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Mit Metermaß und Gießkanne

Aus dem Leben des Abteilungschefs Franz Einenkel

Wenn Franz Einenkel, Vorsteher der Konfektionsabteilung im Warenhaus von Haarklein & Co., in diesen Sommerwochen vor der Zeit aufwachte – und jetzt, wo der Verkauf so schlecht ging, wachte er meistens zu früh auf –, dann dachte er an die Katz.

An vielerlei hatte er zu denken: an die unbezahlten Raten auf das Haus, an das schwindende Gehalt, an den Bronchialkatarrh von Gerda – »die Ärzte hier draußen verstehen eben einfach nichts« –, an den Verkäufer Mamlock; nein, Einenkel dachte an die Katz.

Neben ihm, im andern Bett, zog Lotte ihre geruhige Schlafsträhne; im nächsten Zimmer, zu dem die Tür aufstand, schliefen sachte und still noch die Kinder Gerda und Ruth, auf den rotbraunen kunstseidenen Vorhang schien von draußen schon wieder die Sonne ... Es wurde also wieder ein schöner Tag ohne Regen, wenigstens die Gemüsebeete würde Einenkel sprengen müssen, die Wasserrechnung in diesem Sommer wurde ein Grauen – aber was zum Teufel, jetzt war es kaum fünf, und vielleicht war die olle Muthesius – Viecher-Muthesius – doch schon auf und hatte ihren Kater Peter zur Hintertür hinausgelassen, und seine Sandkiste ...

Also: Grünheide, wo Einenkel sein eigenes Siedlungshäuschen auf Raten hatte, in einer Reihe von fünfzig andern, Grünheide hatte schweren Boden: Lehm bis zu Ton. Und Ruthchen war diesen Sommer zwei Jahre alt geworden, hatte also unbedingt eine Sandkiste zum Spielen haben müssen. Fünf Kilometer weit hatte Einenkel zwei Fuhren schönen weißen reinen Sand holen lassen, ein Objekt von vierzig Mark, es war ein herrlicher Sandspielplatz geworden, mit einer Brüstung zum Kuchenbacken – am meisten und mit dem größten Entzücken spielten die Besucher von Einenkels, nicht Ruthchen, in der Sandkiste –, also und nun kam die Katze von der ollen Muthesius ...

Gut, es war noch nicht fünf, und die Sonne schien herrlich, es würde ihm nur gut tun, im Bett zu liegen und noch ein bißchen zu dösen, dreiundsiebzig unverkaufte blaue Trenchcoats waren auch noch auf Lager, darüber mußte er unbedingt nachdenken, aber da war ihm nun das mit den Kartoffeln eingefallen ...

Mit einem Seufzer ließ Einenkel die Beine über den Bettrand, Lotte murmelte im Schlaf: »Franz, stehst du schon auf?« und schlief gleich weiter. Die nackten Füße in den roten Babuschen, schlich Einenkel, wie er war, im blaugestreiften Pyjama in den Keller.

Wo hatten diese Weiber wieder die Kartoffeln? In der zweiten Kiste rechts sollten sie sein, die erste war für Ruthchens Mohrrüben, Mohrrüben sind für kleine Kinder das gesündeste, außerdem aß Ruthchen sie mit Leidenschaft – nein, keine Kartoffeln. Nun hatte er Lotte so oft von der Ordnung in seiner Konfektionsabteilung erzählt, jeden Anzug, jeden Mantel konnte er im Dunkeln finden, sie begriff es nicht! Sie waren zwölf Jahre verheiratet, nein, sie begriff es nicht, die Kartoffeln fanden sich in einem großen Pappkarton, der gar nichts im Keller zu tun hatte, Kartons gehörten auf den Dachboden, der Keller war für sie viel zu feucht – er würde wieder einmal unmenschlichen Krach schlagen müssen, und er war schon so abgekämpft von dem schweren Geschäft!

Er suchte sich sechs oder acht große Kartoffeln aus und stieg, leise vor sich hin seufzend, hinauf in die Küche. Die Kartoffeln wurden auf das Küchenfenster gelegt, das Fenster wurde aufgemacht, der Garten lag vor Herrn Einenkel. Da steht er, er wartet auf die Katz, auf den ollen Kater von der ollen Muthesius – Viecher-Muthesius –, den er im Verdacht hat, daß er ausgerechnet in der sauberen Sandkiste von Ruthchen sein Geschäft verrichtet, also, der Garten ist vor ihm. Er liebt seinen Garten, der mit Büschen und Bäumen, sanft grünem Gras – »hab ich Stickstoff gegeben, ist tadellos geworden, der beste Rasen in der Siedlung« –, der mit Blumen und Gemüsebeeten sich vor ihm ausbreitet.

Aber er sieht ihn nicht, der Morgenwind bewegt leise die Äste, sie tanzen ein bißchen, er sieht nur das gelbe Quadrat der Sandkiste, er hat die Kartoffeln vor sich, er wird sie dem Kater in die Rippen schmeißen: Soll die Olle keifen, es ist die letzte Möglichkeit. Klein, ein bißchen dicklich, sorgenvoll steht er da, das Leben müßte so schön in Ordnung sein, er tut doch wahrhaftig, was er kann, er ist friedfertig, planmäßig, aber alles geht verquer. Er kauft ein Haus auf Abzahlung, und zweimal wird sein Gehalt gekürzt, er ist für äußerste Ordnung, und Lotte findet das albern und pedantisch, sie hatten sich so nett mit Gerda eingerichtet, und nun kam Ruthchen noch nach neun Jahren und warf alle Dispositionen über den Haufen – es ist ein schweres Leben!

Er hat Frau verwitwete Rechnungsrat Muthesius höflich gebeten, er hat ihr geschrieben, er hat sie oder vielmehr ihren alten Kater Peter bei der Polizei angezeigt, nichts half; hier steht er hinter acht Wurfgeschossen, ein wenig fröstelig, vielleicht würde er sich noch ein Tesching kaufen müssen ...

Also die Spatzen tschilpen, in den Kirschen sind wieder die Stare, er möchte sie gerne verscheuchen, aber dann kommt womöglich die Katz nicht. Gegen sechs fängt auch das kleine Dienstmädchen Rosa an, in ihrer Kammer zu rascheln, die darf ihn hier nicht so treffen, und im Augenblick seines Aufbruchs huscht natürlich etwas Schwarzweißes durch seinen Garten: der Peter. Er stürzt rufend aus der Hintertür, er verwirft seine Kartoffeln, zwei Gärten weiter sagt die alte Muthesius zu ihrer ältlichen Lehrerinnen-Tochter vernehmlich: »Und so was will ein gebildeter Mensch sein!« Herr Einenkel zieht sich zurück, nicht einmal klagen kann er, überlegt man es sich genau, so ist das keine Beleidigung; es war ein Mißerfolg – das wird ein Tag, das wird wieder einmal ein Tag werden!

Eine Stunde später – für Ruthchen ist es jedenfalls ein herrlicher Tag. Die Eltern sitzen an zwei Seiten des Kaffeetisches, an der dritten Gerda, und der Pappi versucht herauszubekommen, was Gerda für Französisch heute »auf« hat. Aber an der vierten Seite des Kaffeetisches, auf der Couch, steht Ruthchen, den Becher »Kullermann« mit ihrer Milch vor sich, eine Semmel in der Hand. »Nun iß aber auch, Ruthchen!« mahnt Einenkel.

»Pappi – biettä!« sagt das kleine Geschöpf und führt die Semmel zu Pappis Mund.

»Nein, Ruthchen, selbst!«

»Pappi – biettä!«

»Aber Ruthchen! Ruthchen muß ordentlich essen, damit sie groß und stark wird!«

»Pappi – biettä!«

Einenkel wird weich, er beißt ab. In den Fenstern liegt die Sonne, die Gardinen sind noch von der Pfingstwäsche her blütenweiß. Ruthchen ist ein herrliches Stück Leben; es scheint, daß Gerda für die Schule ausgezeichnet vorbereitet ist. Licht tanzt im goldenrötlichen Tee und wirft kleine strahlende Kringel an die Decke. Es ist doch alles gut so, es ist doch schön, es war richtig, daß sie aus der Mietswohnung in der Bleibtreustraße rausgingen, wenn auch das Haus eine schwere Last ist ... Aber in zwei Jahren ist auch das ausgestanden, und dann kann man vielleicht an einen kleinen Wagen auf Abzahlung denken, zuerst allerdings wird man eine Garage bauen müssen, zugleich mit einer vernünftigen Waschküche, aber es kommt freilich immer etwas dazwischen.

»Läßt du mir ein wenig Geld da, Franz?« fragt Frau Einenkel sanft.

Er macht eine Bewegung. Und: »Mach, daß du in die Schule kommst, Gerda, es wird höchste Zeit!« Und rufend: »Rosa, Rosa, bringen Sie das Kind in seine Sandkiste!«

»Aber Ruthchen hat ja noch nicht ordentlich gefrühstückt!«

»Es soll sich an seine Zeit gewöhnen. Zum Donnerwetter, es kann nicht zwei Stunden lang frühstücken! – Wieso hast du kein Geld mehr? Heute ist der Zweiundzwanzigste!«

Reden, Gerede, Hin- und Hergekakel, Geschwätz. Schließlich gibt er zwanzig Mark. »Damit hast du aber auszukommen!« Natürlich wird sie nicht damit auskommen, so geht es seit zwölf Jahren. Sie lernt es nicht. Lotte lernt es nie. Zwei Sonntage mit fünf Gästen werfen ihren Etat um. Keine Dispositionen. »Überlege doch, Lotte, wenn ich mit meinen Sommerulstern so disponieren würde wie du mit deinem Geld ...«

Sie hört zu, sie sagt »ja«. Natürlich hört sie nicht zu, soweit kennt er ihr Gesicht, denkt an irgendeinen bunten Schmarren von Kaffeedecke, den sie unbedingt haben muß, und sie hat drei oder vier.

Plötzlich fällt ihm etwas ein. Er sagt feierlich: »Vielleicht sind heute die grauen Sommermäntel mit Steppfutter eingetroffen. Ich sage dir, Lotte, so etwas hat Berlin noch nicht erlebt! Das wird ein Taumel werden! Wir können die Mäntel für dreiundzwanzig fünfzig verkaufen!«

Er strahlt, er ist selig, beschreibt Stoff und Muster. Plötzlich verdüstert er sich. »Wenn nur Herr Krebs nicht wieder Schwierigkeiten macht! Ich habe so was gehört, er will fünfundfünfzig Prozent Unkosten aufschlagen! Dann kämen die Mäntel über fünfundzwanzig. Und es ist so wichtig, daß sie darunter bleiben, heute, wo keiner Geld hat!«

Abschließend, aufstehend: »Also, ich muß zur Bahn. Gib Ruthchen ein Küßchen vom Pappi. Und mit den zwanzig kommst du aus! – Auf Wiederschauen!«

Ganz gewohnheitsmäßig setzt er sich in einen leichten Trab, kaum daß er die Tür hinter sich zugezogen hat. Aus Haus Siebzehn schießt Herr Wrede dazu. »Guten Morgen!«

»Also guten Morgen! Herrliches Wetter heute!«

»Ja, wundervoll!«

»Aber man wird wieder sprengen müssen, ist Ihre Wasserrechnung auch so hoch?«

»Nein, meine Frau versteht sich glänzend einzurichten. Das Badewasser nimmt sie immer zum Einweichen der Wäsche.«

Herr Einenkel ist etwas pikiert. »Meine Frau ist auch sehr tüchtig. Sie macht Ihnen aus Resten ein Mittagessen: die reine Delikatesse!«

»Bei uns bleiben nie Reste!«

Keiner von den beiden weiß, was der andere verdient, jeder glaubt zu wissen, daß der andere weniger hat.

»Ich denke ja jetzt an den Ankauf eines Autos. Nichts Übermäßiges, aber einen hübschen Wagen.«

»Gehen Sie mir mit einem Auto! Wie wollen Sie es denn mit der Garage halten? Ihr Garten ist doch auch nur ein Tortenstück!«

Plötzlich ein Schrei von Wrede: »Aber lieber Herr Einenkel, wissen Sie es noch gar nicht?! Dingeldeys müssen doch raus, drei Raten haben sie schon nicht gezahlt, haben die Wechsel einfach platzen lassen.«

»Was Sie nicht sagen! Aber ich habe es immer gesagt!«

»Alles haben sie doch auf Abzahlung: Staubsauger, Teppiche, Möbel, und nun einfach nicht einlösen, manche Leute sind doch zu naiv!«

Dingeldeys reichen die halbe Bahnfahrt. Es sind andere Herren dazugekommen, Herren, die nicht in dieser Siedlung »Waldheim« wohnen, aber auch diese Herren haben Interesse, im Abteil bequatschen sie es gründlich, dieser Dingeldey muß ein doller Bursche sein, nichts Solides, an einem ganz gewöhnlichen Wochentag geht er einfach auf der Straße spazieren, ohne Urlaub, bleibt einfach zu Haus, »habe heute fürs Geschäft keine Lust«, ich bitte Sie, bedenken Sie –!

»Das ist es, woran unser heutiger Staat krankt: Mangel an Pflichtgefühl!«

»Richtig, Herr Einenkel, wenn jeder täte, was er könnte ...«

»Dann gäbe es keine Arbeitslosigkeit!«

»Also, ich sage Ihnen, bei uns war eine Fensterscheibe gesprungen, nach hinten, nach dem Garten zu, es wäre noch gegangen. Ich sage zu meiner Frau: Laß sie machen, was auf mich ankommt, soll jeder Arbeit haben ...«

»Darf ich um Feuer bitten?«

Todesstille.

Dann bietet Herr Einenkel seine Zigarre an. »Bitte, Fräulein!«

In diesem Abteil zweiter Klasse (man muß Abonnement Zweiter haben, jeder, der in der Siedlung in Frage kommt, fährt Zweiter) – also in diesem Abteil hat neben fünf Männern ein junges Mädchen gesessen, unbeachtet, die täglichen Fahrtgenossen haben über sie weg geredet: Dingeldey, Arbeitsbeschaffung ...

Nun sitzt sie da und raucht. Sehr nett angezogen, sieht famos aus, ja wenn man so was jeden Tag um sich hätte, diese Füße, so ein Bein kann einen verrückt machen ...

»Waren Sie eigentlich in der letzten Zeit mal im Theater?«

»Sie wollen doch auch verreisen? Ach, die See, wissen Sie, das Meer, verstehen Sie! Ich brauche das ...«

»Da habe ich in der Friedrichstraße ein Original-Ölgemälde gesehen, mindestens zwei Quadratmeter, aber so etwas Ausgezeichnetes, und gar nicht mal teuer!«

Das junge Mädchen sitzt da und raucht. Sie sieht zum Fenster hinaus, das Land fliegt vorüber, Sonne, Schatten, grüne Bäume, Felder ...

Die Herren reden sehr gewichtig und langsam, sie vermeiden das Wort »Schönheit«, sie denken auch nicht daran, aber sie haben jetzt andere Gesprächsthemen als vorher. Das junge Mädchen raucht, einmal, ach, einmal war es so schön ... Jung, Hoffnungen, ein Buch gelesen ... »Diese Woche gehe ich bestimmt noch mal ins Kino! Man darf nicht so einrosten.« –

Punkt acht Uhr dreißig betritt Herr Einenkel die Abteilung Herrenkonfektion im Warenhaus Haarklein & Co. So ist er nun nicht, daß er gleich in jeden Winkel der Abteilung schnüffelt, ob auch alle seine fünf Verkäufer da sind nebst den drei Lehrlingen. Er stellt sich an sein Pult, er schreibt und rechnet ein wenig im Ein- und Ausgang-Journal, und dazwischen guckt er. Heller geht natürlich an seinem Pult vorbei, macht ein Dienerchen und sagt: »Guten Morgen, Herr Einenkel!« Nötig ist so etwas nicht, Heller bleibt deswegen doch ein schlechter Verkäufer, aber gut tut es schon. Die Lehrlinge bürsten das Lager durch, alles in Ordnung, bloß Mamlock –

»Also hören Sie, Herr Mamlock«, sagt Herr Einenkel ganz friedlich um acht Uhr fünfundfünfzig, »ich habe das satt mit Ihrer Unpünktlichkeit. Wenn Sie sich nicht entschließen können, die Zeit einzuhalten ...«

Mamlock sieht Herrn Einenkel bloß an. Hitziger sagt der: »Ich finde das unverantwortlich von Ihnen! Man hat doch Anstand in den Knochen! Acht Uhr fünfundfünfzig ist nicht acht Uhr dreißig! Was Sie sich dabei denken –!«

Mamlock scheint nichts zu denken, er sieht nur. Mit Erbitterung denkt Einenkel an die Wechsel auf sein Haus, die er auf die Minute einzulösen hat. »Sie sind ein lässiger Mensch!« schreit er. »Kurz und gut: ich werde Herrn Liepmann Ihre Entlassung vorschlagen! Mit solchen Menschen arbeite ich nicht zusammen!«

Mamlock hat keinen Ton gesagt. Mamlock ist ins Lager gegangen. Wenn der sich darauf verläßt, daß er der tüchtigste Verkäufer ist –! Herr Einenkel wirft die Bücher hin und her. Wer soll da rechnen können! In diesen Zeiten, wo alles so schwer ist, zweihundertzehn kriegt Mamlock, ob er sich mal überlegt hat, wieviel verkauft werden muß, bis so ein Gehalt herausspringt! Wer kauft denn noch ... Der Umsatz ist s-o-o zurückgegangen!

Und plötzlich lächelt Herr Einenkel, er hat es aus bester Quelle, seine Abteilung hat noch mit am besten abgeschnitten. Und wenn nun erst die grauen Ulster kommen! Das ist der große Schlag, das Glück, das ihm gefehlt hat, er wird abschneiden –! O je, o je, o je, wenn nun der Fabrikant nur genau wie Muster liefert!

Er steht hinter seinem Pult, er lächelt, er träumt Kassenrapporte, daß Herr Krebs auf den Rücken fällt. Herr Haarklein, der große Haarklein, wird zu ihm sagen: »Sie haben Ihre Abteilung in Schuß, Einenkel, Ihre Abteilung ist erstklassig!«

Und während er dies träumt, kommt die übliche Morgenerwartung über ihn, ein leichtes, nicht unangenehmes Prickeln im Rücken. Neun Uhr dreizehn, um diese Zeit kaufte gestern schon der erste Kunde. Und die leise Angst: wenn heute bis zehn, bis elf, bis halb zwölf kein Käufer kommt?

»Das ist ja gar nicht wieder aufzuholen«, murmelt er, murmelt er noch, da schon der erste Käufer da ist. Hesse hat ihn. Gut. Hesse wird keine Pleite schieben, Hesse macht es. Und der nächste Kunde. Und der nächste Kunde. Es wird voll, alle sind in Gang, verkaufen, noch keine Pleite, kein Käufer ist weggegangen bisher: »Komme noch mal wieder. Will es mir überlegen.«

Herr Einenkel ist überall, schwierige Fälle bedient er selbst, greift auch einmal ein, vorwurfsvoll: »Aber Herr Heller, zeigen Sie dem Herrn doch mal unsere Sportanzüge! Wir haben doch so modische Muster!«

Und: »Nein, wie Ihnen der Mantel steht! Aber glänzend, finde ich: Finden Sie nicht auch, Herr Mamlock? Einfach glänzend!«

Und schon ist er auf einen Sprung an der Kasse, bisher sechshundertzehn, das ist für elf Uhr dreißig einfach vorzüglich. Oh, welch Glück! Menschen kommen, man verkauft ihnen, manche sind schwierig. Warum der dicke Herr wohl durchaus schräg geschnittene Taschen in seinem Sakko haben will –? »Aber selbstverständlich machen wir Ihnen das. Ich verstehe sehr gut« (total meschugge) – und ist schon wieder bei Mamlock, sagt so ganz nebenher: »Also Sorgen müssen Sie sich nicht machen, Mamlock, man sagt manchmal ein Wort, nur die Pünktlichkeit! Die rechte Pünktlichkeit, ich bitte Sie sehr, Mamlock!«

»Herr Einenkel möchten doch mal zu Herrn Krebs kommen!«

O Gott, die Mäntel sind da, die grauen Mäntel. Dieser Krebs soll etwas erleben, wenn er sie über fünfundzwanzig ansetzt, er schlägt ja solchen Krach, bis zu Haarklein geht er damit ...

Aber natürlich schlägt er nicht eine Spur von Krach. Sehen Sie, also Frau Krebs geht es doch noch immer gar nicht gut, zu traurig ist das, Herrn Einenkel tut es ja so leid, ob sie nicht einmal zu ihnen zur Erholung rauskommen möchte, seine Frau würde sich so freuen, sie haben da ein richtiges Landhaus, und die Luft ist so gesund ...

»Also, mein lieber Herr Krebs, Sie sehen es ja ein, ich verstehe Sie ja, aber grade ein Kalkulator wie Sie, der seinen Kram aus dem Tezett versteht ... Sie sind durch die Geschäftsleitung gebunden? Aber, Herr Krebs, Sie doch nicht! Ein Mann wie Sie doch nicht! Ihnen ist doch alles möglich ...«

Herr Einenkel schmust eine Stunde lang, dann geht er. Morgen früh sind die Mäntel in der Abteilung, herrlich, ganz nach Muster ausgefallen, und: vierundzwanzig neunzig! Man wird groß inserieren, er sieht die Leute, alle seine Kunden, ihre Stuben, die ganze Stadt – sie lesen, sie kommen, sie kaufen. Wenn er singen könnte und wenn er im Dienst singen dürfte, jetzt würde er singen. Seine Frau Lotte hat das, wenn plötzlich, nach einem Frühlingsregen, die Wicken aufgegangen sind, schnurgrade, Reihe um Reihe, hellgrün, wenn ihr was zuwächst, gedeihlich: Dann singt sie plötzlich. Einenkel weiß das Wort nicht, er bemüht sich auch nicht darum, aber es lautet: Glück. Dreihundert graue Ulster, vierundzwanzig neunzig: Glück! Kummer ist die Katz, Sorgen sind die Raten, dies aber ist das Glück!

Aber natürlich kann man nicht eine Stunde fort sein, und auf der Abteilung ist es nicht so, wie es sein sollte. Zwischen den Garderobenständern entdeckt Herr Einenkel einen blassen, pickligen Jüngling –: »Eine Stunde laufe ich hier herum! Hier soll man wohl nicht bedient werden! Nein, danke, danke, jetzt nicht mehr. Sie denken wohl, wie es Ihnen paßt ...«

Der Jüngling hat einen Wutanfall, höchstselbst bemüht sich Herr Einenkel, aber es wird doch eine Pleite: Pickelhering läßt sich nicht beruhigen. Nachher, wie er unbekauft weggegangen ist, bekommt Herr Einenkel seinen Wutanfall, es ist die stille Stunde in der Tischzeit, kein Kunde in Sicht, er kann es sich leisten, zu brüllen. Mamlock, Hesse, Heller, Ziebarth, Zeddies und die Lehrlinge, wie sie gebacken sind, alle kriegen sie eins aufs Dach, und wie! Herr Einenkel rennt schweißtriefend auf und ab, er ist rot, er brüllt, nicht mal auf den Schränken ist ordentlich Staub gewischt, dann geht er zum Essen.

Sie haben da ihren Tisch für sich in der Kantine, die Herren Abteilungsvorsteher, es hat sich so rausgebildet. Einenkel findet, es sind gräßliche Kerls dabei, aber natürlich würde es jede Autorität untergraben, wenn sie sich mit Verkäufern zusammensetzten.

Gottlob bekommt Einenkel trotz des eben genossenen Ärgers, der ja, wenn der Himmel und der Tag es so wollen, immer weitergehen kann, den netten Platz mit dem Ausblick auf einen Verkäuferinnentisch. Da sitzt also wieder diese reizende, zierliche Bachstelze aus der Damenhutabteilung, schüchtern schaut Herr Einenkel sie drei- oder viermal an. Dies Anschauen muß einfach sein, je nachdem, ob es gelingt oder ob er mit dem Rücken zu ihr sitzt, ist ein Tag gut oder schlecht. Es ist nicht sicher, ob Fräulein Bild von den Damenhüten etwas von der Existenz von Herrn Einenkel weiß, jedenfalls hat sie aber nicht die geringste Ahnung, was für eine Rolle sie in seinen Träumen spielt.

Ja, wenn er diese zierliche Bräunliche vor netto fünfzehn Jahren getroffen hätte! Lotte ist gar nicht schlecht, aber Lotte ist der Alltag. Wenn man ihre Adresse unauffällig erfahren könnte, er würde ihr morgen einen herrlichen Strauß schicken, Rosen oder Flieder, natürlich anonym, bloß, daß sie sich einmal richtig freut.

Und dabei sagt er: »Ja, ich habe ein bißchen Krach geschlagen – Sie haben es gehört? Man muß diese Verkäufer mal zusammenstauchen, eingebildet sind diese Menschen –! Sagen Sie selbst, meine Herren, was haben wir arbeiten müssen, als wir so jung waren?«

Und nun kommen all die alten Geschichten von dunnemals, als die Verkäufer noch keinen freien Sonntag kannten: immer die Jalousien rauf und runter ziehen, die Sonnensegel stellen, die Schaufensterbeleuchtung an- und ausknipsen am Sonntag.

»Ich hatte mal in Rogasen einen Chef ...«

Und: »Haben Sie noch den Lehmann gekannt? Er hieß nur der ›dolle Lehmann‹, reiste 'ne Zeitlang für Hübsch & Niedlich –?«

Es wird Viertel nach vier, bis Herr Einenkel wieder auf die Abteilung kommt. Aber er hat nichts versäumt, der Glanz ist vom Tag runter, es wird ein langer, zäher, schwieriger Nachmittag mit vier Pleiten und einer minimalen Kasse. Herr Einenkel steht hinter seinem Pult. Erst hat er noch eingegriffen und angefeuert, nun steht er blaß und traurig da, auf den dreiundsiebzig Trenchcoats wird er sitzenbleiben, und was soll dann werden? Er ist ein schlechter Abteilungsleiter, hundsgemein ist es von ihm, die Verkäufer anzugrobsen, kein bißchen besser ist er als die ...

Er seufzt tief auf, er geht langsam zwischen den Garderobenständern hin und her, um Viertel neun kann er erst zu Haus sein, Ruthchen wird schon schlafen, Gerda wahrscheinlich auch. Lotte sagt, die Vögel singen jetzt so nett im Garten; wenn er kommt, ist alles schon still, und rasch wird es dämmerig.

An einem Kleiderständer steht der Lehrling Krieblich, ein ängstlicher, verschüchterter Bengel. (»Aus dem Jungen wird nie ein Verkäufer, keinen Mumm!«) Jetzt ist er wachsweiß, hält sich an ein paar Mänteln, taumelnd.

»Um Gottes willen, Krieblich, Junge, was ist mit dir?!«

Der Junge kann nicht antworten, oder er hat schon wieder Angst. Aber jetzt würde er gefallen sein, mit dem ganzen Ständer vielleicht über sich, wenn ihn Einenkel nicht umgefaßt hätte. »Sachte, sachte, mein Junge, krank bist du ... Mamlock, Sie übernehmen die Abteilung, ich gehe mit Krieblich mal aufs Lazarett ...«

Oh, was ist der strenge, erregbare Herr Einenkel plötzlich für ein guter Papa! »Komm, mein Junge, halt dich ordentlich fest an mir. Nur noch ein paar Schritte. Komm, komm, es wird schon besser, gleich legst du dich lang hin.«

Es ist keine schwierige Untersuchung, es ist Unterernährung, gradeheraus gesagt, der Junge hat vor Hunger schlappgemacht. Nichts zu essen haben die, arbeitslos sind die, und der Junge verdient ja auch so gut wie nichts ...

Aufgeregt läuft Herr Einenkel auf und ab. »Nicht satt zu essen! Also, nein, nein, das geht natürlich nicht, da muß etwas getan werden. Warte nur, Krieblich, Junge ...«

Herr Einenkel fährt seinen Lehrling mit der Autotaxe nach Haus, er bezahlt selbst die Taxe, er läßt einen Schein da, es ist etwas über seine Verhältnisse, aber so ist er nun auch wieder ... »Und natürlich wird da geholfen werden. Wir haben da so einen Fonds bei Haarklein & Co. Gleich morgen nehme ich das sofort in die Hand. Nicht satt zu essen, es ist die Höhe ...!«

Nun lohnt es schon nicht mehr, jetzt noch ins Geschäft zu fahren, und so kommt Herr Einenkel zwei Züge früher als gewohnt nach Haus. Ruthchen steht grade in der Badewanne, sie kreischt und spritzt und panscht, sie wirft Pappi mit dem Gummischwamm. Welche Wonne dann, dabeizusitzen, während sie ihren Brei futtert; dann Küssing beim Schlafengehen, großes Winke-Winke, kleines Winke-Winke, wie Sonntag ist das.

Und während Lotte mit Rosa das Abendessen richtet, geht der Vater mit Gerda im Garten auf und ab und hat einen ernsthaften Plausch mit ihr. Es ist still, ein leiser Wind geht in den Bäumen. Also, das Kind hat wirklich schon ernsthafte Probleme. Da sind nun diese Sterne am Himmel; glaubt Pappi, daß sie bewohnt sind? Ja? Es ist möglich? Und hat Gott da auch Menschen gemacht, und hat er seinen Jesus auch dahin geschickt, auf alle Sterne? Auf alle?!

Ja, Abteilungsvorsteher Einenkel ist richtig verlegen und gerührt, er nimmt die kleine graue Mädchenhand in seine. »Ja, ich weiß es auch nicht, Gerdchen. Es wäre schrecklich, nicht wahr? Hoffentlich sind die Menschen da besser ...«

Er sitzt noch einen Augenblick neben ihrem Bett; sie gibt ihm unaufgefordert einen Kuß, ihm fällt ein, sie hat das seit vielen Monaten nicht getan. Was hat man nicht alles verpaßt, durch dieses Geschäft und diesen Betrieb und diese Sorge mit den Raten ... Nun, es ist natürlich nicht anders möglich, aber es ist doch komisch ... mit den Sternen, er hat sie eigentlich nie recht angesehen. Also welche Probleme solch ein Kind hat –! Vielleicht hätte er ihr das mit den Mänteln zu vierundzwanzig neunzig erzählen sollen, sie hätte sich gefreut, und ihr Herz wäre ein bißchen leichter gewesen.

Aber dann ist auch alles vorbei, sowie er beim Abendessen sitzt, ist er schrecklich müde. »Ich lege mich dann gleich hin«, sagt er zu Lotte und überlegt, ob er ihr seinen Entschluß mitteilen soll, ihr noch einmal ganz freiwillig weitere zwanzig Mark für den Monatsrest zu geben. Aber er schiebt es dann doch lieber für morgen früh auf. Wollen mal abwarten, was ich dann für Stimmung habe!

Und im Einschlafen geht ihm alles durcheinander: das bräunliche Fräulein mit den schmalen Knien, die neuen Ulster. Fräulein Bild mit den seidenen Rehbeinen und der hungrige Krieblich. Früher wird er aufstehen müssen wegen der Katze, aber er kauft sich jetzt bestimmt ein Tesching, gleich nach dem Ersten, die Sterne und Gerda, und hoffentlich ist Mamlock morgen pünktlich, daß er sich nicht sofort ärgern muß.

Und dann, im Einschlafen, hat er noch so eine Art Nachtgebet, nicht richtig in Worten, etwas Verschwommenes, aber Sehnsüchtiges: Lieber Gott, laß mich morgen eine gute Kasse haben! Lieber Gott –!

Aus! Eingeschlafen! Schluß!


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