Gustav Theodor Fechner
Die Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht
Gustav Theodor Fechner

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XIII. Über die Vermittlung des allgemeinen und höheren Geisteslebens mit der Natur.

Unstreitig ist es für den Menschen am wichtigsten, die Beziehung Gottes als Geist oder nach seiner geistigen Seite zum Menschengeiste in Betracht zu ziehen; selbst wenn man den Namen Gottes in gewissem Sinne für den Inbegriff aller Existenz brauchen will (vgl. Kap.X.3.), und für die Religion liegt jedenfalls das Interesse der Betrachtung nur auf dieser Seite. Sofern es aber doch Beziehungen des göttlichen wie menschlichen Geistes zur materiellen Welt gibt, läßt sich immer auch nach diesen fragen; und sofern die Tagesansicht zur religiösen ihre, der Natur zugewandte, Seite hat, das Verlangen an sie stellen, die Beziehungen des göttlichen Geistes zur Natur in Zusammenhang und Einstimmung mit denen des menschlichen zu fassen. Nachdem dies nun schon früher (Kap.V. 2) in betreff des sinnlichen Erscheinungsgebietes geschehen, gälte es noch, die Betrachtung auch auf das höhere geistige Gebiet zu erstrecken, wüßten wir nur mehr von der materiellen Vermittlung der höheren geistigen Tätigkeiten in uns selbst; denn es kann sich doch nach den Prinzipien der Tagesansicht nur um eine erweiternde und steigernde Betrachtung von hier aus handeln. Wie dem nun auch sei, so mag wenigstens das, was wir uns doch über diese Vermittlung denken, hier in einige weitere Gedanken fortgesponnen werden, ohne andres Gewicht darauf zu legen, als zu zeigen, daß der Faden der Verfolgbarkeit der Verhältnisse von uns aus über uns hinaus auch in dieser Beziehung nicht abreißt. Ließe eine entwickeltere Psychophysik die Ausgangspunkte der Betrachtung anders fassen, so würden sie sich natürlich von selbst auch anders fortspinnen. Übrigens treffen die sich hier darbietenden Betrachtungen wesentlich mit solchen des vorigen Abschnittes zusammen. Gott und Jenseits stehen nun einmal überall auf demselben Blatte.

Die Organe unsrer Sinne und unsres äußeren Tuns sind durch sich kreuzende und mannigfach verwebte Bahnen schwingender Bewegung, denn dafür hält man doch die Nervenfäden, verbunden, kurz wir haben ein Gehirn; und alle geistigen Tätigkeiten, welche die Sinnlichkeit übersteigen, haben wir durch das verwickelte Spiel der Bewegungen in diesem Hauptorgane unsres materiellen und geistigen Lebens vermittelt zu halten. Nicht not, diese Vermittlung als einseitige Bedingtheit des Geistes durch den Körper zu fassen; denn sowenig ein Gedanke ohne ein unterliegendes Spiel materieller Tätigkeit im Gehirn, könnte dieses Spiel, so wie es besteht, ohne den Gedanken zustande kommen. Verhältnisse niederer und höherer Ordnung zwischen den materiellen Bewegungen mögen mit solchen der geistigen Bewegung im Verhältnis der Bedingtheit gedacht werden. Bestimmteres läßt sich kaum darüber sagen. Nun aber alle Gehirne und alle Gestirne sind noch einmal nach demselben Prinzip durch sich kreuzende und verwebte Bahnen schwingender Bewegung verbunden, und keine Verwicklung dieser Bewegungen kann in uns auf so hohe Ordnung steigen, als ihre Verwicklung darüber hinaus im irdischen und über das Irdische hinaus im himmlischen Gebiete, weil keine Bewegung in uns selber erlöschen kann ohne sich nach außen in einer Fortwirkung zu übertragen und mit andern dahin übertragenen aufs neue zu verwickeln, keine im irdischen Gebiete vorgehen kann, ohne den Äther darin und folgweis darüber hinaus mit zu rühren, hiermit ein Element zu einer höheren Verwicklung beizutragen. Der Physiker freilich verfolgt nicht viel mehr als die einfachsten Schall- und Lichtwellen durch die glatte Luft und den glatten Äther; aber Luft und Äther sind in der Tat nicht glatt, sondern mannigfacher mit verwickelteren Schwingungen durchwebt, als unser Gehirn. Jeder Schritt, jede Handbewegung, jedes Wort, jeder Blick eines Menschen, und dazu jede aus dem Innern desselben nach außen fortgepflanzte Erzitterung löst eine davon abhängige schwingende oder wellenartige Bewegung in der Welt um den Menschen aus, die sich mit den, von andern Menschen herrührenden und den unabhängig von Menschen in der Welt vorgehenden Bewegungen verwickelt; und die Ordnung und Verwebung der Bewegungen im Menschen selbst kann nicht vernünftiger sein, als draußen, weil ja, was davon in ihm und außer ihm besteht und vorgeht, in Zusammenhang und gegenseitiger Abhängigkeit entsteht, besteht und sich entwickelt. Drinnen wie draußen ein scheinbar unlösliches Gewirr von materiellen Bewegungen, die durcheinander strahlen; aber das Wirrsal besteht hier wie da bloß für den gegenüberstehenden, die Verwicklung von außen betrachtenden, nicht für den sie selbst mit seiner Klarheit durchdringenden, Geist. Denn es ist zwar bis jetzt noch unerklärt, wie der Geist es anfängt, aus dem Gemisch verschiedenster Gestalten, die durch denselben Sehnerv, und der verschiedensten Reden, die durch denselben Hörnerven in Form von Schwingungen eingedrungen sind und sich notwendig in ihrer Fortpflanzung durch das Gehirn gemischt haben, doch ein Reich von klaren Erinnerungen und Begriffen zu erbauen (vgl. Kap. 12); aber das Faktum besteht drinnen, und so wird es auch draußen bestehen können.

Ein Unterschied des Drinnen vom Draußen liegt freilich darin, daß die Organisation des Gehirns den Bewegungen drinnen bestimmtere Wege anweist, als die Bewegungen draußen zu durchlaufen finden. Aber das verurteilt uns nur zu einer von vornherein bestimmter vorgeschriebenen und hiermit beschränkteren Entwicklung des höheren Geisteslebens als die Welt über uns hinaus. Auch die Bahnen der Bewegungen draußen aber sind nicht schlechthin unbestimmt, sondern durch die natürliche und vom Menschen fortentwickelte Einrichtung des irdischen Reiches und über dieses hinaus durch die Einrichtung des ganzen Himmels in nur weiteren Grenzen bestimmt. Und drinnen wie draußen ändert sich die Einrichtung, von welcher die Gangweise der Bewegungen abhängt, durch die Wirkung der Bewegungen selbst mit der Zeit; das Gehirn des Erwachsenen ist ein andres als das des Kindes und die Erde heute eine andre als im Urzustande. So sind alle Unterschiede in dieser Hinsicht nur relativ, alle aber zugunsten einer freieren, weiteren und höheren Entwicklung des Geisteslebens in der Welt, als in uns, den Teilen der Welt.

Vermissest du nun draußen die zentralen Ganglienkugeln deines Gehirns, du hast dafür die leuchtenden Gestirne mit deinen eignen Ganglienkugeln drinnen; und was tut’s, daß die Bewegungen draußen an keine Eiweißfäden gefesselt sind, der nackte Lichtstrahl draußen sich in der Sekunde durch Tausende von Meilen fortbewegt, indes seine Fortsetzung in deinem Nerven träge schleichtDie (Erregung eines Nerven im lebendigen Menschen pflanzt sich in der Sekunde um weniger als 200 Fuß fort.. Ist es ein Nachteil gegen dich? Das Große soll überhaupt nicht das Kleine, das Ganze nicht den Teil wiederholen, und wie stände es um die Welt, wenn es auch im großen und ganzen so in ihr schliche und jeder Lichtstrahl seinen Rock brauchte, wie in dir, dem kleinen Bruchstückchen der Welt. Man will Gott nicht anthropomorphisieren, und o Widerspruch, weiß ihn im ganzen Himmel nicht zu finden, weil man ihn sichtlich übermenschlich darin findet.

Um durch ein Bild, was mit einem Teil der Sache selbst zusammenfällt, das ganze Sachverhältnis zu erläutern, so denk’ an eine Saite, die ihre Schwingungen an die Luft überträgt; alle Saiten einer Violine oder Harfe tun es, alle Violinen und Harfen tun es; und alle übertragen ihre Schwingungen an dieselbe Luft. Je höher die Verwicklung der Schwingungen durch ihr Zusammentreffen über die Saiten, Violinen, Harfen, Flöten usw. hinaussteigt, in so höheren Tonbeziehungen erklingt das Spiel; aber die Schwingungen müssen auch dazu über die einzelnen Saiten hinausgreifen, in sich selber geben diese noch keine Harmonie und ein einzelnes Instrument noch keine Symphonie; dazu gehört das Zusammentreffen der Schwingungen über sie hinaus. Die Geschöpfe und über den Geschöpfen die Gestirne sind Instrumente, mittelst deren der, das Ganze der Dinge beseelende und beherrschende, Weltgeist ein Spiel ausführt, dessen Empfindung in die Instrumente selbst fällt, soweit sie es selbst hervorbringen und es von andersher in sie zückgreiftJedes Instrument nämlich klingt von dem Spiel der nicht zu entfernten andern schwach mit an, doch vorzugsweise nur von solchen Tönen, die mit denen, welche es selbst hervorbringen vermag, verwandt sind., indes er allein es ganz und voll zugleich wie es in den Instrumenten und über allen hinaus besteht, hiermit auch dessen allgemeinste, höchste und letzte Beziehungen empfindet.

Man meint wohl, das geistige Gebiet habe doch etwas über das materielle Gebiet hinaus, dem dieses nicht mit etwas Entsprechendem oder bedingungsweise Zugehörigen nachkommen könne; d. i. die Selbstreflexion, womit eine geistige Tätigkeit sich selbst übersteigt. Wir denken, empfinden etwas, und können dies Denken, Empfinden selbst in einem höheren Akt uns gegenständlich machen. Wenn irgendwo, sei hier der Punkt, wo sich das geistige Gebiet frei über das materielle erhebe. Wohlan, gibt es überhaupt etwas im Menschengeiste, was sich der materiellen Bedingtheit oder Vermittlung entzieht, so wird es sich auch darüber hinaus derselben entziehen; aber warum es vorzugsweise von der geistigen Selbstreflexion glauben, da sie in einer materiellen zugleich ihr Spiegelbild und ihren Träger finden kann; ja woher auch nur der Ausdruck für die geistige, wenn er nicht von der Vergleichbarkeit mit der materiellen stammte. Sofern ein bewußtseinstragender materieller Vorgang sozusagen über sich selbst hinwegzieht, wird sich der daran geknüpfte geistige seiner wie objektiv bewußt. Überall aber, wo eine Äther-, Luft- oder Wasserwelle in sich selbst zurückgeworfen wird, hat man eine materielle oder physische Selbstreflexion. Kleine und große Züge gehen davon durch die Welt, und wenn im Sinne der Tagesansicht die ganze physische Welt von einem psychischen Leben erfüllt ist, das sich über uns hinaus im Geiste der Erde und über alle Geister hinaus im göttlichen Geiste zusammen- und abschließt, so wird auch die physische Selbstreflexion eine psychische Bedeutung haben, wofür wir nun eben keine andre als die der psychischen Selbstreflexion finden können. Nur mag es sein, daß draußen wie drinnen die physische Selbstreflexion erst einen Schwellenwert übersteigen muß, ehe es zum Bewußtsein der psychischen kommt. Sich weiter in Möglichketten hierüber zu vertiefen, gestattet der Stand des heutigen Wissens nicht.

Über der ganzen Verwicklung der Schwingungen, Kreislaufsbewegungen, direkten und reflektierten Bewegungen, überhaupt allem, was in der Welt hin- und wiedergeht, sich kreuzt und wieder löst, aber gibt es ein unverbrüchlich Eines, Allgemeines, Unveränderliches, alles Fernste in Zeit und Raum innerlich Bindendes, worauf schon früher (Kap. 10. 3.) hingewiesen worden, das ist das allgegenwärtige Gesetz alles Geschehens, und dazu etwas alles äußerlich Bindendes, das ist Raum und Zeit selbst. Ein Lichtstrahl kann, so rasch er geht, doch tausend Jahre brauchen, um von einem Stern zu einem entfernten zu gelangen und sich dazwischen nach allen Seiten zerstreut haben, und längst nicht mehr sein, wo er einst war. Aber das Gesetz, dem der Strahl folgt, und das Gesetz, dem die Sterne selbst in ihrem Gange folgen, ist im selben Augenblicke hier und da, ist heute, wie es von Ewigkeit war und in Ewigkeit sein wird. Der Strahl mag alle endlichen Räume und Zeiten durchlaufen, über den unendlichen Raum und die unendliche Zeit kann er nicht hinaus, und so bleibt auch alles für endliche Augen Zerstreute, für endliches Gedächtnis Erloschene gesammelt für den Geist, der die Unendlichkeit von Kraft, Raum und Zeit mit seinem einigen Wissen und Wollen beherrscht, erfüllt und durchdringt.

Inzwischen wer, wie der Theologe, des Rückganges auf den materiellen Unterbau des Geistes überhaupt nicht bedarf, um über sich hinaus an einen göttlichen Geist zur materiellen Welt zu glauben, braucht sich auch nicht auf Betrachtungen wie die vorigen einzulassen, Beweisen läßt sich Gott nicht damit; nur dem nach seinen Fußtapfen in der sichtlichen Welt Suchenden solche weisen.


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