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15. [14]

Wachsbleich, überhaucht von einem bläulichen Schimmer, konnte Karamanoff für eine Leiche gehalten werden, stand man nicht nahe genug, um die schwachen, unregelmässigen Bewegungen der Brust zu beobachten. Er lag angekleidet auf einer Ottomane, die mitten ins Zimmer gerückt war, um den Pflegern von allen Seiten den Zutritt zu ermöglichen.

Seit den letzten acht Tagen traten die Erstickungsanfälle so häufig auf, war die Atemnot auch in den Ruhepausen so stark, daß er selbst die Nächte nicht mehr im Bette verbringen konnte, und daß sämtliche Fenster der beiden nebeneinander liegenden Wohnräume Tag und Nacht weit offenstehen mußten. Was Helene Markownas Mastkur und ihre hingebungsvolle Pflege an dem zerrütteten Körper wieder aufgebaut und geflickt, hatte die Kunde von Michael Lenowostowois Verhaftung mit einem Schlage niedergerissen.

»Die Auflösung ist günstigstenfalls nur noch eins Frage von wenigen Wochen,« hatte der Arzt erklärt.

Das war für alle seine Freunde, ganz besonders aber für die Aschkin, eins trostlose Eröffnung, und sie wehrte sich mit aller Kraft gegen das über ihr drohende Unheil, sie zwang sich zu neuem Hoffen.

»Vielleicht bringe ich ihn doch noch einmal in die Höhe. Mitunter vermag die Pflegerin mehr als der Arzt,« hatte sie zu Sergej Tschatschitsch gesagt, der ihr Haus kaum mehr verließ, sich redlich in die Pflege mit ihr teilte.

Diesmal hatte der blondmähnige Riese aber nur ein trauriges Kopfschütteln und einen noch traurigeren Blick für sie gehabt.

»'s geht nimmer, arme Helene Markowna – ein Kind sieht, daß es vorbei ist!« hatte er geantwortet und dann ingrimmig die Fäuste geballt: »Verdammt der Hund von einem Lenowostowoi, der sich in seiner bodenlosen Dummheit hat abfangen und zur Schlachtbank führen lassen wie ein neugeborenes Kalb! Der Schreck, die Aufregung waren zu viel für Iwan Feodorowitsch!«

Die Aschkin hatte nicht darauf gehört. Was bekümmerte sie Lenowostowoi – was bekümmerten sie die anderen? Sie hatte nur für den sterbenden Bruder Gedanken. Wie sollte sie leben, wenn er nicht mehr war – wie?

Das fragte sie auch Tschatschitsch, der mit warmem Druck ihre Hände faßte.

»Mach dir darüber keine Gedanken, armes Weib,« hatte er gesagt, die wasserhellen Augen in Tränen schimmernd. »Ich werde an Iwan Feodorowitschs Stelle treten, ich werde dein Bruder sein und dir ein sorgenfreies Dasein schaffen.«

Die Aschkin jedoch hatte ihn schroff zurückgewiesen.

»Pfui, Menschen! Wer denkt an das bißchen tägliche Brot, wenn er vor einem Verluste steht wie ich? – Du bist des Freundesnamens unwürdig, den Iwan dir gegeben hat!«

Sergej Tschatschitsch nahm diesen Ausbruch nicht übel. Die Aermste befand sich in einer krankhaften Aufregung, man durfte nicht scharf rechten mit ihr.

»Sag das nicht, Helene Markowna,« erwiderte er sanft, begütigend. »Wir werden nicht nur zusammen essen und trinken – wir werden vor allen Dingen zusammen arbeiten in seinem Sinne, arbeiten an dem heiligen Werke der Rassenerlösung, die sich allmählich ausbauen soll zur Menschheitserlösung! Wir werden auch Iwans Andenken pflegen und sein segnender Geist wird bei uns sein! – Ist das nicht auch etwas Erhabenes und Beglückendes? Ist es nicht wert, den Rest unseres Lebens zu füllen?«

Und der Aschkin schwärmerisches Redengemüt hatte sich an diesem Gedanken begeistert, hatte für Stunden Trost und Erhebung in ihm gefunden. Die Wirklichkeit war jedoch zu trostlos, als daß die gute Wirkung hätte Vorhalten können.

Uebrigens war Karamanoffs Befinden manchem Wechsel unterworfen, den einen Tag ging's besser, den anderen schlechter. Heute war sein Zustand leidlich. Die Unfälle kamen seltener und seit dem Morgen hatte er schon zweimal Nahrung verlangt und eine ziemliche Menge davon zu sich genommen. Es half aber nicht mehr, die Kräfte hoben sich nicht, er war so elend, daß Helene Markowna und Tschatschitsch sich kaum von seiner Seite wagten. Sie saßen rechts und links von seinem Lager, die Blicke an das farblose Gesicht mit den tief eingesunkenen Augen geheftet. Um die Bäuerin am Fenster bekümmerte sich keins von beiden, diese wieder kümmerte sich nicht um sie. Unbeweglich, das von einer schwarzen Spitzenhaube beschattete Gesicht der Straße zugekehrt, saß sie da.

»So war es schon seit einer halben Stunde, seit eine Handbewegung des Patienten alle Anwesenden zum Schweigen gebracht hatte.

Mit schweren, bedächtigen Bewegungen ging der Pendel der großen, alten Uhr im Eichengehäuse, die vom Fußboden bis nahe an die Decke reichte. In der Stille des Krankenzimmers klang sein Schlag feierlich, eine ernste Mahnung an den unaufhaltsamen Gang der Zeit, die unbewegt hinwegschreitet, über Glück und Unglück, über Leid und Freude, über Wiegen wie über Gräber.

»Vergänglich! – Vergänglich!« hörte Tschatschitsch aus dem eintönigen Pendelschlag heraus.

Vergänglich, ja! – Auch das heilige Werk war es, dessen erstes Opfer Iwan Feodorowitsch in den Abgrund sank.

Ein großes, ein leidenschaftliches Weh flutete über ihn hin, daß er laut hätte herausschluchzen mögen.

Jetzt hoben sich Karamanoffs Lider und er sagte mit leidlich kräftiger Stimme: »Die Orlowski soll herkommen. Mach ihr Platz, Helene Markowna.«

Die Aschkin stand auf.

»Wollen Sie so gut sein, Maria Lisaweta,« bat sie.

Die Bäuerin am Fenster erhob sich und trat zu dem Kranken.

»Hier bin ich, Iwan Feodorowitsch.«

»Ist es wahr, dass die Polizei hinter Ihnen her ist, daß sie in Lenowostowoi den Reisenden aus Ihrem Abteil auf der Fahrt von Berlin erkennen will?«

»Ja, es ist wahr,« antwortete sie, »und nur dieser Verkleidung und dem Abenddunkel verdanke ich's, meinen Wächtern entronnen zu sein und unbemerkt Wien erreicht zu haben. Lange wird es aber nicht dauern, bis die in Graz zurückgebliebenen Agenten sich als die Düpierten erkennen und bis bekannt wird, daß ich wieder hier bin. Ist es aber einmal soweit, so muß ich entweder die gestohlenen Papiers ausliefern oder – reden. Ein Drittes gibt es nicht. Der Gefahr, in Untersuchung gezogen zu werden, kann ich mich nicht aussetzen.«

Ein dumpfes Stöhnen erregte die Aufmerksamkeit der Fürstin.

Sie schaute sich um und ihr Blick fiel auf Tschatschitsch. Er saß in sich zusammengesunken, die mächtigen Hände vor dem Gesicht. Zwischen den Fingern quollen große Tropfen hervor.

Auch Karamanoff war auf ihn aufmerksam geworden, und als er ihn so sah, ein Häuflein Elend, sagte er mit einem lichten Lächeln sanft und tröstend: »Es wird Nacht um uns, Sergej, – aber jeder Nacht folgt ein Morgen! – Gehen auch wir unter – unser heiliges Werk bleibt bestehen! Es ist schon zu weit gediehen, um wieder in Staub zu verfallen. Andere werden kommen, werden sich seiner annehmen, werden es zu Ende führen, und glorreich wird es emporsteigen, das hehrste Heiligtum der Völker, wenn auch nicht unsere Hände die Fahne hissen dürfen auf dem vollendeten Wunderbau!«

Die Anstrengung des Sprechens hatte dem Kranken das Blut zu Kopfe getrieben und sein Gesicht zeigte eine krankhafte, bläulich-rote Färbung, als er sich in Erschöpfung tiefer in die Kissen drückte.

»Red' nicht so, Iwan Feodorowitsch, es zerreißt mir die Seele!« stieß der blonde Hüne so rauh heraus, daß man ihn kaum verstand.

Karamanoff holte ein paarmal tief Atem, so tief er konnte, dann sagte er: »Vor sechs – nein, noch vor drei Wochen hätte es auch mir die Seele zerrissen. Heute, wo ich mit einem Auge schon ins Jenseits schaue, ist es anders. Je hinfälliger der Körper wird, um so mehr klärt sich mein Geist, und ich sehe, daß es gleichgültig ist, wessen Hände den Schlußstein in den großen Erlösungstempel fügen. Nur, daß er eingefügt wird, ist von Bedeutung, nur daß rüstig weitergemauert wird. Die Maurer können wechseln, wenn sie nur ihre Schuldigkeit getan haben, solange sie es durften. – Und wir haben gemauert mit voller Kraft, mit ganzer Liebe, die Mauer ist unter unseren Händen ein tüchtiges Stück aufgestiegen, und läutet es uns jetzt zum Feierabend, so wollen wir willig die Werkzeuge niederlegen.«

Immer wieder kam die schwere, die erdrückende Ermattung über ihn, die ihm Stilleliegen und Schweigen gebot, und er, der sonst so widerstrebende Patient, fügte sich jetzt geduldig ihren Anforderungen, machte keinen Versuch, ihrer Herr zu werden. Er hatte den nutzlosen Kampf aufgegeben – er hatte verzichtet aufs Leben, auf den Sieg, auf die Ernte.

Die Fürstin nützte die eingetretene Stille zu der Frage: »Können Sie mich hören und verstehen, Iwan Feodorowitsch, oder greift es Sie zu sehr an?«

Eine schwache Kopfbewegung und ein noch schwächeres: »Ich kann! – Reden!« antworteten ihr.

Sie nahm den Platz ein, den die jetzt völlig fassungslose Aschkin ihr schon vorhin eingeräumt hatte, und begann: »Wenn wohl auch Sie, Iwan Feodorowitsch, ausscheiden werden aus den Reihen der Arbeiter an dem großen Werke, von dem Sie stets sprechen, so ist es doch nicht gesagt, daß auch Ihre Freunde es müssen. Ich habe einen Scheck über sechzigtausend Kronen mitgebracht, geben Sie mir dafür die Papiere, die Lenowostowoi dem Grafen Härtens gestohlen hat. Ich werde sie dem Grafen wiedergaben, werde meinen und meiner Familie Einfluß ausbieten, damit man Tschatschitsch und Woritzky in Ruhe läßt, damit Lenowostowoi mit einer gelinden Strafe, vielleicht mit der Ausweisung davonkommt. Sind die Papiere wieder zur Stelle, so regt die Frage, ob ich von dem Umtausch der Aktenstücke etwas gesehen habe oder nicht, niemand mehr auf. Noch weniger wird man Gewicht darauf legen, wenn es mir gefällt, meine Juwelen auch fernerhin zu verleugnen. Die Polizei ist froh, wird sie der Notwendigkeit überhoben, mir Schwierigkeiten zu bereiten.«

Während sie sprach, hatte der Kranke mit geschlossenen Augen dagelegen. Jetzt schlug er sie voll auf und sagte zu seinem Freunde: »Du weißt, wo in meinem Sekretär der gelbe Aktensack liegt, den ich dir kürzlich an die Seele band?«

»Ja.«

»So hol' ihn und gib ihn der Fürstin. Ich will die Papiere nicht mehr, sie haben das Unheil auch uns gebracht – nur sie. – Den Scheck nimmst du an dich – ich habe mit Geld nichts mehr zu schaffen.«

Schweigend vollzog Tschatschitsch diesen Auftrag. Als er zurückkam, legte er einen Aktensack in Karamanoffs Hände, nicht in die der Fürstin.

»Sieh', ob es so recht ist,« sagte er zu dem Kranken.

Karamanoff warf nur einen Blick in das an einer seiner Schmalseiten ausgeschnittene Kuvert, dann gab er es der Fürstin.

»Alles in Ordnung,« sagte er.

Wie schwere, niederziehende Ketten fiel es von ihr, und in ihrer Seele rauschte eine befreiende Freude, ein heißer Dank auf, als sie endlich die Papiere in der Hand hielt, die sie so sehnlich umworben hatte. Nun war der Schaden, den sie durch ihr Schweigen mitverschuldet, doch wieder einigermaßen ausgeglichen!

»Waren diese Papiere aus Ihrer Hand, Iwan Feodorowitsch, hat ein Dritter sie gesehen?« fragte sie, immer noch eine leise Angst in der Stimme.

»Sie sind nicht aus meinem Sekretär herausgekommen.«

Ein neuer Dank stieg aus Lisawetas Herzen zur Höhe.

»Wenn Sie mir sonst noch etwas zu sagen haben, Maria Lisaweta, so sagen Sie es. Es fragt sich sehr, ob wir uns jemals wiedersehen,« tönte Karamanoffs müde Stimme in ihre freudige Bewegung hinein.

Aus dem Hintergrund des Zimmers drang ein halb unterdrücktes Aufschluchzen.

»Arme Helene!« flüsterte der Kranke.

Wider ihren Willen, wider ihre bessere Einsicht fühlte auch die Fürstin sich ergriffen, und diese Empfindung durchklang ihre Stimme, als sie antwortete: »Daß ich Ihnen verzeihe, Iwan Feodorowitsch. Ich kann es, weil nicht persönlicher Eigennutz Sie bestimmte. Sie haben für eine Idee gelebt, für sie – gesündigt. – Gleichzeitig erkläre ich Ihnen aber auch, daß des Fürsten und meine Sklaverei ein Ende nehmen muß und wird, so oder so. Die Unvorsichtigkeit, uns von dem unglücklichen Paul Petrowitsch in eine Gesellschaft einführen zu lasten, deren Zwecke und Ziele uns völlig unbekannt waren, haben wir teuer genug bezahlt. Sie kostete uns ein beträchtliches Vermögen und vergiftet seit bald fünf Jahren unser Leben.

Sie Tschatschitsch,« und Lisaweta wendete sich zu dem mähnenhaarigen Riesen, »können übermorgen den Restbetrag für dieses letzte Jahr bei mir abholen. Weiter gehe ich keinen Schritt mehr. Nur für Helene Markowna füge ich hunderttausend Kronen bei, denn ich weiß. Karamanoffs lebten von der Hand in den Mund. – Das ist alles, was ich zu sagen hatte.«

Die Aschkin stand aber schon neben dem Kranken und seine über die Ottomane niederhängende Hand fassend, sagte sie feierlich, beschwörend: »Ich will nichts von ihr, will nichts von anderen, Iwan Feodorowitsch! Ich bin gesund, ich bin kräftig und kann arbeiten. Bei Leo Medjeff finde ich jede Stunde ein Unterkommen als Beschließerin oder Aufseherin. Die Sorge um mich darf dich also nicht beeinflussen in deinen Entschließungen.«

»Sie brauchen nicht zu arbeiten, Helene Markowna, denn ich werde ihr Bruder sein, wie ich es schon gesagt habe!« fiel Tschatschitsch ihr in die Rede.

Karamanoff winkte beiden in ruhiger Gelassenheit ab.

»Laßt uns ungestört verhandeln, die Minuten sind kostbar, und ich werde Maria Lisaweta wohl nicht wiedersehen,« sagte er.

Die Gewißheit des Todes, gegen die er sich zuerst so wütend gesträubt, hatte ihn allmählich verwandelt, hatte einen stillen, friedfertigen Menschen aus ihm gemacht. Kein rauhes, kein herrisches Wort kam mehr über seine Lippen, kein höhnisches Lächeln trat mehr in seine Züge.

Sich wieder der Fürstin zuwendend, sagte er fast bedauernd: »Ich kann nicht darauf eingehen. Ist ein Mensch so weit wie ich, muß er wenigstens bis zu seinem letzten Atemzuge der Sache treu bleiben, für die er gelebt hat und für die er auch stirbt. Ich aber würde mich gegen diese Treue verfehlen, nähme ich an, was Sie bieten.«

Er hielt einen Augenblick an, holte rasch hintereinander tief Atem, dann fuhr er noch leiser, mit einer sehr angegriffenen Stimme fort. »Geben Sie noch eine Million Kronen, Maria Lisaweta. Sie sind so reich, daß Sie unter einer solchen Gabe nicht einmal leiden, daß sie nicht störend eingreift in Ihre Lebensgewohnheiten, und Sie erkaufen sich damit ungetrübten Frieden. Das gelobe ich Ihnen, das gelobt Ihnen auch Sergej Tschatschitsch, mein Erbe und Nachfolger im Werk. – Sergej, komm hierher!«

Der Riese rührte sich nicht. Er war vorhin, als das Stillestehen von Wagen seine Aufmerksamkeit erregt, ans Fenster getreten und starrte seither, sich leicht hinauslehnend, daß er sehen konnte, was sich vor dem Hause begab, unverwandt hinunter.

»Sergej!« wiederholte der Kranke lauter.

Und »Sergej, Iwan Feodorowitsch ruft!« mahnte die Aschkin in dem Glauben ihres Bruders Ruf wäre nicht gehört worden.

Der Hüne rührte sich jedoch wieder nicht, bis er plötzlich mit einem wilden Ruck herumfuhr und leichenblaß, mit geballten Fäusten auf die nichtsahnende Fürstin losstürzte.

»Die Polizei! – Hündin – die Polizei! Du hast sie Iwan Feodorowitsch auf den Hals gehetzt – du hast ihn verraten! – Stirb, Bestie!«

Und die Fäuste lösten sich zu gierig zutappenden Tatzen auf, die nach Lisawetas Hals strebten, ihn zu umklammern suchten.

Da warf sich mit einem kurzen Aufschrei Helene Markowna dazwischen.

»Zurück – fort! Du großer Narr und Tölpel! Das Unheil verschlimmern, das ist deine Weisheit! – Zurück, sag' ich!« donnerte das große, grobknochige Weib und stellte sich mit weit ausgebreiteten Armen vor die Bedrohte.

»Ruhe, Tschatschitsch! – Setz dich!« befahl Karamanoff mit aller Kraft, die er noch aufzubringen vermochte.

Auch diese Stimme hatte ihre Macht über ihn verloren. – Vielleicht hatte er sie nicht einmal gehört.

Wie ein rasender Stier augenblickslang vor dem ersehenen Opfer stillesteht, die Hörner stoßbereit gesenkt, so stand Tschatschitsch einen Augenblick vor den beiden Frauen, ehe er Helene Markowna am Arm ergriff und mit kräftigem Schwung weit von sich schleuderte, daß sie taumelnd mit beiden Händen in die Lust griff und beinahe gestürzt wäre.

Die Fürstin, zurückgekommen von dem Schrecken des ersten unvorhergesehenen Ueberfalls, hatte jedoch die Geistesgegenwart zurückgewonnen, sich an die andere Seite der Ottomane geflüchtet und den sie auf solchen Wegen stets begleitenden Taschenrevolver gezogen.

Wortlos richtete sie seinen Lauf auf des Hünen breite Brust.

»Einen Schritt, und ich schieße dich nieder wie einen tollen Hund, Wahnsinniger!« rief sie ihm zu, der sie aus hervorquellenden, stieren Augen anglotzte.

»Setz dich, Sergej!« wiederholte Karamanoff seinen Befehl.

Da ging die Flurglocke scharf und hell, gezogen von harter Hand.

Für Tschatschitsch war es das Signal, zur Zimmertür zu springen und den im Schlosse steckenden Schlüssel zweimal herumzudrehen.

»Hier herein steckt kein Hund von einem Polizisten seine Spürnase!« keuchte er.

Draußen wurden Stimmen laut, die Tritte von Männern.

»Herr Iwan Karamanoff?« fragte jemand im befehlenden Amtston.

Das Dienstmädchen stotterte eine Antwort, die keins verstand.

»Schließ auf, Sergej!« rief der Kranke aufgeregt.

Der Hüne antwortete nicht. Er stand vor der Tür, den Fuß dagegen gestemmt, die Augen glühend.

»Kommen Sie, Fürstin – durch das Nebenzimmer und die Küche können Sie auf den Flur! – Schnell! In der Wut kennt sich Sergej nicht, ist er zu allem fähig!« flüsterte Helene Markowna der Fürstin in fiebernder Hast zu und suchte sie mit sich fortzuziehen. Diese rührte und regte sich jedoch nicht, wich nicht vom Flecke. Eine Erstarrung war über sie gekommen. Sie fühlte das Verhängnis herannahen – sie wußte, daß ihre Absichten zuschanden wurden, daß es kein Entrinnen gab.

Eine Hand pochte an die Tür.

»Mach auf, Sergej!« rief der Kranke atemlos.

»Nein und hundertmal nein!«

»Und ich befehle dir, schließ auf!«

Wieder pochte es, ungeduldig, herrisch, und die befehlende Stimme von vorhin forderte: »Aufgemacht, im Namen des Gesetzes!«

»Macht Euch selber auf, ihr Söhne einer Hündin, daß ich einen um den andern niederschlage!« heulte Tschatschitsch in Raserei und schwang seine geballten Fäuste wie Schmiedehämmer.

Da raffte Karamanoff, einen Skandal und noch Schlimmeres fürchtend, seine letzten Kräfte zusammen, sprang von der Ottomane und riß den unvorbereiteten Riesen von der Tür weg.

»Noch bin ich dein Meister – noch hast, du zu gehorchen –«

Es war Iwan Feodorowitsch Karamanoffs letztes Wort.

Ihm folgte noch ein halb erstickter, gurgelnder Schrei – ein Griff nach der Brust – ein heftiges Schwanken, und ehe jemand ihn stützen konnte, schlug der Patient schwer auf den Fußboden nieder.

»Iwan!«

»Iwan!«

Es waren herzzerreißende Laute, in denen die Aschkin, in denen der jählings zur Besinnung zurückgebrachte Tschatschitsch den Namen des Bruders und Freundes riefen.

Er lag unbeweglich, lang gestreckt, die Augen, die nichts mehr zu sehen schienen, weit aufgerissen. Und doch lebte er noch, aus seiner Brust drang ein schwaches Röcheln.

Laut schluchzend hatten sich die beiden Menschen, die ihm im Leben am nächsten gestanden, über ihn geworfen.

Helene Markowna rief fortwährend seinen Namen, rieb ihm die Pulse! Tschatschitsch riß und zerrte an seinem langen blonden Haar, während er immer wieder unter heißerem Schluchzen die Selbstanklage hervorstieß: »Und ich bin sein Mörder – sein Mörder!«

»Hebt ihn auf und bettet ihn auf die Ottomane, vielleicht kommt er doch noch einmal zum Bewußtsein.«

Es war Lisaweta, die es sagte.

Sie war herzugetreten und schaute ernst auf den Sterbenden nieder.

Die beiden anderen gehorchten.

Draußen war es ganz still geworden – lautlos still. Unter der Tür des Nebenzimmers aber, durch das die Fürstin hatte flüchten sollen, standen mit abgezogenen Hüten, in ernster Haltung der Polizeirat Meidler, der Polizeikommissar Dr. Jelbermayer und noch ein dritter Herr, ein hoher Dreißiger von vornehmer, eleganter Erscheinung.

Niemand hatte sie noch gesehen, niemand gedachte mehr ihrer selbst. Lisaweta war um Karamanoff beschäftigt, vor dessen Mund jetzt blutig gefärbter Schaum stand. Sie hatte das Ohr an seine Brust gelegt und horchte. Alles war still. Das Röcheln war immer schwächer geworden, jetzt hatte es ganz aufgehört und auch kein Herzschlag war mehr vernehmbar.

Nach einer Weile richtete sie sich auf und sagte leise, feierlich: »Helene Markowna, ich glaube, er ist erlöst! – Lassen Sie aber dennoch einen Arzt rufen.«

»Nein, nein – es ist zu Ende! Laßt ihm die Ruhe!« schluchzte Tschatschitsch fassungslos wie ein Kind.

Lisaweta faltete die Hände und begann mit lauter Stimme zu beten, ein einfaches Vaterunser, und die beiden Trauernden, längst des Betens ungewohnt, sprachen ihr die Worte stammelnd nach. Selbst die drei Herren auf der Schwelle des Nebenzimmers neigten die Köpfe und legten die Hände übereinander.

»Allbarmherziger Gott, sei seiner Seele gnädig und rechne ihm nicht an, was er geirrt und gefehlt. Er hat gearbeitet, er hat gedarbt, er hat sich steter Gefahr ausgesetzt und er ist gestorben für eine Idee! Amen.«

»Ein Märtyrer war er! – O Iwan – du Bester – du Edelster! Mit beiden Händen, hat er im Gelde gewühlt und sich doch den Bissen Fleisch, den Schluck Wein versagt, die zur Erhaltung seiner Kräfte nötig waren, um dem heiligen Werke keine Kopeke zu entziehen! – Langsam verhungert ist er – verhungert!« schluchzte die Aschkin mit brechender Stimme.

»Der Größte war er, den russische Erde je getragen hat! – Fluch und Verderben über seine Mörder!« rief Tschatschitsch, beide Hände wie beschwörend hoch über den Kopf erhebend.

Lisaweta stand noch schweigend, mit gefalteten Händen neben der Leiche, als ihre Schulter leise berührt wurde.

Es war der vornehm aussehende Herr, der in Begleitung der Kriminalbeamten eingetreten, der Staatsrat Graf Nikolaus Nikolajewitsch Scheragin. Er forderte sie auf, ins Nebenzimmer zu kommen, in das sich Meidler und Dr. Jelbermayer zurückgezogen hatten.

Sie zog unter ihrem Brusttuch den von Karamanoff ausgelieferten Aktensack hervor und überreichte ihn dem sich verneigenden Meidler mit den Worten: »Hier, Herr Polizeirat, die Schriftstücke, die dem Grafen Hartens in der Nacht vom 9. auf den 10. März gestohlen wurden. Bisher hat nur einer von ihrem Inhalt Kenntnis genommen, der, aus dessen Hände ich sie zurückempfangen habe. Die darin etwa niedergelegten Geheimnisse sind also unverletzt geblieben. Ich hoffe, die Sache, die glücklicherweise ohne wirklichen Schaden für irgendwer abgelaufen, ist nunmehr erledigt und begraben.«

Die bei Meidler erwartete Freude äußerte sich in keiner Weise. Er nahm das Päckchen mit einer dankenden Verbeugung an sich, sagte aber bedauernd: »Jetzt tut es mir erst recht leid, nicht schon eher Haussuchung gehalten zu haben bei den Geschwistern Karamanoff, denn Durchlaucht haben jedenfalls ein kleines Vermögen an die Erlangung dieser Papiere gewendet, die wir uns einfach hier hätten holen können.«

»Wieviel hast du dem Karamanoff dafür bezahlt, Kusine? Bitte sage es uns ehrlich,« forderte Graf Scheragin.

»Ja, sagen Sie es uns, meine gnädigste Fürstin,« bat auch der Polizeirat eindringlich. »Dieser Betrag wenigstens muß noch im Hause sein, kann also gerettet werden«

Lisaweta machte eine abwehrende Handbewegung.

»Wie ich die Schriftstücke an mich gebracht, von wem ich sie erhalten habe, lassen Sie mein Geheimnis sein und bleiben, Herr Polizeirat. Ich habe mein Versprechen gehalten, habe die Papiere beigebracht, das kann Ihnen genügen. Ich bin weniger denn je geneigt Aufschlüsse zu geben. – Der Anblick des Sterbens und des Todes weckt allerlei Gedanken und Empfindungen, und die Grenze zwischen Verbrechen und Irrwahn läuft in einer so krausen Linie, daß es kaum möglich ist zu unterscheiden, wo das eine oder der andere endet. Verurteilen ist leicht, richtig urteilen außerordentlich schwierig. Darum enthalte ich mich des Urteilens wie des Verurteilens.«

»Durchlaucht wollen aber bedenken, daß ein Diebstahl, auch der zu Spionagezwecken, ein Verbrechen ist.«

Scheragin bot der Fürstin den Arm und führte sie zu einem Sitze.

Dann sagte er: »Du darfst ruhig reden, Kusine Lisaweta, der Herr Polizeirat und der Herr Polizeikommissar wissen über alles Bescheid. Auch über das Doppelspiel, das der Verstorbene mit deinem Manne und mit dir getrieben hat.«

Die Fürstin zuckte auf: »Wer hat die Herren davon unterrichtet – du, Vetter Nikolaus?«

»Ja, ich, doch auch Alexander, der seit vorgestern abend hier ist –«

»Um des Himmelswillen – er ist hier? – Sie, Herr Polizeirat, haben sich mit dem Fürsten in Verbindung gesetzt,« rief sie heftig erschreckt.

»Ich habe es getan, Kusine – ich –«

»Das war wider die Abrede, Nikolaus, das war nicht recht! – Kein Mensch sollte erfahren, daß ich dich ins Vertrauen gezogen habe, und du sagst dem Polizeirat alles, was ich ohne Rücksicht auf Verdächtigungen und Unannehmlichkeiten als tiefes Geheimnis bewahrt, du rufst auch Alexander hierher, wo er in der schlimmsten Gefahr schwebt! Niemand darf man vertrauen –«

»Beruhigen sich Durchlaucht!« bat Meidler. »Der Herr Staatsrat bedurfte unseres Beistandes zur Unschädlichmachung des Karamanoff und seiner Genossen, und er konnte ihm nur werden, wenn er uns die weitgehendsten Aufklärungen gab, ohne die wir überdies genötigt gewesen wären, unverzüglich und mit der äußersten Strenge gegen Eure Durchlaucht vorzugehen.«

»Und von einer Gefahr für Alexander ist keine Rede mehr,« setzte Scheragin hinzu.

»Das darf ich bestätigen, Michael Lenowostowoi ist seit einer Woche interniert, Gregor Woritzky, der Chemiker, auf Grund eines kleinen Bombenlagers, das wir bei einer heute nacht vorgenommenen Haussuchung in seiner Wohnung auffanden, sofort sistiert worden, der Tschatschitsch und die Aschkin entrinnen uns nicht mehr, und weitere Genossen hat der Verstorbene überhaupt nicht gehabt, denn der Züricher Ingenieur Richard de Wahl war offenbar in Unkenntnis über die Absichten seines Auftraggebers.

Wir aber kennen sie. Als Gregor Woritzky alles verloren sah, gab er uns Aufschluß über das geplante »heilige Werk«, denn er ist stolz daraus wie einer, der die Menschheit von Tod und Sünde errettet hat? Uebrigens muß ich sagen, der verstorbene Karamanoff hat den großartigsten Vernichtungsplan ersonnen, dessen Geburtsstätte ein menschliches Hirn jemals gewesen ist!

Von den Millionen, die er Eurer Durchlaucht und anderen abgepreßt, von den kecken Spionendiensten, die er und seine Genossen seit Jahren geleistet, sollten hundert Flugmaschinen gebaut und zweihunderttausend Wurfbomben gegossen werden, die zu einer und derselben Stunde aus den über ganz Rußland verteilten Maschinen auf die Regierungsgebäude und die Häuser der Mißliebigen geschleudert, Tod und Verderben in sie hineintragen sollten zur Befreiung des »schmachtenden Volkes!« –

»Das schmachtende Volk« mag sich beglückwünschen, diesen »Erlösern« entronnen zu sein!« setzte Jelbermayer hinzu.

Meidler reckte sich hoch und sagte mit einem Blick nach der Tür des Sterbezimmers: »Jetzt erübrigt uns noch eine, wie ich gerne zugebe, harte Amtshandlung. Bitte, lieber Jelbermayer, rufen Sie den Hoffmann zur Assistenz. Der Wagner soll mit schußfertiger Waffe draußen an der verschlossenen Tür bleiben.«

Dann sich zu Lisaweta wendend: »Es dürfte besser sein, wenn Eure Durchlaucht sich zurückziehen,« sagte er »Der Herr Staatsrat wird die Güte haben, Sie in meine Wohnung zu bringen, in die ich um seiner Sicherheit willen den Fürsten Orlowski aufgenommen habe. »Auch den Herrn Feldzeugmeister Baron Reichlingen dürften Durchlaucht dort antreffen. Er kam heute nacht in Wien an.«

Und es war gut, daß Lisaweta die Karamanoffsche Wohnung vor Beginn des Schlußaktes verließ, der sich als eine Tragödie erwies. Beim Betreten des Sterbezimmers fanden Meidler und seine Begleiter, auf Karamanoffs Leiche ruhend, die Leiche der Aschkin und die Tschatschitschs, die den toten Bruder und Freund krampfhaft umklammert hielten.

Beide bluteten leise aus kleinen runden Löchern in der Schläfe.

Ein Luftdruckpräzisionsrevolver feinster Arbeit fand sich in Tschatschitschs zusammengekrampfter rechter Hand. Das erklärte die Lautlosigkeit der beiden Schüsse.

Einige Augenblicke standen die drei Männer regungslos vor dem traurigen Bilde, dann wendete sich Polizeirat Meidler auf den Zehenspitzen und winkte den beiden andern, ihm zu folgen.

Als sie die Tür des Totenzimmers hinter sich ins Schloß gedrückt hatten, sagte er zu Hoffmann: »Drehen Sie den Schlüssel um und stecken Sie ihn in die Tasche. Sie und Wagner bleiben in der Wohnung, die vorläufig niemand betreten darf. Das Dienstmädchen hat in der Küche zu bleiben, kann aber auch in ihr Zimmer gehen, wenn sie eins hat. – Alles weitere werden wir veranlassen.«

»Sehr wohl, Herr Polizeirat,« antwortete der Detektiv.

»Kommen Sie, lieber Jelbermayer.«

Und schweigend, unhörbar gleitend verließen die Beamten die schauerliche Stätte, an der in einer Stunde drei Menschen den Tod gefunden hatten, alle drei als Opfer eines verwerflichen Fanatismus, der, von anarchistischen Gedanken geboren, sie immer tiefer in die Bande des Verbrechens schlagen mußte, aus dem es kein Entrinnen und keine Erlösung mehr gab, dessen Verderbtheit auch den Willen des edlen Fürstenpaares durch Jahre hindurch in unwürdiger Knechtschaft, in steter quälender Angst vor einem hinterhältigen Mord an dem Ehegatten gehalten hatte. –


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