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Als Annemarie Geier mit vierzehn Jahren die Schule hinter sich hatte, sandten ihre Eltern sie auf eine Handelslehranstalt. Dort brachte man ihr zwei Jahre hindurch Schreibmaschine und Stenographie, einfache und doppelte Buchführung einschließlich Bilanzen, Handelsgeographie, Handelsrecht, bürgerliches Recht und noch einiges mehr bei, die Abschlußprüfung bestand sie mit der Gesamtnote »gut, teilweise besser«. Nun, mit sechzehn Jahren war sie fertig, eine Stellung zu bekleiden, sechzehn Jahre hatten die Eltern Kapital in Annemarie investiert, nun sollte sie den Rest ihres Lebens dieses Kapital verzinsen und amortisieren.
Da Annemarie ein gutaussehendes Mädchen war, bekam sie schon nach kurzem Suchen ihre erste Stellung bei Hess & Co. Sie sah nicht so übertrieben gut aus, daß die Kolleginnen flüstern könnten: »Warum der Alte die engagiert hat, das ist doch klar.« Aber sie war immerhin ein feingliedriges, schlankes, mittelgroßes Geschöpf mit einem bräunlich-blassen Teint, braunem Haar in eigenwilligen Schwingungen und braunen Augen. Das beste an ihr war eine stille, sachte, verhaltene Art, auf die manchmal ein kindlich-frohes Vergnügtsein hellere Lichter setzte. Man hatte sie gern.
Hess & Co. waren eine altangesehene Firma in Putz. Putz en gros. Früher hatte man dort die Hüte mit hundert Prozent kalkuliert, jetzt war man, dem Ernst der Zeit folgend, mit fünfundsiebzig Prozent zufrieden, die teureren Preislagen kalkulierte man sogar nur mit sechzig. Hess & Co. hatten ein eigenes Geschäftshaus, einen etwas pompösen Sandsteinbau aus den neunziger Jahren durch fünf Etagen. Don saß Annemarie in einem hellen, winters gut durchwärmten Büro vor einer phantastisch schönen Schreibmaschine, einer »Noiseless«, und tippte ihre Briefe. Diese Briefe waren nicht übermäßig interessant, obwohl sie Putz betrafen, aber Annemarie war zufrieden. Sie verdiente sechzig Mark netto im Monat, und sonntags ging sie mit andern im Jugendbund auf Fahrt. Das Leben hatte angefangen.
Allmählich wurde aber alles anders bei Hess & Co. Man war bisher dort sehr vornehm gewesen, Angestellte hatte man dort nicht angebrüllt, nicht etwa, weil man Angestellte überhaupt nicht anbrüllen soll, sondern weil man einfach zu vornehm dazu war. Jetzt konnte Hess senior, der alte gepflegte Herr mit den Koteletten, tobend durch die Räume rennen, und bat eine Angestellte Hess junior um einen Hut mit dem üblichen Angestelltenrabatt, so sagte der junge Mann sardonisch: »Fräulein, Sie denken wohl, wir haben den Laden nur für Sie? Ihre Sorgen in meinen Kopf!«
Dann tauchte ein dicker, mussolinihaft aussehender Herr auf, die Buchhalter stürzten ständig mit Kontoauszügen und Bilanzen in das Chefbüro, Mussolini telefonierte, ordnete an, schnauzte. Es kam der Letzte, es kam der Erste, kein Angestellter wurde zur Kasse gerufen, es gab kein Geld. Und schließlich holte man Annemarie in das Chefbüro, Mussolini saß dort am Chefschreibtisch mit einer dicken Zigarre, Hess senior rannte auf und ab, Hess junior starrte zum Fenster hinaus. Mussolini diktierte an alle Gläubiger der Firma ein Rundschreiben, man sei leider genötigt, die Zahlungen einzustellen, man hoffe auf einen Vergleich, man bäte die Wechsel zu schonen. »Schreiben Sie das auf Wachsmatrize, Fräulein!« – »Wie?« fragte Annemarie.
Sie hatte noch nicht auf Wachsmatrizen geschrieben. Rundschreiben gab es bisher nicht bei Hess & Co., alle waren individuell behandelt worden. Nun das Geld alle war, gab es Klischeebriefe. Es gab überhaupt viel Neues, das Telefon rasselte den ganzen Tag, im Vorzimmer gab es immerzu Herren, die durchaus Herrn Hess sprechen wollten, und Herr Hess war durchaus nicht zu sprechen. Es gab endlose Arbeiten auf den Lagern, Inventur wurde gemacht, noch eine Inventur wurde gemacht, und da beide nicht miteinander übereinstimmten, machte man noch eine dritte. Annemarie wurde der Arm lahm vom Aufmessen der Stoffballen, tagelang stand ihre »Noiseless« verwaist, und dann mußte sie wieder bis in die späte Nacht Aufstellungen tippen. Gehalt gab es immer nur tröpfelnd, zehn Mark, fünf Mark dann, wieder zehn Mark.
Annemarie war längst »vorsorglich« gekündigt, sie mußte zuerst gehen, sie war die Jüngste. Sie erlebte noch, daß Mussolini durch einen kleinen vertrockneten Mümmelmann ersetzt wurde, den Konkursverwalter, der Vergleich war gescheitert. Dann war Annemarie Geier wieder zu Haus, das Berufsleben erst einmal alle, sie ging stempeln.
Nicht sehr lange, einen Monat, im zweiten hatte sie schon wieder Stellung. Bei Sommerling, Getreide und Futtermittel. Eine ganz andere Branche, Annemarie hatte nachgeholfen, daß es eine andere Branche wurde. Der Konkurs war ihr in die Glieder gefahren, sie dachte, Getreide brauchen die Menschen immer, Brot müssen sie essen, nie wieder Putz!
Bei Sommerling war es ganz anders, viel kleiner, aber auch sonst ganz anders. Es kamen dort immer Herren mit grünen Hütchen, von denen Annemarie bisher gedacht hatte, sie wären nur zur »Grünen Woche« in Berlin. Im Zimmer, wo Annemarie saß, stand ein kleiner runder Tisch mit Stühlen. Dort saßen die Wartenden, und zu Annemaries Pflichten gehörte es, ihnen einen Kognak einzuschenken und eine Zigarre anzubieten. Dann gingen die Herren in das Privatbüro vom Chef, wo Jagdstücke hingen und Geweihe, und dort wurde weitergetrunken. Korrespondenz gab es fast gar nicht, dafür aber Frachtbriefe über Frachtbriefe.
Herr Sommerling war ein zutraulicher Mann, manchmal war er auch ein zärtlicher Mann, wogegen Annemarie sich wehren lernte. Er schüttete ihr sein Herz aus über seine zänkische Frau, die Kartoffelgeschäfte und seine Einsamkeit. »Ich trinke ja nur, weil ich so schrecklich einsam bin, Frollein.«
Eines Abends war Herr Sommerling ernst und bleich, er sprach gar nichts. Dann trat er zu Annemarie und reichte ihr einen Hundertmarkschein. »Weil ich so zufrieden bin mit Ihnen, Frollein! Weil Sie nie mit mir ausgegangen sind, Frollein! Weil ich so einsam bin, Frollein ...!« Er schien ganz außergewöhnlich betrunken. Annemarie wollte ihm seinen Schein am nächsten Tag wiedergeben. Es wurde nichts draus. Am nächsten Tage kam Herr Sommerling nicht wieder, er floh das sinkende Schiff. Es war ein großer Moment, als der bestellte Konkursverwalter den Geldschrank öffnete. Es konnte keinen leereren Geldschrank geben. Kündigung, Entlassung, bis dahin stille Wochen, es gab fast nichts zu tun. Annemarie saß stundenlang und stickte Decken und stopfte Strümpfe. Erschien der Konkursverwalter, so verschwand alles in der Schieblade, und Annemarie sah träumerisch aus dem Fenster.
Dann saß sie wieder einmal zu Haus, ihre Eltern waren bekümmert, die Freunde zogen sie auf: »Wo du dich nur sehen läßt, gibt es eine Pleite.« Oder: »Du bist der wahre Pleitegeier, Annemie, die Pleitegeierin, die Pleitegeiersche.« Annemarie hörte es an, sie lächelte etwas mühsam, aber sie sagte nichts, eine kleine scharfe Falte stieg senkrecht von der Nasenwurzel in die Stirn. Sie dachte sehr angestrengt nach in diesen leeren Tagen, und das, worüber sie nachdachte, war: Sie ordnete ihre Erinnerungen unter zwei Rubriken: Ich bringe Unglück – ich bringe kein Unglück. Das Ergebnis war unsicher.
Nun hat Annemarie längst wieder eine Stellung, seit über einem Jahr ist sie bei Lohmann & Lehmann, hygienische Artikel und Gummiwaren. Ein goldsicheres Geschäft, keine stotternden Gehälter, der Umsatz steigend. Doch die kleine Falte auf Annemaries Stirn ist geblieben, sie sitzt an ihrer Schreibmaschine, sie tippt, sie denkt: Hamburger soll den Wechsel noch einmal umlegen, ist das ein schlechtes Zeichen? Die Mahnungen an die Schuldner gehen diesen Monat zwei Tage früher hinaus, brauchen wir so nötig Geld? Bei Hess & Co. sah auch alles glatt und herrlich aus, und plötzlich ... Herr Lehmann hat gesagt, es sind schwere Zeiten. O Gott, daß ich nur kein Unglück bringe!
Sie hat sich vertippt und radiert.
Es kommt immer mehr Konkurrenz. Wenn man darauf achtet, sieht man es doch, wenn wir auch nicht richtig inserieren dürfen. Aber wenn mehr Konkurrenz ist und es geht deswegen schief, habe ich keine Schuld? Oder kommt so viel Konkurrenz, weil ich hier bin?
Die Falte gräbt sich tiefer. Der Prokurist kommt. »Stenographieren Sie, Fräulein Geier: Wir sind leider nicht in der Lage«, Annemaries Herz setzt aus, »Ihren geschätzten neuen Auftrag vom 15. currentis in der gesetzten Lieferfrist zu effektuieren«, das Herz fängt wieder an, »da unsere Gesamtproduktion für die nächsten vier Wochen voll verkauft ist«, das Herz jubelt. »Wir werden uns jedoch bemühen, Ihren Auftrag dazwischen einzuschieben, da wir verstehen können, daß Sie Ihre Kundschaft nicht ohne Ware lassen können, bitten Sie aber als Gegenleistung, unbedingt auf Barzahlung innerhalb vier Wochen ab Fakturendatum zu sehen«, zögernder Herzschlag, »da wir wegen Zahlungseinstellung einiger Kunden«, Herz setzt aus, »im Augenblick nicht so flüssig sind, wie wir möchten«, völlige Verzweiflung.
Natürlich bringe ich Unglück. Wo ich hinkomm, da gibt's 'ne Pleite.