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Als Lisaweta nach Hause kam, wurde sie von Nadascha mit der Meldung empfangen, daß kurz zuvor ein Kommissär und zwei Agenten vom Sicherheitsbureau erschienen wären. Der Beamte erwarte ihre Rückkehr im Salon.
»Ihr habt die Polizei also doch gerufen – gegen meinen Willen – rief sie erschreckt.
»Der Kammerdiener hat es getan, Mütterchen Durchlaucht ich habe gar nichts davon gewußt, der Basil ebensowenig!« entschuldigte sich die Alte, als sie die unerfreuliche Wirkung dieser Nachricht erkannte.
»Ich sagte aber doch, es sollte gewartet werden –«
»Bis sämtliche Hausleute gefragt wären. Das ist geschehen. Keiner aber hat etwas Verdächtiges oder Auffallendes bemerkt, keiner, und darum sind sie ganz außer sich! Der Kammerdiener noch ärger als die anderen. Ich hätte es trotzdem nicht gelitten, daß die Polizei angerufen wird, aber ich habe es ja erst erfahren, als es zu spät war«, stotterte die Kammerfrau dem Weinen nahe.
Die Fürstin sah es und sagte, ihre Erregung unterdrückend: »Geschehen ist geschehen, wer weiß, wozu es gut ist. Mach dir nichts daraus. – Was hast du da?« und sie wies auf ein Holzkästchen in ihrer Hand.
»Die Schlüssel zu den Schränken und Koffern der Leute«, antwortete die alte Frau und setzte das Kästchen auf den Toilettentisch.
Die Fürstin, noch völlig unter dem Eindruck alles dessen, was seit vierundzwanzig Stunden auf sie eingestürmt war, schaute Nadascha verständnislos an. Auch nur der leiseste Verdacht gegen ihre Dienerschaft lag ihr so fern, daß ihr nicht einmal der Gedanke kam, sie könnten sich verdächtigt fühlen.
»Sie haben sie mir sofort gegeben, wie sie vom Diebstahl gehört haben, Mütterchen Maria Lisaweta. Die meinigen und die vom Basil sind auch dabei«, setzte die Kammerfrau in Beantwortung des fragenden Blickes ihrer Dame hinzu.
Sie begriff jetzt den Anlaß zur Schlüsselübergabe und über ihr Gesicht ging ein leises Lächeln.
»Ihr seid toll und ihr beide, du und der Basil. seid es nicht am wenigsten. Behaltet eure Schlüssel, ich will sie nicht. Und sag den Leuten, sie sollen sich beruhigen. Wohin der Schmuck gekommen, wüßte ich nicht, wohl aber, daß keiner von ihnen ihn hätte.«
»Das habe ich ihnen schon gesagt, habe gesagt, unser gnädigstes Mütterchen hätte sicher keinen von uns in Verdacht, aber sie sind außer sich! Darum ist der Johann auch gleich ans Telephon gelaufen. Der Dieb müßte unter uns sein, behauptet er, und die anderen sagen es auch! Sie sagen: »Es ist gar nicht anders möglich, wo doch alle Zimmer zugesperrt waren und kein Mensch den Fuß hineingesetzt hat.« Eins müßte einen Nachschlüssel haben, meinen sie.«
»Nein«, sagte sie, »das ist nicht der Fall, und du weißt es so gut wie ich. Niemand würde mir nur ungefragt eine Stecknadel nehmen.«
»Ich glaub's ja auch, den Leuten ist jedoch keine Vernunft beizubringen.«
»Wie gesagt, geschehen ist geschehen. Sag aber dem Kammerdiener, in Zukunft hätte er meine Weisungen abzuwarten, ehe er handelt. – Ich will mich umkleiden.«
Für Lisaweta war die Sache erledigt. Sie hatte anderes im Kopf und auf der Seele. Auch war ihr des Kammerdieners Eigenmächtigkeit recht unangenehm. Sollte ihr Verdacht gegen Karamanoff kein unbegründeter sein, so konnte die Einmischung der Polizei in die Diebstahlssache fatale Folgen nach sich ziehen.
»Mütterchen Maria Lisaweta ist wieder sehr unglücklich, hat ganz Schlimmes erlebt?« fragte die alte Russin, als sie ihrer Dame Hut und Pelz abnahm.
»Ja«, nickte die Fürstin, »Karamanoff ist schlimmer als ich glaubte. Wir reden später darüber. Ich wollte die Leute von der Polizei wären schon aus dem Hause, ich bin beinahe unfähig, Erklärungen zu geben.«
Nadascha seufzte leise.
»Der – der Mensch fordert doch nicht schon wieder Geld?« fragte sie aufgeregt.
»Doch. – Er ist unersättlich! – Aber jetzt habe ich keine Zeit.«
Und die Kammerfrau ihrer Arbeit überlassend, durchschritt die Fürstin die beiden Räume, die das Ankleidezimmer vom Salon trennten.
Dort wartete ein glattrasierter Herr im eleganten Zivil, der die Gemälde an den Wänden besah.
Bei Lisawetas Eintritt wendete er sich um und ging ihr nach einer respektvollen Verbeugung entgegen.
»Ihre Durchlaucht die Frau Fürstin Orlowski?«
Und als sie nickte, stellte er sich mit einer zweiten Verbeugung vor: »Polizeikommissar Jelbermayer vom Sicherheitsbureau.«
Die Unterredung war von kurzer Dauer. Lisaweta hatte nicht viel anzugeben. Sie hatte keine besonderen Wahrnehmungen gemacht, hatte auf niemand Verdacht. Für sie war das Verschwinden der beiden Schmuckstücke einfach ein Rätsel. Das einzige, was sie mit der vollsten Bestimmtheit sagen, worauf sie einen Eid ablegen könnte, war, daß sie den Schmuck kurz vor ihrer Abreise nach Berlin am Donnerstag mittag in den Sekretär in ihrem Schreibzimmer eingeschlossen hatte.
Dann schloß sie: »Kein Mensch wußte es, nicht einmal meine vertraute Kammerfrau, denn ich war sehr eilig. Der gewöhnliche Verwahrungsort für meine Juwelen ist die feuersichere Kasse, die ich ganz intakt wiedergefunden habe.«
Der Kommissar stand auf.
»Hoffentlich sind wir glücklicher als Eure Durchlaucht und finden wenigstens etwas, was einen Anhaltspunkt bietet«, sagte er.
Wieder allein, ging Lisaweta in ihr Schlafzimmer und warf sich auf die Chaiselongue.
Sie war sterbensmüde und sterbensunglücklich – verzweifelt, hoffnungslos bis zum Aeußersten. Alles, was sie in den letzten vierundeinhalb Jahren ertragen und geopfert hatte, schien nichts zu sein im Vergleich zu dem niederwerfenden Bewußtsein: »Du bist die Mitschuldige eines Diebes!« – Und das war sie, dagegen halfen keine Sophismen.
Sie hatte, während der Grenzaufseher ihren Handkoffer im Bahnwagen durchsucht, deutlich gesehen, wie Michael Lenowostowoi einen gelben Aktensack aus Graf Hartens Pelz gezogen und sie hatte gegen den Bestohlenen ein Geheimnis daraus gemacht.
Sie, die vielbeneidete Fürstin Orlowski, hatte sich selbst auf eine Stufe gestellt mit einer gewöhnlichen Verbrecherin?
Schauder um Schauder rann durch ihre fein gebauten Glieder, als strömte Eis durch sie, in ihrem schmerzenden Kopfe aber tobte Flammenglut.
Das Unheil zog immer engere Kreise um sie!
Und die Ungewißheit über die Bedeutung, die der Verlust oder vielmehr der Austausch des Aktensackes für Agenor Hartens besaß! – Waren die auf der Botschaft empfangenen Schriftstücke darin verwahrt gewesen, diente Lenowostowois Diebstahl der Spionage?
Es war die nächstliegende Annahme und es war wohl auch die zutreffende.
»Großer, allmächtiger Gott, erbarme dich meiner, führe mich aus dieser Not!« stöhnte sie, den Kopf zwischen die Hände pressend.
Die Wahrheit verheimlichen, vielleicht noch lügen müssen!
Schrecklich!
Und sie mußte schweigen – sie mußte! Es handelte sich ja um Alexander! –
Nach einer Weile kam Nadascha herein. Sie sah niedergeschlagen aus und sagte kummervoll: »Sie finden nichts, nicht die kleinste Spur, obgleich sie alles umgekehrt, jedes Fleckchen Wand und Parkett beklopft haben. Der Kommissar behauptet steif und fest, der Dieb hatte den Schmuck in einem Augenblick aus dem Sekretär herausgeholt, wo dieser offengestanden hat, er wäre im Hause oder doch damals drinnen gewesen. Das ist aber unsere Verurteilung, denn außer uns Dienern war keine Seele da, seit Mütterchen Maria Lisawetas Abreise nach Berlin.«
Für den Augenblick zog sich der Fürstin eigener Kummer zurück vor dem der treuen alten Kammerfrau, die sich mit unter dem Verdachte des Kriminalbeamten fühlte.
Sie war sofort bei der Sache und fragte: »Sind Eure Sachen schon durchsucht?«
»Ja.«
»Dann weiß der Kommissar, daß niemand von euch der Dieb ist.«
»Daß sich bei uns nichts gefunden hat, würde nichts beweisen, sagte er. Der Täter hätte Zeit genug gehabt zum fortschaffen seines Raubes, und das ist auch wahr. – Behandelt hat er uns, als ob wir alle Diebe und Räuber wären und mit dem armen Basil ist er wegen seines schönen Astrachanpelzes wie mit einem ausgemachten Verbrecher umgesprungen!«
»Der Pelz ist doch ein Geschenk des Fürsten zu Basils fünfzigsten Geburtstag –«
»Angegeben hat er es, der Kommissar scheint's aber nicht recht zu glauben. Es wäre ein feiner Herrenpelz, hat er darauf gesagt, er müßte Hunderte gekostet haben.«
Lisaweta stand auf.
»Es ist gut. Ich werde dem Herrn sagen, daß er auf falscher Fährte ist und euch in Ruhe lassen soll«, erklärte sie heftig.
Ueber das runzlige Gesicht der alten Frau leuchtete Freude. Sie war stolz, daß Mütterchen Maria Lisaweta sich ihrer und ihrer Mitdiener so warm annahm.
»Wo ist der Kommissar?« fragte die Fürstin.
»Wieder in Mütterchens Schreibzimmer. Um neun Uhr morgens sollen die Nachforschungen von neuem aufgenommen werden, droben im zweiten Stock.« Dann trat sie dicht an die Fürstin heran und flüsterte: »Hat Mütterchen Maria Lisaweta den Brief an den Grafen Nikolaus Nikolajewitsch geschrieben?«
»Er ist fertig. – Dort liegt er, auf dem Rosenholztischchen, Wenn du ausgehst, nimmst du ihn mit.«.
»Wie es Tag wird, trage ich ihn fort. – Was hat Mütterchen dem Grafen geschrieben?«
Die Fürstin nahm diese Vertraulichkeit nicht ungnädig, Nadascha durfte sich derartiges erlauben.
»Nicht viel. Ich wollte vorsichtig sein, erkundigte mich nur, wie es seiner Kleinen gehe und ob die Verhinderung länger dauern, ob wir uns in der nächsten Zeit vielleicht anderswo treffen könnten. Das genügt. Ist etwas nicht in Ordnung, so werden wir es aus seiner Antwort erfahren«, antwortete die Orlowski.
»Mütterchen Maria Lisaweta wird bald sehen, daß etwas nicht in Ordnung ist.«
»Das muß abgewartet werden«, und der alten Frau freundlich zunickend, ging sie aus dem Zimmer.
Diese aber begab sich in die Bedientenstube und eröffnete den drinnen versammelten Dienern und Dienerinnen: »Ich habe der Frau Fürstin erzählt, wie der Kommissar mit uns verfahren ist, und sie ist zu ihm gegangen, um ihm zu sagen, daß unter uns kein Spitzbube ist und daß er uns in Ruhe lassen soll. Sie hält auf uns und läßt nichts auf uns kommen!«
Der Kammerdiener nickte.
»Ja, unsere Fürstin ist eine brave und eine gute Dame! Lieb wäre es mir aber doch, wenn sich der Schmuck wiederfände, sonst bleibt halt doch ein Schatten auf uns. Darum habe ich dem groben Kerl, dem Kommissar, einen Weg gewiesen, bloß aus Rücksicht für uns, nicht aus Liebenswürdigkeit. Von mir aus könnte er suchen, bis er schwarz wird!«
»Wissen Sie denn was?« fragte Basil aufhorchend.
Der Kammerdiener wiegte den Kopf.
»Wie man's nimmt, 's kann was sein, 's kann aber auch nichts sein. Ich weiß nur, daß der Herr Karamanoff, das klapperdürre Scheusal, kurz vor Durchlauchts Abreise nach Berlin bei ihr im Schreibzimmer war. Ferner weiß ich, und das ist von besonderer Bedeutung, daß er auch eine Weile allein drinnen war, denn ich habe ihn mit meinen eignen Augen drinnen gesehen, wie ich durchs Speisezimmer ging. Die Tür stand ein wenig offen«, erzählte Johann.
Darauf wurden »Ah's« und »Oh's« in allen Schattierungen laut. Eine so interessante Mitteilung hatte keiner erwartet. Anton sagte sogar begeistert: »Herr Johann, das is 'n Licht!«
»So, Herr Kammerdiener«, fing Franz, der zweite Kutscher an, »wie wissen's denn aber, daß der Karamanoff alleinig drinnen gewesen is, daß unsere Durchlaucht nöt auch da war?«
»Weil ich Durchlaucht eine halbe Minute später im Kabinett mit Geld klimpern hörte.«
»Schade, daß net zur Polizei gange sein, Herr Kammerdiener. Sö warn a feiner Spitzl worrn!« gab Anton seiner Bewunderung Ausdruck.
Johann lächelte geschmeichelt.
»Wenn man in großen Häusern konditioniert, lernt sich das stille Beobachten. Dann hab ich den Karamanoff von jeher auf 'n Strich. Er hat so eine gewisse Physiognomie, die ich nicht ausstehen kann!«
»Dös is scho wahr, i hab eahm an no niemals viel Gut's zutraut, und wann er an hundertmal a Professor oder so was is. Mi wundert's. daß unsere Durchlaucht mit an solchenen Menschen umgehen mag!« erklärte Anton.
Nadascha und Basil allein sagten nichts, einen Blick aber hatten sie getauscht, einen Blick, der sagte: »Das Rätsel ist gelöst!«
Sie sprachen es aber nicht aus, denn Mütterchen würde es unangenehm sein.
Als Antwort auf Antons Bemerkungen aber erwiderte der alte Russe würdevoll: »Unsere Durchlauchtigen haben den Herrn Karamanoff schon in Petersburg gekannt, wo er bis zu seiner Flucht ein sehr angesehener Mann war. Ich denke mir – es geht ihm ziemlich schlecht und vermute, daß die Fürstin ihn mit Geld unterstützt.«
»Sö, Herr Kammerdiener, ham's auch gsehen, ob der Frau Fürstin ihr Sekretär offen war?« erkundigte sich der Bediente Valentin, ebenfalls ein geborener Wiener.
»Nein, das habe ich leider nicht gesehen, so wie die Tür stand, auch nicht sehen können. Dafür aber habe ich bemerkt, daß der Mann die eine Hand in der Seitentasche seines Rockes stecken hatte«, berichtete Johann.
»Der Teixel, dös is verdächtig, dös muß i sagen!« ließ sich wieder Anton vernehmen.
Inzwischen war Lisaweta in ihr Schreibzimmer getreten, wo sie den Kommissar vor ihrem Sekretär und mit der Prüfung der daran befindlichen Schlösser beschäftigt fand.
»Herr Kommissar«, begrüßte sie ihn, »meine Kammerfrau Nadascha Kurakin sagte mir soeben, Sie hätten Meine Dienerschaft im Verdacht, den Diebstahl begangen zu haben. Ich bin vom Gegenteil überzeugt. Die Ehrlichkeit und Treue meiner Leute ist erprobt und ich würde für jeden einzelnen die Hand ins Feuer legen. Für unsere Russen so gut wie für die anderen.«
Kommissar Jelbermayer, der aufgestanden war, als sie ihn angesprochen, verneigte sich.
»Ich bitte um Verzeihung, die Sache verhält sich etwas anders, als sie Durchlaucht berichtet wurde. Ich habe gegen niemand eine Beschuldigung ausgesprochen oder durchblicken lassen. Was ich sagte und noch sage ist: Der Diebstahl wurde entweder von einem Hausbewohner ausgeführt oder von einer Person, die hier aus- und eingeht und der das Schreibzimmer zugänglich ist.«
»Ich halte den Sekretär stets verschlossen, Herr Kommissar.«
»Einen Augenblick muß er aber doch offen gestanden haben, sonst hätte der Schmuck nicht daraus verschwinden können. Gewalt wurde ja nicht angewendet, das beweist der Zustand der Schlösser, wie der des Sekretärs selbst. Uebrigens glaube ich eine Spur gefunden, zu haben –«
»Ahl« rief Lisaweta überrascht und auch erfreut.
»Allerdings nicht in der Wohnung, überhaupt keine physische Spur, sondern in den Aussagen Ihres Kammerdieners Johann Bollinger –«
»Der Johann sollte den Dieb kenn –?« fragte die Fürstin mit weiten Augen.
»Daß er ihn kennt, habe ich nicht gesagt, Durchlaucht. – Einen Augenblick, wenn ich gehorsamst bitten darf.«
Dr. Jelbermayer wendete sich wieder dem Sekretär zu und blätterte in den mit den Dienern und Dienerinnen aufgenommenen Protokollen, die auf der Schreibplatte lagen. Endlich zog er eins heraus und ging es flüchtig durch.
»Da wär's ja!« sagte er, sich wieder der Fürstin zukehrend. Dann setzte er hinzu: »Dürfte ich Durchlaucht um kurzes Gehör bitten? Wir befinden uns zwar schon tief in der Nacht, es ist mir jedoch sehr wichtig, die Aussagen des Johann Bollinger baldigst durch Sie, meine gnädigste Fürstin, kommentiert zu wissen.«
»Ich bin bereit, Herr Kommissar«, antwortete sie, beschlichen von unangenehmen Empfindungen, die ein jählings über sie hereinbrechender Verdacht auslöste.
Daß er nicht schon früher, daß er nicht gleich bei der Entdeckung des Diebstahls erwacht war, erschien ihr jetzt unbegreiflich! Es konnte allein an den andren schlimmen Geschichten liegen, die sich rastlos durch ihren Kopf wälzten, ihren Blick für alles anders trübten.
Dr. Jelbermayer hatte diensteifrig einen Armstuhl für sie herbeigerollt und nahm seinen Platz vor dem Sekretär wieder ein, sobald sie sich gesetzt hatte.
Noch ein Blatt in das separat gelegte Protokoll und er begann: »Der Kammerdiener Johann Bollinger will am Tage vor Durchlauchts Reise, also am 5. März, etwa eine Stunde vor Ihrer Abfahrt zur Bahn, in diesem Zimmer einen Herrn Karamanoff gesehen haben und zwar allein. – Verhält sich das so?«
Lisaweta hatte diese Frage, hatte den Namen Karamanoff zu hören erwartet und dennoch trieben sie ihr eine jähe Hitze ins Gesicht.
»Ja. Herr Karamanoff war allerdings kurz vor meiner Abreise bei mir und in diesem Zimmer«, erwiderte sie nach einem kaum bemerkbaren Zögern, bemüht, ihrer Stimme eine gleichgültige Färbung zu geben.
Jelbermayer unterdrückte ein Lächeln.
»Dieser Umstand war Durchlaucht wohl entfallen, denn als ich am Abend die Ehre hatte, mich vorzustellen, hatten Sie die Gnade zu versichern: es wäre kein Mensch hereingekommen außer Ihrer Kammerfrau und Basil Wassinof!«
Lisaweta nickte.
»So ist es. Ich hatte den Besuch des Herrn Karamanoff. den ich übrigens schon lange kenne, noch in Petersburg kennen lernte, total vergessen und bin erst wieder darauf gekommen, als Herr Kommissar seinen Namen nannten«, entgegnete sie in leichter Verlegenheit.
Der Kommissar lächelte fein. Sein Auge glitt unmerklich prüfend über die Fürstin und er sah die Befangenheit, die sich ihrer bemächtigte.
»Halten Durchlaucht Herrn Karamanoff des Diebstahls fähig?«
Lisaweta stutzte einen Augenblick, dann sagte sie rasch mit gefaßter Stimme: »Nein. Herr Kommissar, ich bitte Herrn Karamanoff bei Ihren Nachforschungen auszuschließen.
Dr. Jelbermayer wiegte den Kopf bedenklich hin und her.
»Durchlaucht, da muß ich leider bedauern. Wir Kriminalisten können uns nicht mit der guten Meinung, die Sie über eine Persönlichkeit haben, zufrieden geben. Sie dürfen uns glauben. Durchlaucht, daß wir dazu durch die Erfahrungen der Zeit, die uns erst gewitzigen, veranlaßt werden.«
Die Fürstin schwieg.
Dr. Jelbermayer fiel im Augenblick nichts weiter ein und er empfahl sich daher der Fürstin mit dem Bemerken, daß er nochmals vorsprechen werde und die Fürstin die Güte haben wolle, falls ihr noch beachtenswerte Nebenumstände in Erinnerung kämen, diese ihm mitzuteilen.
Die Fürstin nickte flüchtig.
Als er das Zimmer verlassen hatte, war sie zu Ende mit ihren Kräften. Die Nerven versagten und ein Weinkrampf erschütterte sie.
Da trat die alte treue Nadascha ein und sah ihre schöne Herrin weinen.
»Mütterchen, Maria Lisaweta muß den Mut nicht sinken lassen, es wird besser, es wird bald besser, mein Traum von neulich hat es mir gesagt!« redete die Kammerfrau in erheuchelter Ueberzeugung zu.
So unerschütterlich sonst ihr Glaube an die Wahrheit der Träume war, angesichts all der neuen Widerwärtigkeiten, die über die Fürstin hereingebrochen sein mußten, bot er ihr keinen rechten Trost.
Lisaweta machte eine müde Handbewegung.
»Bisher ist nicht viel davon zu merken,« sagte sie; »es wird nur schlimmer und schlimmer!«
»Tut nichts. Es ist wie bei einem Gewitter. Tobt es erst, daß man meint, die Welt müsse jeden Augenblick untergehen, so bricht die Sonne im nächsten Moment durch das Gewölk, reißt es in Stücke und säubert im Nu den ganzen weiten Himmel, daß er wieder strahlt und lacht, als wäre nichts gewesen. – Ich will Mütterchen ankleiden, nebenher können wir über den Karamanoff reden.«
Was Nadascha während des Ankleidens zu hören bekam, war jedoch nicht der Art, daß ihre durch die eigenen Worte etwas erhellte Stimmung hätte standhalten können. Kummer, Empörung und Zorn gingen wechselweise über ihr von den lastenden Jahren mitgenommenes Gesicht, das in der Jugend niedlich anziehend gewesen sein mußte.
»Und Mütterchen Maria Lisaweta will auch dieses Opfer wieder bringen?« fragte sie fast vorwurfsvoll, als die Fürstin mit ihren Mitteilungen zu Ende war.
»Wollen, Nadascha –? Ich muß, du weißt es.«
Die Alte widersprach nicht, doch ihr Grimm blieb bestehen.
Unwillig den Kopf schüttelnd, sagte sie: »Herrin. Herzchen – dieser Mensch beutet deine Augen aus – beutet sie in einer ganz nichtswürdigen Weise aus! – Bedenke, wohin soll das führen? Auch ein Vermögen wie das der Orlowski erschöpft sich, wenn fortwährend in Kübeln davon geholt wird!«
»Ich weiß es Nadascha, und nach meiner Sorge wegen Alexander Alexandrowitsch ist diese meine größte! Schon jetzt bin ich um das Geld in Verlegenheit, kann es nicht mehr ohne weiteres beischaffen. Hier bei uns liegen noch etwa 10 000 bis 12 000 Kronen, und von der Bank kann ich vor Mitte April nichts holen, ohne Schulden zu machen.«
»Und diese Ueberschüsse, die wir sonst an jedem Vierteljahresschluß gehabt haben!« rief Nadascha, die Hände in Entsetzen zusammenschlagend.
Die Fürstin nickte wehmütig: »Sei still! Reden und Jammern hilft zu nichts!«
»Aber der Herr Graf Scheragin wird helfen, er ist der Mann dazu! Wehe dem Ungerechten, der in seine Hände kommt!«
»Ich werde ihm schreiben, werde es machen wie du gesagt, Basil und Dimitri mit dem Brief zu ihm schicken. – Vorläufig kann uns das aber nichts nützen, denn ich habe bis spätestens Donnerstag morgen zu bezahlen. Diesmal muß der Schmuck aushelfen –«
»Mütterchen will ihre prachtvollen Juwelen verkaufen, um den Erlös diesem Unhold in den Rachen zu werfen –?«
Sanft strich die feine Hand der Fürstin über die der Kammerfrau, als sie beruhigend sagte: »Nur verpfänden, Nadascha. Sowie die nächsten Quartalsgelder eingegangen sind, löse ich sie wieder ein. – Du mußt heute vormittag zu dem Juwelier Noack. Ich bin eine alte Kundin, habe ihm schon viel abgekauft, und er verdient durch Neufassungen und Reparaturen ein schönes Geld an mir. Vielleicht streckt er selbst mir den erforderlichen Betrag vor. wenn nicht, weiß er jedenfalls zu raten. Mach dich also bis 10 Uhr fertig und sage Dimitri. daß er bis dahin mit dem Kupee an der Tür sein muß.«
»Wird Mütterchen Maria Lisaweta ausfahren?« erkundigte sich die Alte, die wegen Verpfändung des Schmuckes keine Einwendungen mehr wagte.
»Der Wagen ist für dich. Du nimmst die ausgewählten Stücke mit zu Noack und fragst, ob sie als Pfand genügen.«
»Wie Mütterchen befiehlt.« –
Es war noch lange bis neun Uhr, als die Fürstin, von ihrer Kammerfrau begleitet, das Kabinett mit dem stahlgepanzerten Kassenschrank betrat, um unter ihrem Schmuck die Pfandobjekte zu wählen.
Nadascha, die daneben stand, liefen die Tränen über die verrunzelten Backen.
»Daß ich das erleben muß!« jammerte sie.
»Sei nicht kindisch, liebe Alte, es ist das Schlimmste noch lange nicht. Wir haben Schlimmeres erlebt!«
»Gott sei's geklagt! Und doch bricht's mir das Herz – unsere prächtigen Juwelen waren alleweil mein Stolz und meine Freude!«
»Unsinn!«
»Ich kann mir nicht helfen, Mütterchen Maria Lisaweta, es ist so. Ich war noch ein blutjunges Ding, da haben mir die wundervollen Steine schon ins Herz hineingelacht, wenn in Anilonkowa Feste gefeiert wurden und unsere Fürstin Maria Maximilianowna sich geschmückt hat mit den alten Familienstücken –«
»Die Erbstücke rühre ich nicht an. Nadascha, ich verpfände nur, was mein persönliches Eigentum ist. – Es wird wohl genügende Deckung sein. Zudem holen wir doch alles wieder.«
»Wenn wir können, Herrin – wenn wir können, sonst nicht! Wer weiß, ob der Spitzbub von einem Karamanoff genug übrig läßt. Jahraus, jahrein steht er mit gefräßig aufgesperrtem Rachen vor dir, und was du auch hineinwirfst, er wird nicht satt! Kein Jahr noch ist vergangen, ohne daß die Summe, deren Zahlung du übernommen hast, um vieles überschritten wurde. – Ist ja auch nicht anders zu erwarten – was kümmert sich ein so schlechter Mensch um einen Vertrag! Er weiß, daß du ihn nicht verklagen kannst, Herrin, oder doch, daß du nicht den Mut dazu hast, und so saugt er sich an dir fest wie ein Vampyr! – Mütterchen Maria Lisaweta sollte den Brief an den Herrn Grafen Scheragin nicht aufschieben. Er ist der einzige, der uns retten kann, und er wird alles aufbieten für uns!«
»Du weißt doch, daß ich nur die Antwort auf meine heutige Anfrage abwarte. Vergiß nicht, den Brief auf die Post zu besorgen.«
»Ist schon geschehen. Der Basil hat ihn fortgetragen, es war noch nicht sechs Uhr.«
Nadascha wollte sich zurückziehen zur Verrichtung ihres Morgendienstes, wurde aber von der Fürstin zurückgehalten.
»Es kann sein, daß die Polizeimenschen dich über Herrn Karamanoff ausfragen, meine Alte«, sagte sie, »ich aber wünsche, daß du nicht mehr weißt, als daß er zuweilen häufig ins Haus kommt, zuweilen erst nach langen Pausen. Ob er am Tage meiner Abreise im Schreibzimmer war, ist dir unbekannt. Ich bitte dich auch, keinerlei Vermutungen zu äußern.«
»Das heißt, Mütterchen Maria Lisaweta, ich soll nicht sagen und auch nicht durchleuchten lassen, daß er der Dieb des Saphirschmuckes ist«, flüsterte Nadascha, finster grollend.
»Still, Alte! Wir wissen nichts –«
Die Kammerfrau setzte den Respekt so weit außer Acht, daß sie ihre Dame heftig unterbrach: »Nein, wissen tun wir nichts, aber an den Fingern können wir's uns abzählen!«
»Ganz gleich, Nadascha. Selbst wenn wir's mit unseren eigenen Augen gesehen hätten, müßten wir schweigen. Vergiß nicht, wie es mit dem Fürsten steht!«
Heute versagte diese sonst so wirksame Erinnerung gänzlich.
»Mütterchen Maria Lisaweta ist zu ängstlich«, sagte sie mürrisch. »Solche Menschen wie der Karamanoff und die Spitzbuben, die hinter ihm stehen, sind nicht gefährlich –«
»Wie kannst Du das sagen?«
»Goldseelchen, Täubchen, die sind ja froh und glücklich, wenn ihnen ihre Rache abgekauft wird! Was haben sie von ihr? – Was haben sie davon, wenn Väterchen Alexander Alexandrowitsch ins Elend kommt, in Not und Verderben? Was haben sie von seinem Tode? – Nichts, gar nichts, keine Kopeke. Sie aber wollen Geld, nichts als Geld, so viel als nur möglich ist –«
»Siehst du, du sagst es selbst – soviel als möglich!«
»Jawohl, so viel als möglich! – Wenn aber viel nicht zu haben ist, nehmen sie auch wenig, denn es ist immer noch viel mehr als gar nichts! Gib die Hälfte, gib nur ein Viertel von dem, was du dir abringen läßt, Karamanoff und die anderen sind auch damit zufrieden. Gefährlich werden sie erst, wenn gar nichts mehr zu haben ist. Dann mag's ja sein, daß sie ihrer angeborenen Bosheit und Schlechtigkeit freien Lauf lassen. – Mütterchen Maria Lisaweta, sag doch nur einmal ein entschiedenes Nein, laß dich nicht auspressen wie eine Zitrone!« beschwor die Kammerfrau, deren revoltierte Empfindungen ihr Gesicht dunkelrot färbten.
Sie war so aufgeregt und aufgebracht, daß die Fürstin dachte: »Was würde sie erst sagen, wüßte sie Michael Lenowostowois Tat!«
Uebrigens war es bei weitem nicht das erstemal, daß die alte Frau sich laut zu dieser Ansicht bekannte, und gab Lisaweta es auch nicht zu, im stillen dachte sie so ziemlich dasselbe. Ihr gebrach es nur an Mut, nach ihrer innersten Ueberzeugunq zu handeln, obgleich, ging es weiter wie bisher, der Tag kommen mußte, an dem sie dazu gezwungen sein würde.
Karamanoffs Ansprüche an ihre Tasche steigerten sich von Jahr zu Jahr, hatten eine Höhe erreicht, der ihre Kräfte nicht gewachsen waren. In diesem Vierteljahr reichten die laufenden Einnahmen wieder nicht zu ihrer Befriedigung und die Kapitalien, über die sie hatte frei verfügen können, waren ihm bereits zum Opfer gefallen. Jetzt kam schon der Schmuck daran! – War auch er aufgebraucht – was dann –? Alexander –!
»Will Mütterchen Maria Lisaweta nicht einmal kategorisch auftreten gegen diesen schändlichen Blutsauger?« unterbrach Nadaschas schmeichelnde Stimme die Gedankengänge der Fürstin.
Sie schüttelte den Kopf.
»Wenn nicht so unendlich viel auf dem Spiel stände! Wo es sich um das Glück, um die Existenz zweier Menschen, wo es sich um Sein oder Nichtsein handelt, sind alle Experimente eine Gewissenlosigkeit! Zöge ein derartiger Versuch schlimme Folgen nach sich, ich müßte alle Schuld mir beimessen und hätte bis ans Grab keine ruhige Stunde mehr. – Und wozu auch jetzt einen so gewagten Schritt unternehmen, wo ich doch entschlossen bin, Nikolaus Nikolajewitschs Rat und Beistand ohne Aufschub nachzusuchen! Das wäre ja sehr unzweckmäßig!«
Vor diesem Argument verstummte Nadaschas Drängen.
Die Ankunft des Polizeikommissars Jelbermayer, der in Begleitung zweier Agenten und eines Schlossers gekommen war, beendete die Verhandlungen der beiden Frauen. Er ließ anfragen, ob er die Ehre haben könnte, von der Fürstin empfangen zu werden.
Wie angegriffen sie sich fühlte, sie willigte doch ein empfangen zu werden.
»Wegen Karamanoff weißt du also Bescheid, sollte der Kommissar Fragen an dich richten,« flüsterte sie der Kammerfrau noch eilig zu, ehe diese sich zurückzog.
Diese nickte und ging hinaus. –
Der Besuch des Kriminalisten dauerte nur kurz und hatte keinen anderen Zweck, als sich zu erkundigen ob der Fürstin nicht nachträglich noch ein Verdacht gekommen sei.
»Nein, Herr Kommissar, leider nicht.« war die Antwort.
»Und Euer Durchlaucht ist auch kein beachtenswerter Nebenumstand in Erinnerung gekommen?«
»Ebensowenig.«
Lisaweta verbrachte den Tag einsam, in körperlichem und seelischem Unbehagen. Die einzige, die Zutritt zu ihr hatte, war die Kammerfrau, die kurz nach zwölf von ihrem Gange zum Juwelier zurückkam und die Nachricht brachte, dass die Darlehnsangelegenheit in Ordnung sei, daß Herr Noak alles Erforderliche besorgen und im Laufe des anderen Vormittags das Geld und die Verpfändungsurkunde persönlich bringen würde.
»Gott sei Dank! Und auch dir Dank, meine treue Nadascha, für die gute Besorgung!« sagte die Fürstin, froh, wenigstens aus dieser Sorge erlöst zu sein.
»Eines muß mir Mütterchen Maria Lisaweta aber doch versprechen –«
»Und das wäre?«
»Daß sie dem Karamanoff bei der Uebergabe des Geldes erklärt, es sei für lange Zeit das letzte! – Blutige Tränen könnt ich weinen bei dem Gedanken an die neue Beute, die ihm in den Rachen geworfen wird!«
»Sagen will ich es ihm schon – ob er sich aber daran kehrt –?«
Gegen zwei Uhr kam der Kommissar Dr. Jelbermayer nochmals, um der Fürstin über das Ergebnis seiner Untersuchung Bericht zu erstatten und sich gleichzeitig von ihr zu verabschieden.
Seine Erwartungen hatten sich in allen Punkten erfüllt. Die Durchsuchung des zweiten Stockes hatte sowenig ein Ergebnis zutage gefördert wie die des ersten, und der Schlosser hatte bestätigt, was er selbst schon gesehen. Jetzt stand es zweifellos fest, daß Halsband und Diadem aus dem offenstehenden Sekretär entwendet worden waren.
»Uebrigens dürfen Durchlaucht unbesorgt sein, alle zur Wiedererlangung der beiden Wettstücke möglichen Maßnahmen sind bereits getroffen und ich hoffe zuversichtlich, daß es uns gelingen wird. Sie in deren Wiederbesitz zu setzen, wenn auch voraussichtlich eine längere Zeit darüber vergehen dürfte. Wer solche Werte stiehlt, tut's nicht, um sie in einen Schrank zu legen, der will früher oder später Bargeld sehen.«
Lisaweta hätte am liebsten gesagt: »Bitte bemühen Sie sich nicht weiter, wir wollen die Sache beruhen lassen.« Das ging aber nicht an, das würde sie in ein zu sonderbares Licht gesetzt haben und sie wäre dem Kommissar, der ihr ohnehin nicht recht traute, vielleicht noch verdächtig geworden. So dankte sie ihm mit liebenswürdigen Worten für seinen Eifer und seine Bemühungen.
Dann wurde es wieder still um sie. Die Flurglocke erklang im Laufe des Nachmittags mehr als einmal, bis in der Fürstin Wohnzimmer kam aber niemand, denn sie hatte strenge Weisung gegeben, jeden Besuch, wer es auch wäre, abzuweisen. Ihr Ruhebedürfnis war heute übermächtig und die Kopfschmerzen, dir schon tags zuvor eingesetzt, würden immer ärger.
Nur Nadascha kam und ging zuweilen, um nachzusehen, wie es ihrer Dame ging und ob sie etwas bedürfte. Fragen an sie zu richten oder nur eine Bemerkung zu machen, wagte sie nicht, soviel sie sich sonst herausnahm. Heute lag in Lisawetas düsterem Blick ein Besonderes, das zur Vorsicht mahnte.
Mit bleierner Schwerfälligkeit krochen die Stunden über die Fürstin hin, ohne eine Besserung in ihrem Befinden herbeizuführen, bis die das Zimmer mehr und mehr füllenden Schatten der Dämmerung sie einschläferten und sie in einen tiefen Schlummer fiel.
Plötzlich ließ Antons Stimme sie schreckhaft in die Höhe fahren.
»Ich bitte vielmals um Verzeihung, Durchlaucht – der Herr Graf Hartens bittet dringend um einige Augenblicke Gehör –«
Lisaweta ging es wie ein Stich durch die Brust. Sie wußte, was Hartens ihr mitzuteilen hatte und es war eine Qual, es anhören zu müssen.
»Drehen Sie die Lampen an, Anton, und führen Sie den Grafen herein«, ordnete sie nach kurzem Besinnen an.
Die Lichtfluten, die den mit zartblauen Schleiern überhangenen Lampen entquollen, ergossen sich bis in die fernsten Winkel des großen Raumes, und der Uebergang aus dem Dunkel in das strömende Lichtmeer war so schroff, daß Lisaweta die Hand vor die geblendeten Augen hielt.
Hartens sah sehr erregt aus, seine Bewegungen hatten etwas Hastiges, Nervöses, das ihm sonst fremd war.
Die Fürstin sah es und auf ihre Brust legte sich ein schwerer Druck. Der Verlust des Aktensackes schien ihn hart getroffen zu haben. Unfähig, ein Wort der Begrüßung über die Lippen zu zwingen, streckte sie ihm nur die Hand entgegen, die er küßte.
»Verzeihung, meine teuerste Fürstin, daß ich mich trotz Ihres Unwohlseins zu Ihnen dränge. Ich glaubte aber, daß es besser wäre, Sie durch die erwähnte Mitteilung, die ich nur persönlich machen kann, vor einem Ueberraschtwerden zu bewahren, das Ihnen unter Umständen peinlich sein könnte«, sagte er, sich auf einen Stuhl jenseits des Chaiselonguetischchens setzend.
In Lisaweta war jetzt jeder Nerv in hüpfender Bewegung.
»Ist Ihnen etwas – Unangenehmes begegnet –?«
Hals und Lippen waren ihr so trocken wie Stroh.
Hartens sah niedergeschlagen aus, als er mit stark gedämpfter Stimme erwiderte: »Fürstin erinnern sich wohl noch, daß ich in einer besonderen Mission in Berlin war?«
Es war wie ein Hauch.
»In einer auch so wichtigen, daß man Anstand nahm, die Note der Post zu vertrauen. Die Antwort wurde mir von unserem Botschafter persönlich übergeben. Sie befand sich in einem verschlossenen Aktenkuvert. Ich verwahre es in der Innenseite meines Pelzes. Gestern abend nun, als ich von Seiner Exzellenz dem Premier zur Berichterstattung empfangen wurde und er das Kuvert erbrach, fanden sich darin drei unbeschriebene Bogen Papier! – Es ist unterwegs vertauscht worden.«
Während dieser Erzählung hatten sich Lisawetas Augen unheimlich geweitet, hatte eine fahle Blässe ihr Gesicht bezogen.
»Das – das ist ja entsetzlich! – Und es kann wohl sehr unangenehme Folgen für Sie haben?« stotterte sie mit entstellter, fremdklingender Stimme.
Der Legationssekretär war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um ein guter Beobachter zu sein, er bemerkte nicht viel von der mit der Fürstin vorgegangenen Veränderung.
»Es ist allerdings eine sehr ernste Sache«, nickte er, »besonders, wenn es nicht gelingt, der Schriften habhaft zu werden, ehe ihr Inhalt bekannt wird, und diese Aussicht ist nicht eben groß. Natürlich ist die Polizei bereits in voller Tätigkeit und wird alle Hebel in Bewegung setzen. Wie die Dinge liegen, wird man es jedoch schon als einen bedeutsamen Erfolg zu bezeichnen haben, wenn sie den Dieb nur ermittelt und dingfest macht. Nach meiner und auch nach des Herrn Polizeirat Meidlers Ueberzeugung kann es zwar kein anderer sein, als der Herr mit dem schwarzen Vollbarte, der in unser Abteil kam, doch gibt es zahllose Herren mit schwarzen Vollbärten und es wird schwer halten, den richtigen aufzuspüren.«
»Das glaube ich auch«, versetzte Lisaweta tonlos. »Nimmt man an, daß mit diesem Diebstahl politische Zwecke verfolgt werden?«
»Ich halte es für fraglos. Der Mann war, das ist meine und auch Polizeirat Meidlers feste Ueberzeugung, ein vorzüglich informierter Spion, der für russische Rechnung arbeiten dürfte. Rußland widmet uns seit Jahren schon die lebhafteste Teilnahme, was daraus hervorgeht, daß man in St. Petersburg unbegreiflich gut unterrichtet ist über das, was bei uns vorgeht. Die Herren Spione haben jedenfalls in unserem eigenen Lager einen oder mehrere Helfer, die sie ausgezeichnet bedienen. Der Herr mit dem Vollbart war jedenfalls ein Mitglied dieser edeln Zunft und dürfte mir von hier nach Berlin gefolgt sein –«
»Das ist sehr wahrscheinlich. Der Mann mißfiel mir auf den ersten Blick, woraus ich auch kein Hehl machte«, unterbrach ihn Lisaweta.
»Die Ereignisse haben Ihnen recht gegeben, Fürstin. Ich bedauere, daß ich Ihre Warnungen nicht mehr beachtet habe. Der Ihnen gleich so verdächtige Kartenbrief ohne Unterschrift war sicherlich auch nichts anderes, als eine Masche in dem Netz, mit denen mich der Dieb umspann. Meidler vermutet, daß ihm die freundschaftlichen Beziehungen bekannt waren, in denen ich das Glück habe zu Ihnen zu stehen, meine gnädigste Fürstin, und daß er den bewußten Brief in der Hoffnung schreiben ließ, durch ihn unser Zusammentreffen und eine gemeinschaftliche Heimreise herbeizuführen. Er kann durch den Hotelportier erfahren haben, daß Sie den Taschnerladen in Unter den Linden am andern Nachmittag zu besuchen gedachten.«
»Das ist wohl möglich, denn ich beauftragte ihn, vor der Table d'hote mir für zwei dreiviertel Uhr einen Wagen zu besorgen und dem Kutscher gleich den empfohlenen Taschnerladen genau zu bezeichnen«, erwiderte Lisaweta.
Dabei stöhnte aber ihre in die brennendsten Gluten tiefster Scham gestürzte Seele: »Allmächtiger, erbarme dich – ich trag's nicht länger!«
Kapitelbezeichnung im Buch fehlerhaft, Nr. 5 fehlt. Re