Gustav Theodor Fechner
Die Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht
Gustav Theodor Fechner

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IV. Entwicklungsprinzipien der Tagesansicht.

Die drei festen Grundpunkte der Tagesansicht sind, wie sie selbst unter sich zusammenhängen, zugleich Ansatz- und Anhaltspunkte einer in sich zusammenhängenden und in sich einstimmigen Entwicklung. Den Kern und Keim, gleichsam das punctum saliens, dieser Entwicklung bietet jener zwischen oben und unten vermittelnde Gesichtspunkt, daß unser Gegenüber gegen Gott nicht ein äußeres, wie das des Teiles gegen den Teil, der Stufe gegen die Stufe, sondern ein inneres, wie das des Teiles gegen das Ganze, der Stufe gegen die Treppe, ist. Denn hiernach ist Gottes Wesen uns nicht mehr ganz unfaßlich; wir selber sind ein Hauch, ein kleiner Bruchteil, eine kleine Stufe und Probe davon. Nicht nur von dem Bestande, sondern auch von den inneren Verhältnissen des göttlichen Wesens ist uns damit in unsern eignen inneren Verhältnissen etwas unmittelbar zugänglich; und von hier aus stehen erweiternde und steigernde Gesichtspunkte zu Gebote, nicht zwar, Gottes Dasein zu erschöpfen, aber in der Erkenntnis seiner Daseinsweise und seiner Beziehungen zu uns und allen Geschöpfen weiter vorzudringen und höher aufzusteigen, Gesichtspunkte der Verallgemeinerung, Analogie, des Zusammenhanges, der Auseinanderfolge und Abstufung. Mit den Schlüssen auf die göttliche Daseinsweise aber hängen solche auf unsre jenseitige Daseinsweise zusammen, sofern unser jetziges Dasein selbst nur ein Teil, eine untere Stufe unsres ganzen in Gott beschlossenen Daseins ist und seine Fortsetzung darin zu suchen hat. Und nachdem die ganze Welt über uns hinaus zur göttlich beseelten geworden ist, erweitert sich auch der Kreis und erhöht sich der Stufenbau individuell beseelter Wesen über uns hinaus und hinauf.

Freilich solange die Nachtansicht noch auf der Welt lagert, gelten alle solche Betrachtungen und Schlüsse, die ganz neue, weite und hohe lichtbeschienene Welt, die sich dadurch an Stelle früherer Phantastereien, Mythik und Mystik eröffnet, selbst für solche, weil sich auf dem Grunde der Nachtansicht nichts davon bietet, mit ihren abstrusen Gangweisen nichts davon stimmt. Hab’ ich’s doch erfahren, und wird’ es noch erfahren. Aber Geduld, sie werden ihre Zeit finden; es ist nur noch nicht Tag.

Jene Weisen, von uns aus über uns hinaus zu schließen, sind im Grunde nur dieselben, mit denen wir überall vom Hier aufs Dort, vom Heute aufs Morgen schließen und womit alle Erfahrungswissenschaft vom Gegebenen aufs Nichtgegebene schließt. Wer freilich mag leugnen, daß sie einzeln genommen um so unsicherer werden, je weiter hinaus und höher hinauf sie vom Gegebenen aus ins Nichtgegebene führen. Also läßt die Nachtansicht sie nach den ersten Schritten fallen, um nur noch zu fordern und auf nichts zu fußen; wogegen die Tagesansicht, was den einzelnen an Sicherheit abgeht, durch die Zusammenstimmung aller und die Zustimmung praktischer Gesichtspunkte zu ergänzen sucht, um hiermit da, wo kein strenges Wissen möglich ist, demselben doch so nahe als möglich zu kommen. Als fest im Sinne der Tagesansicht aber hat nur das zu gelten, was widerspruchslos mit den Grundpunkten zusammenhängt und wozu die Gesichtspunkte von allen Seiten stimmen; das ist aber gerade das Allgemeinste und Wichtigste.

Hiernach wird die Tagesansicht zwar noch in ihrem Aus- und Aufbau schwanken, doch nicht ins Unbestimmte zerfahrer können, wenn sie nur wie eine zwar biegsame doch an beiden Endpunkten und in der Mitte festgehaltene Linie ihre drei Grundpunkte als feste Haltepunkte festbehält. Es werden auf dem Grunde der Tagesansicht neue Fragen entstehen, die sich auf dem Grunde der Nachtansicht gar nicht darbieten, und neue Rätsel, die noch der Lösung harren, aber eben nur solche, welche auf Grund der Ansicht entstehen können, nicht solche, welche sie untergraben. Es werden danach neue Sekten und Spaltungen sich bilden können, doch keine bis in den Grund und bis zur Spitze reichenden Zerspaltungen. Die Philosophie wird mit dem Ausblick in die Tagesansicht auf einen neuen Boden treten und neue Wandlungen beginnen, ihre Streitigkeiten auf dem alten Boden der Nachtansicht aber mit dieser selbst versinken. Die Naturwissenschaft wird ihre bisherigen sicheren Wege in Durchforschung der materiellen Welt fortgehen, aber sich dem darüber aufsteigenden Glauben in geistigen Dingen vielmehr unterbauen als dagegen setzen. Die Theologie endlich wird zu ihrem Glauben auch Prinzipien des Glaubens in der Tagesansicht finden.

Alles Allgemeinste, Höchste, Letzte, Fernste, Feinste, Tiefste ist überhaupt seiner und unsrer Natur nach Glaubenssache. Daß die Gravitation durch die ganze Welt reicht und von jeher gereicht hat, ist Glaubenssache; daß überhaupt Gesetze, durchs Endliche verfolgt, ins Unbegrenzte von Raum und Zeit reichen, ist Glaubenssache; daß es Atome und Undulationen des Lichtes gibt, ist Glaubenssache; der Anfang und das Ziel der Geschichte sind Glaubenssache; sogar für die Geometrie gibt es Glaubenssachen in der Zahl der Dimensionen und den Sätzen für die Parallelen. Ja, streng genommen, ist alles Glaubenssache, was nicht unmittelbar erfahren ist, und was nicht logisch fest steht. Ein jedes Wissen um das was ist, setzt sich fort in Glauben und muß sich darein fortsetzen und endlich damit abschließen, damit es einen Zusammenhang, einen Fortschritt und Abschluß des Wissens selbst gebe. Doch kann ein Glaube besser gestützt und selbst besser sein als der andre. Der beste Glaube endlich der, der am widerspruchslosesten in sich, mit allem Wissen und allen unsern praktischen Interessen besteht, und als solcher wird er auch die Zukunft für sich haben, indem er die Widersprüche zwischen den verschiedenen Glaubensrichtungen, die seither bestanden und ringsum bestehen, vielmehr versöhnt als teilt.

Also reichen auch alle Erfahrungsschlüsse nicht hin, die Tagesansicht in ihren höchsten und letzten Sätzen mit der Sicherheit des pythagoräischen Lehrsatzes abschließend zu begründen. Was an der letzten Sicherheit noch fehlt, ist Glaubenssache. Genug doch, wenn das, was noch Glaubenssache bleibt, in jener günstigsten Weise das, was sich wissen läßt, einerseits abschließend ergänzt, anderseits zu seiner Stütze behält.

Wie wenig gibt es überhaupt dessen, was wirklich erwiesen oder bewiesen ist, vom Wichtigsten sogar, woran wir uns zu halten haben. Was ist von der ganzen Religion bewiesen? Nichts. Was auch nur davon, daß dein Bruder, dein Nachbar, dein Hund eine Seele hat? Nichts. Oder daß dem, was du von einem Baume siehst, ein Baum draußen entspricht, daß die Sonne morgen wie heute aufgehen wird, daß Alexander gelebt hat? Nichts von alledem ist in strengem Sinne bewiesen, noch beweisbar; doch müssen wir an all’ das und dergleichen glauben; wir leben, wohnen sozusagen ganz in einer Welt des Glaubens, können die nächsten und vollends die letzten Schritte nicht tun ohne Glauben. Also wären Prinzipien des Glaubens sogar wichtiger als des Wissens, wenn nicht zu den Prinzipien des Glaubens selbst gehörte, sich auf das Wissen zu stützen, soweit es reicht, nur nicht allein darauf zu stützen; doch liegt darin von den Glaubensprinzipien der Tagesansicht eins. Nun aber reicht das Wissen nirgends soweit, daß wir damit ausreichten; und so ist ein zweites Glaubensprinzip der Tagesansicht, zu glauben, was wir brauchen, wozu als drittes noch das historische Prinzip des Glaubens trittDiese, hier nur kurz berührten, drei Prinzipien sind bestimmter ausgedrückt in Abschn. IX, ausgeführt und in Folgerungen entwickelt in den "drei Motiven und Gründen des Glaubens".. An diesen Prinzipien hat man die Lehre der Tagesansicht zu messen, denn sie ist eben eine Glaubenslehre. Aber freilich, wie kann man sie danach messen, wenn man, statt Glaubensprinzipien überhaupt anzuerkennen, als Theologe im Glauben nur ein Geschenk von oben, als Philosoph nur ein Prinzip der Unsicherheit sieht.

Der Nichtphilosoph verschmäht in der Tat prinzipiell den Glauben, will ihn durch das Wissen ersetzen, strebt nach absolutem Wissen. Nun haben sich ganze Berge absoluten Wissens nebeneinander mit ihren Gipfeln weit auseinander erhoben, alle in gewaltigen Geburtswehen begriffen, nur ist noch keine lebensfähige Maus daraus hervorgekommen. Und so sagt eine Maus dagegen: eine Maus kann absolut nichts als von sich selber wissen; zu wissen, daß man nichts als dies weiß, ist das einzige gewisse Wissen. Aber damit ist es nun eben bei der Maus geblieben.

In der Tat, indes der Tagesphilosoph das Wissen, daß dem Menschen ein unmittelbares Wissen nur von sich selber möglich ist, zum Ausgangspunkte alles vermittelten Wissens und darauf gestützten Glaubens macht, sucht die Nachtphilosophie dem Wissen das Auslaufen in den Glauben teils dadurch zu ersparen, daß sie diesen Ausgangspunkt ganz aufgibt, um das Wissen nur von absoluten Standpunkten aus zu entwickeln, die vom an sich selbst Gewissen nur zum Gewissen führen, bisher doch bloß zum Streit darüber geführt haben, teils daß sie sich in diesen Ausgangspunkt ganz einsperrt, um sich nur in die, das Ding an sich nichts angehenden, Formen des Menschengeistes zu vertiefen, indes der Mensch doch selbst ein Teil des Dinges an sich ist. Insofern sie aber den Glauben praktisch braucht, läßt sie ihn auch nur aus praktischem Gesichtspunkte neben dem Wissen oder als Korrektiv seiner Trostlosigkeit und Leere, nicht als Fortsetzung und Vollendung des Wissens, gelten. Solchergestalt unvermögend, sich in der Philosophie recht zusammenzufinden, haben sich Glauben und Wissen in Theologie und Naturwissenschaft vollends mit dem Erfolg geschieden, daß die eine die Natur aus Gott, die andre Gott aus der Natur ganz ausgeschieden hat. Der letzte Erfolg von all’ dem aber ist, daß keine von den dreien mit der andern, und die Philosophie am wenigsten in sich selbst zufrieden ist.

Sollte ich hiernach der heutigen Philosophie ein Standbild errichten, so würde ich sie als Penelope darstellen, in doppelter Hinsicht. Einmal insofern, als sie ihr selbstgewebtes Gewebe auch immer selber wieder auflöst, und dann, weil sie viele Freier hat, von denen sie noch keiner heimgeführt hat. Sie zechen miteinander, treiben Kampfspiele miteinander, ohne einander tot zu machen, und warten des Tages, der alle zusammen erlegt.

Und hältst du dich denn mit deiner Tagesansicht einer Welt gegenüber für den allein Weisen? Aber wie sollte der Tag die Kraft haben, die Nacht zu überwinden, wenn er sich zu bescheiden dazu fühlte?

Doch gebe ich es jeder Kritik preis, daß hier die ganze heutige Weisheit von allgemeinsten, höchsten und letzten Dingen in den einen Topf der Nachtansicht zusammengeschüttet wird, um sie in eins wegzuschütten. War nicht zuvor viel Gutes herauszulesen? Aber wie ließ sich über der Arbeit des Herauslesens der Topf im ganzen handhaben. Und was tut’s; das Gute geht nicht deshalb unter, daß es mit weggeschüttet wird, sondern findet sich von selber wieder in den neuen Topf mit ein.

Noch eins. Überall begegnet sich die Tagesansicht mit der Frage über den Zusammenhang zwischen materiellem und geistigem Gebiet, Leib und Seele, geht aber, statt von irgendeiner, selbst noch fraglichen, Lösung der Frage nach Grund und Wesen dieses Zusammenhanges, vielmehr von fraglosen Tatsachen der Beobachtung in und an uns selbst aus und verallgemeinernd, erweiternd, steigernd darüber hinaus nach Maßgabe als das Gebiet der Betrachtung sich verallgemeinert, erweitert, steigert, um damit zu den kleinen Tatsachen in uns die damit zusammenhängenden größeren über uns hinaus zu finden. Nur um diese ist es ihr zu tun, mag man dann die größeren über uns hinaus wie die kleineren in uns selber deuten. Wogegen das vielköpfige Ungeheuer der Nachtphilosophie von den Gedanken ihrer vielen Köpfe über die Frage nach Grund und Wesen jenes Zusammenhanges ausgeht, und daher auch nicht darüber hinausgekommen ist.

Gibt es zwei Elektrizitäten oder nur eine? Wollte man von dieser Frage und ihrer Entscheidung aus in die Elektrizitätslehre hineinkommen, man würde nicht weit, oder vielmehr zu gar nichts kommen. Hingegen hat sich die Elektrizitätslehre zwar nicht ohne die Frage, aber weder auf Grund der Frage noch ihrer Entscheidung — vielmehr ist die Frage noch heute nicht entschieden — entwickelt, und ist damit vom kleinen Bernsteinstückchen, was Spreublättchen anzog, zur Elektrisiermaschine, galvanischen Säule, dem Blitzableiter und dem Telegraphennetze, was die Erde umspannt, gelangt. So kann die Tagesansicht die Frage, ob Geist und Materie, Leib und Seele im Grunde nur ein Wesen oder zweierlei Wesen sind, vorerst unentschieden lassen, und doch Tatsachen, die unabhängig von dieser Frage sind, nach Erfahrung und Erfahrungsschluß verfolgen. Und so stellt auch dies ganze Buch die Frage, ob Dualismus oder Monismus, dahin, um nur in einem der letzten Abschnitte in einige Betrachtungen darüber einzugehen, die man entscheidend finden mag oder nicht; weder die Grundpunkte noch Folgerungen der Tagesansicht werden wesentlich davon betroffen.


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