wagen der Materie ziehen; die Naturforscher wissen, daß sie vielmehr vom Wagen der Materie fortgeschoben werden.

Ist das nicht wörtlich das Tiefste und Höchste und in geistigen Dingen Exakteste der heutigen Weisheit, wovon jedes schon in sich und jedes mit dem andern streitet. Und alles das fällt mit in jene große Lücke oder hängt so, daß man’s verfolgen kann, damit zusammen.

Stolz auf diese Weisheit voll Torheiten sehen wir mitleidig herab auf die einfache bescheidene Torheit der Neger und Türken und meinen, vergangenen Jahrhunderten weit voraus zu sein, weil sie von diesen Torheiten noch einige weniger hatten. Aber stolzer könnten wir auf unsre Zündhölzchen sein, die noch fortfahren werden, uns zu leuchten, wenn alle jene Irrlichter der Nachtansicht erloschen und versunken sind.

Schon einmal hat die Weltansicht im ganzen und großen gewechselt, wird sie nicht noch einmal wechseln können? Obwohl ich vorblickend meine, sie wird es nicht dadurch, daß sie auf neuer Stufe die früheren negierend aufhebt, sondern daß sie in den erhabensten Gesichtspunkt der heutigen Weltansicht den dafür preisgegebenen Reichtum der früheren aufhebt; dazu aber wird gehören, daß sie jene Nachtansicht aufhebt.

Gedanken dieser Art waren es, die mich in flüchtigem Zuge, sich immer mehr erweiternd und erhöhend, überkamen, als ich an jenem Morgen von der Bank ins Grüne blickte, nicht freilich damals zuerst, jedoch mit neuer Triebkraft, überkamen.

Andern Tages, von derselben Bank ausblickend, fiel mir zu allem vorigen noch folgendes ein:

Mein Auge verträgt bei jedem Rückfall seiner Krankheit nicht Lesen einer nahen Schrift, nicht Sonnenschein der Straße, nicht Sonnenflecke in der Stube. Aber die große ferne Schrift der Firmen zu entziffern, fühlt es als heilsame Übung; in je weitere Ferne es den Blick richtet, so mehr findet es sich erquickt, am meisten von dem Blick in den reinen Himmel, also wendet es sich immer von Zeit zu Zeit dahin. "Womit vergleich’ ich das?" fragt’ ich mich; alles Sinnliche läßt sich doch als Symbol von etwas Geistigem fassen. Und ich meinte, die zugleich Schönste und wahrste Auslegung des Bildes liege darin, daß, wenn den Menschen die irdische Gegenwart und Nähe bedrängt, er seinen Blick nur in die Ferne und Höhe zu richten braucht, um Trost zu finden, so sichereren, in je größere Weite und Höhe ihn richtet. In der Tagesansicht aber fand ich, sie weiter überdenkend, auch den Blick für diese Ansicht geöffnet, indes die Nachtansicht den Menschen bloß auf sie verweist; nur gilt es den Blick erst für die Tagesansicht öffnen.

Und noch eines Gedankens, den nicht der Schreibtisch erst geboren, und seiner Gelegenheit will ich einleitend zu dieser Schrift gedenken. Es war in Saßnitz am Meere, daß ich in den schönen Buchenwald gehen wollte, der von Saßnitz über die Waldhalle nach Stubbenkammer führt. Sie, die ein langes Leben mit mir gegangen, blieb, müde von den Gängen der vergangenen Tage und Jahre zurück, und Sagte: "ich lasse dich nicht gern allein gehen; du könntest dich verirren; ach, und wie wird es sein, wenn ich dich, in vielleicht nicht langer Zeit, ganz allein gehen lassen muß." "Wer weiß es", sagt’ ich, "ob du mich oder ich dich; aber laß uns nicht daran denken." Doch dachte ich daran, als ich allein in den Wald ging; dachte der unendlichen Liebe und Treue, die mich durch so lange Jahre geleitet hat. Die Buchen strebten himmelan, der blaue Himmel wölbte sich darüber, die Sonne warf ihre blitzenden Scheine hinein und vom Meere her ging ein Rauschen durch den Wald. Es war wie ein großer Akkord aus Himmel, Erde und Meer, der innerlich mit anklingen und in Gedanken der Tagesansicht ausklingen wollte. Aber die Gedanken des Herzens wehrten sich dagegen; ich dachte: kann deine Tagesansicht mit allen ihren hohen, weiten, lichten Ansichten und Aussichten auch nur dein eignes Herz in diesem Augenblicke befriedigen, und wozu dann ihre Ansichten und Aussichten, wenn sie das nicht kann, für niemand kann, es niemals kann. Sich eins mit einem andern Herzen fühlen, das ist die Befriedigung des Herzens; dazu braucht es überhaupt keine Weltansicht, und das kann sein trotz jeder Weltansicht; wie überall Platz für zwei Hütten aneinander ist, mag es in der Welt ringsum aussehen wie es will. — Aber alsbald erhob sich über dieser Stimme eine andre Stimme. Darf denn das Herz im Menschen allein seine Befriedigung wollen, besteht er doch nicht bloß aus seinem Herzen; und hat die Tagesansicht mit ihrem Blick ins Weite, Hohe und Lichte nicht auch dem Herzen eine Befriedigung zu bieten? Nicht eine solche gar, die über die nächste, die es für den Augenblick verlangt und vermißt, hinausreicht. Über der Befriedigung, sich eins mit einem andern Menschenherzen zu wissen, das unsre Leiden und Freuden zu den seinen hat, schwebt, nicht streitend damit, sondern schützend und schirmend, die Befriedigung, sich eins mit einem Wesen wissen, das die Leiden und Freuden aller seiner Geschöpfe, damit auch die zweier einander treuen Herzen, zu den seinen hat; und ist das nicht der Gott der Tagesansicht. Zwei Herzen aber, die jetzt eins sind, möchten es immer sein; und fürchtest du, daß der Tod die Bande, die jetzt eins an das andre knüpfen, zerbrechen wird, so ist es die Furcht der Nachtansicht; der Tod in der Tagesansicht sprengt vielmehr die Bande, die jetzt beide noch voneinander trennen.

Und geht uns nicht die Welt selbst ringsum mehr zu Herzen und ist mehr nach unserm Herzen, wenn die Sonne ihren Glanz, der Himmel sein Blau, des Meer sein Rauschen uns treulich mit vertraut, die Buche, ehe die Axt sie fällt, um uns zu wärmen, erst aufwärts strebt, um selber Licht und Wärme zu genießen, als wenn uns alles das aus der Welt nur anlügt, wie die Nachtansicht es lügt. Zur Wahrheit, die der Geist verlangt, verlangt das Herz nach Schönheit; kann es aber eine schönere Welt geben, als worin die Schönheit selber zur Wahrheit wird. Und wird sie es auch nach der Tagesansicht nur ganz in Gott für Gott, der alles sieht und hört, so hat doch, wer in seinem Sinne sieht und hört, sein Teil daran.

Mit diesen Gedanken gab sich das Herz zufrieden, und wird sich jedes Herz zufrieden geben können, was die Gedanken der Tagesansicht zu den seinen macht.

Was in dieser Schrift nachfolgt, ist nur die Ausführung der vorigen Gedanken, eine kürzere nach den Hauptzügen in diesem ersten, eine weitere nach einigen Hauptpunkten im zweiten Teile der Schrift.


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