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Maria Lisaweta, die seit zehn Jahren mit dem Fürsten Alexander Alexandrowitsch Orlowski in kinderloser Ehe lebte, bewohnte in einem eleganten Hause des Parkrings eine Wohnung von achtzehn Zimmern, von denen fast mehr als die Hälfte unbenützt stand, denn während ihres etwa fünfjährigen ständigen Aufenthalts in ihrer Vaterstadt Wien hatte der Fürst nur die ersten sechs Monate dort zugebracht. Seither lebte er auf Reisen, die in Zwischenpausen durch einen längeren Aufenthalt in Paris oder in einem Luxusbad unterbrochen wurden.
Das getrennte Leben des Fürstenpaares und mancherlei Bemerkungen, die Lisaweta gelegentlich gemacht, hatten in ihren Kreisen allerlei Vermutungen und Gerüchte ausgelöst, die teils der Fürstin, teils ihrem Manne die Schuld an der Ehestörung zuschoben. Daß es sich aber um eine regelrechte, dauernde Trennung handelte, davon waren alle überzeugt, und Lisawetas gelegentliche kurze Besuche bei dem Fürsten und seine bei ihr änderten nichts daran. Ebensowenig das herzliche Einvernehmen, wenn sie einmal für Tage beisammen waren, noch der tägliche Briefaustausch, von dem die Rede ging.
»Komödie!« hieß es. »Die Wahrheit soll nicht an die Öffentlichkeit kommen, schon aus Rücksicht für die Familie, darum sehen sie auch von der offiziellen Scheidung ab.« Hier und da erhob sich zwar eine Stimme gegen diese Behauptungen, hörte man ein: »Es scheint eher etwas Besonderes dahinter zu stecken!« Großen Eindruck machte es jedoch nicht.
Und daß er nicht aufkommen konnte, lag auch an Fürstin Lisaweta selbst. Sie trug ihre andauernde Strohwitwenschaft mit der heitersten Anmut, schwamm munter in dem vornehmen Gesellschaftstreiben und erklärte sich bei jeder Gelegenheit durchaus einverstanden mit ihres Mannes Reiseleben.
»Wenn Alexander Alexandrowitsch Freude daran hat, wie eine Kugel durch die Welt zu rollen, warum soll ich sie ihm rauben? Ist man einmal so lange verheiratet, so haben alle Illusionen und Ueberraschungen ein Ende. Das ist sehr eintönig. Sieht man sich aber nur selten, so gewährt das Beisammensein dennoch immer wieder eine ehrliche Freude«, pflegte sie zu sagen. –
Es ging auf halb drei nachmittags, und Nadascha, die schon bejahrte russische Kammerfrau der Fürstin, stand an einem Eckfenster des ersten Stockes. Sie schaute nach der fürstlichen Equipage aus, die Lisaweta vom Bahnhofe heimbringen sollte. Die Frau sah abgespannt und kummervoll aus, und während der letzten Viertelstunde hatte sie die Hand wiederholt über die von tief eingegrabenen Krähenfüßen umrandeten Augen geführt.
In dem Wagengewirr, das sich zu dieser Stunde über die Ringstraße bewegte, tauchte jetzt in der Richtung von der Aspernbrücke die milchkaffeefarbige Livree der Orlowskischen Dienerschaft auf. Maria Lisaweta kehrte von ihrer Berlinfahrt zurück.
In die fahlen, welken Wangen der Kammerfrau schoß ein trübes Rot und sich fromm bekreuzend murmelte sie einen andächtigen Dank, der sich an Gott und seine lieben Heiligen richtete, die »Mütterchen« so treulich geführt und behütet hatten.
Ob das »süße Goldkind« wohl gute Nachrichten brachte, ob Nikolaus Nikolajewitsch einen Rat wußte? – Er war ein so kluger Herr und obendrein ein kaiserlicher Staatsrat, obgleich er noch jung war noch keine vierzig, und ein solcher Mann mußte doch Mittel und Wege kennen, um seinen nächsten Verwandten aus diesen unerträglichen Verhältnissen herauszuhelfen! – Wollte doch der liebe Gott, daß sich endlich einmal wenigstens ein Hoffnungsschimmer zeigte, daß die guten, alten Zeiten wiederkehrten!
Als die Orlowskische Equipage vor dem Hause stillstand, eilte Nadascha in das mit alten Eichenmöbeln ausgestattete Vorzimmer und rief durch die nur angelehnte Tür der Office: »Basil, Mütterchen Maria Lisaweta kommt!«
Ein hagerer, grauköpfiger Mann in altrussischer Tracht trat heraus, zog den Gürtel der weiten Faltenbluse von flaschengrünem Tuchfutter, glättete seinen langen Vollbart und schlug die Flurtür weit zurück.
Er, der Kutscher Dimitri und Nadascha waren mit dem Fürstenpaar aus Rußland gekommen und waren Nachkommen ehemaliger Leibeigener der Familie Orlowski. Sie hingen mit Leib und Seele an ihrer Herrschaft, an Maria Lisaweta nicht weniger als an ihrem Gatten, auf dessen Gütern sie geboren waren.
Als die Fürstin schon von der Treppe aus die treuen Alten erblickte, trat ein freundliches Lächeln in ihr müdes Gesicht. Sie reichte jedem die Hand, wehrte Basil ab, der sie demütig küssen wollte, und fragte nach einem frommen Gruß: »Alles in Ordnung?«
»Mütterchen, Maria Lisaweta wird nichts zu tadeln finden«, antwortete der Graukopf.
Dann wich er zur Seite, um ihr freien Durchgang zu schaffen, und folgte mit ihrer Reisetasche, die er dem Bedienten unten abgenommen hatte.
»Und auch nichts besonderes vorgefallen, Nadascha?« fuhr die Fürstin fort, als sie mit der Kammerfrau das Vorzimmer durchschritt.
»Nein. Durchlaucht. Ein paar Herrschaften wollten Besuch machen, die Karten liegen drinnen, und heute Mittag war Herr Tschatschitsch da. Er hat sehr bedauert, Durchlaucht nicht angetroffen zu haben.«
In Gegenwart der österreichischen Diener ließ Nadascha die Durchlaucht an die Stelle des patriarchalischen »Mütterchens« treten. Es war wegen des Respektes.
»So, der Tschatschitsch! – Hat er eine Bestellung hinterlassen?« erkundigte sich Lisaweta, die Brauen dicht zusammengezogen.
»Durchlaucht möchten die Gnade haben, womöglich noch diesen Abend nach Herrn Karamanoff zu sehen. Er wäre sehr leidend.«
Der Fürstin Lippen legten sich fest aufeinander.
»Sonst nichts?« fragte sie kurz.
»Nein, Durchlaucht.«
Ein ängstlich forschender Blick, streifte Lisawetas Gesicht.
Die Russin kannte sie zu genau, um nicht zu wissen, daß eine erdrückend schwere Stimmung auf Lisaweta lag. Sie mußte in Berlin etwas Schlimmes erlebt haben. –
Die beiden Frauen traten ins Ankleidezimmer, einen luxuriösen Raum in Weiß und Hellblau. Er gleißte und glänzte von Spiegelglas und Kristall.
Die Fürstin streifte die Reisekleider ab, tauchte! Gesicht, Hals und Arme in frisches Wasser und setzte sich dann in den halbhohen Korbstuhl vor dem Ankleidetisch von grünlichem Marmor.
Während dieser ganzen Zeit hatte sie nur das Notwendigste gesprochen, jetzt verstummte sie ganz. Ein böses Zeichen, denn die Toilettenstunden waren die der Mitteilungen. Und daß sie nicht von der Reise erzählte, nicht von Nikolaus Nikolajewitsch Scheragin, den sie dort getroffen hatte, das war noch weit unheimlicher.
Eine Frage aber wagte Nadascha nicht. Erst als sie die beiden blonden Flechten aufgelöst hatte, versuchte sie die Fürstin zum Sprechen zu bringen durch die Bemerkung: es wären viele Postsachen eingelaufen.
Lisaweta fuhr wie aus einem Traume auf.
»O, die Post! – Ich habe noch gar nicht daran gedacht. – Bring sie.«
Es war ein großer Packen, den die Russin herbeibrachte und vor sie hinlegte, Briefe, Karten, Drucksachen und Zeitungen.
Lisaweta hatte nur für die Briefe einen Blick und auch für sie nur einen flüchtigen. Die Ausgabestempel und die Handschriften sah sie an, dann wurden sie alle unerbrochen weggelegt bis auf zwei, die des Fürsten Schriftzüge trugen. Jeder enthielt mehrere Bogen, die sie Wort für Wort las.
Dabei erhellten sich ihre Züge eher, als daß sie sich noch mehr verfinstert hätten, wie es zuweilen der Fall zu sein pflegte, und Nadascha stellte diese erfreuliche Wirkung mit Vergnügen fest.
Als die Fürstin die engbeschriebenen Briefbogen wieder in die zugehörigen Umschläge schob, fragte die alte Frau bescheiden: »Mütterchen, ist Alexander Alexandrowitschs Befinden gut?«
»Er ist gesund, und sie haben ihn nicht wieder behelligt. Aber er ist sehr ungeduldig, hat dieses Leben satt. Nächste Woche möchte, er für ein paar Tage hierher kommen –«
»Gott segne ihn dafür – für alle seine guten Gedanken!«
»Keine verfrühte Freude. Nadascha, Karamanoff hat sein Wort noch nicht gesprochen, und ich bezweifle, daß ihm des Fürsten Wunsch genehm sein wird. So kann der Besuch leicht zu Wasser werden.«
»Die lieben Heiligen wollen es gnädig verhüten! – Ach, Mütterchen Maria Lisaweta, wenn ich an die schönen Zeiten in Petersburg denke oder gar an die noch schöneren in Anilonkowo! Da war Väterchen immer daheim bei uns, da war alles ein Glück und eine Seligkeit, eine Liebe und ein Friede, gerade wie bei den Patriarchen der Bibel! – Und jetzt – jetzt! Großer allmächtiger Gott, daß sich die Zeiten so ändern können!«
Zwei schwere Tränen kollerten über die gefurchten Backen der Alten.
Dis Fürstin sah es nicht und wußte es dennoch!
»Laß gut sein, Nadascha, einmal werden sie sich ja doch wieder ändern, hoffe ich. Es kann nicht bleiben wie es ist. Solche Zustände, einen solchen Druck ertrüge niemand für immer, und auch sonst ginge es nicht, wenngleich die Zeit auch uns wandelt und Kräfte in uns reift, deren Vorhandensein wir nicht ahnten«, erwiderte Lisaweta gütig.
Dadurch ermutigt, fragte die Kammerfrau: »Hat Mütterchen Maria Lisaweta mit dem Herrn Grafen Scheragin gesprochen?«
»Ich habe ihn gar nicht gesehen. Bei der Ankunft lag im Hotel ein Depesche für mich, in der er sein Eintreffen auf den Freitag Abend verschob und mich zu warten bat. vorgestern kam statt seiner eine zweite Depesche, in der er sich durch ein Unwohlsein seiner kleinen Anastasia bis auf weiteres überhaupt an der Reise verhindert erklärte.«
»O!« und die Frau wiegte bedenklich den Kopf.
»Es ist sehr unangenehm, ja. Der Entschluß, Nikolaus Nikolajewitsch ins Vertrauen zu ziehen, ist mir so schwer geworden und hat mir, einmal gefaßt, doch so wohl getan«, erwiderte die Fürstin trübe.
Eine Pause trat ein, dann fragte die Alte, ob sie ihre Gedanken aussprechen dürfte.
»Aber natürlich. Wer trägt denn allen meinen Kummer, alle meine Sorgen und Lasten so treu und ehrlich mit mir wie du und Basil!« antwortete die Fürstin wehmutsschwer.
Die Anerkennung in diesen Worten rührte Nadascha so tief, daß sie erst ein paarmal schlucken mußte, ehe sie wieder zu sprechen vermochte.
»Das ist nur unsere Pflicht, Mütterchen Maria Lisaweta. – Aber, was ich sagen wollte – es sieht dem Herrn Grafen nicht ähnlich, nicht zu kommen, denn er weiß, daß eine Dame seinetwegen Hals über Kopf von Wien nach Berlin gefahren ist –«
»Wegen seiner Kleinen.«
»Ich habe es wohl gehört, aber ich glaube es nicht. Ist die kleine Komtesse krank, daß er nicht lange fort sein darf von daheim, so hätte er Mütterchen Maria Lisaweta gebeten, bis an die Grenze zu fahren oder auf sein Gut zu kommen, oder er hätte sonst einen Vorschlag gemacht – abtelegraphiert hätte er nicht.«
»Aufgefallen ist es auch mir«, gab die Fürstin zu.
»Es steckt etwas dahinter!«
»Das weiß ich nicht, Mütterchen Maria Lisaweta, aber es steckt was dahinter!« beharrte die Kammerfrau mit starker Betonung.
»Ich kann mir nur nicht verstellen, was –«
Es war eher eine Frage als eine Versicherung.
»Vielleicht hat der Herr Graf die Depesche gar nicht geschickt.«
Die Fürstin drehte den Kopf so heftig nach hinten, daß die langen Haarsträhnen den Fingern der Alten entglitten.
»Du vermutest Karamanoffs Hand im Spiel, Nadascha –?«
Sie war noch bleicher geworden. Die Nasenflügel spielten nervös. Im Auge lag Spannung.
Die Kammerfrau nickte.
»So ist's, so ist's. Einem Schurken wie ihm ist alles zuzutrauen!« antwortete sie, und der in ihr kochende Grimm gab ihrer Stimme einen passenden Beiklang.
Es trat ein Schweigen ein.
Die Fürstin, die sich noch nicht wieder gesetzt, sah durchs Fenster hinaus starr, offenbar von widerstreitenden Empfindungen erfüllt.
Nach einer Weile kehrte ihr Blick wieder zu Nadascha zurück.
»Aber die erste Depesche, in der mich Scheragin nach Berlin rief?«
Sie war so aufgeregt, daß sie ruckweise sprach, daß ihre Augen glühten wie im Fieber.
»War die zweite und die dritte nicht vom Herrn Grafen, so wird es die erste wohl auch nicht gewesen sein«, sagte sie.
Durch Lisaweta ging ein Erbeben.
»Also nach Berlin gelockt! –« flüsterte sie und schaute steif vor sich hin.
Die Alte stellte gepreßten Herzens fest, daß ihre Dame so elend, so mitgenommen aussah wie noch nie.
Was mochte nur vorgefallen sein in Berlin? – Eine unbestimmte Angst machte ihr Herz stärker klopfen.
»Will Mütterchen nicht brieflich anfragen bei dem Grafen Nikolaus Nikolajewitsch? – He eher, je besser – heute noch! – Und ich täte ihm auch die andere Angelegenheit vortragen –
»Das ist zu gefährlich. Ein Brief kann verloren gehen, er kann in die unrichtigen Hände kommen, alles mögliche kann geschehen.«
»Ein rekommandierter Brief –«
»Ist auch nicht unbedingt sicher. Darum lieber nicht schreiben.«
Wieder trat eine Pause ein.
Nadascha bürstete und kämmte wechselweise die leidige, blonde Haarflut, auf die sie stolzer war als ihre Trägerin selbst. Aber sie tat es nicht mit der gewohnten peinlichen Aufmerksamkeit. Ihre Bewegungen waren mechanisch, als wären ihre Gedanken nicht bei der Verrichtung der Hände.
Nach einigen Augenblicken begann sie von neuem: »Und doch meine ich. Mütterchen Maria Lisaweta, es soll – es muß etwas geschehen. Jeder Tag macht's schlimmer. Immer wieder müssen neue Opfer gebracht werden. Dein junges Leben vergeht in Kummer, in Einsamkeit, in Jammer und Angst. Und so wird's weitergehen, bis das Verderben voll ist. – Der schlechte Mensch, den Gottes Geißel treffen möge, hat's doch schon gesagt, daß er und die anderen dich festhalten, solange sie dich und dein Geld brauchen, und das heißt soviel als für alle Zeit!«
Um Lisawetas Mund ging ein schmerzliches Zucken.
»Hätte ich Nikolaus Nikolajewitsch sprechen können – aber schreiben –?«
»Wenn Mütterchen Maria Lisaweta den Grafen rief?«
»Karamanoff steht im Wege. Er willigt kein zweites Mal in eine Zusammenkunft mit ihm, das hat er mir schon neulich rund erklärt!«
»Der Spitzbub, der durchtriebene Hund – er hat wohl gewußt, daß Mütterchen umsonst die weite Fahrt macht! – Und Gott weiß, welche neue Schlechtigkeit dahintersteckt! Ohne Grund haben sie diese Komödie nicht ausgeführt, er und seine Helfershelfer. – Nein, Mütterchen Maria Lisaweta, es geht nicht so weiter. Du gehst dabei zugrunde, und Väterchen Alexander Alexandrowitsch ist totunglücklich! – Wenn du Doktor Gredlers Hilfe in Anspruch nähmst, wie du es schon gewollt hast?«
Die Fürstin schüttelte mutlos den Kopf.
»Was kann er tun? – Die Polizei anrufen? – Vielleicht mir Ruhe schaffen vor den Ansprüchen Karamanoffs? – Vielleicht. Doch ihn und seine Genossen Alexander Alexandrowitsch fernhalten, ihn von ihrer Niedertracht schützen, dazu reicht Gredlers Macht nicht«, sagte sie.
»Aber die des Grafen Nikolaus Nikolajewitsch, Mütterchen! Er wird deine und Väterchens Feinde vernichten, er wird dir und ihm die schöne Vergangenheit zurückbringen!« versetzte Nadascha überzeugt.
»Vielleicht – vielleicht auch nicht.«
»Doch, doch, Mütterchen, er kann's und er tut's! In aller Stille spürt er ihnen nach, ihm stehen ja alle Mittel zu Gebote, und er hebt die Hand nicht auf zum Schlage, ehe er sicher ist, daß keiner ihm entrinnt. Wenn er es in die Hand nimmt, ahnt keiner der Schurken eher die Gefahr, als bis ihm die Schlinge den Hals so fest zuschnürt, daß er keinen Laut mehr geben kann. – Wenn Mütterchen den Basil und den Dimitri zusammen mit einem Brief schickt, ist es ganz sicher. – Und ich glaube auch nicht, daß der Karamanoff und seine Spießgesellen so gefährlich werden können, wie er dich glauben macht. Er tut nur so, damit du tust, was er will.«
»Zu einem Morde findet sich immer eine Gelegenheit, meine Alte!«
»Ja schon, aber er kostet den eigenen Kopf!«
»Was macht das solchen Fanatikern aus?«
»Auch sie leben gern, Mütterchen Maria Lisaweta! – Und wie gesagt, Graf Nikolaus Nikolajewitsch wird alles so einrichten, daß es gefahrlos verläuft. – Schick doch die beiden Alten.«
Lisaweta antwortete nicht, der Vorschlag der Alten erschien ihr jedoch beachtenswert, und daß etwas geschehen mußte, unterlag keinem Zweifel. Nicht einmal zaudern durfte sie jetzt, wo man sie sogar in Verbrechen verwickelte. Dem ersten Impuls durfte zwar nicht gehorcht werden, auch unter den erschwerten Umständen nicht, denn da, wo jeder Schritt verhängnisvoll werden konnte, war es Pflicht, sorgsam zu erwägen, ehe man handelte.
»Ich will es überlegen«, sagte sie.
Die Kammerfrau nickte erfreut. Wenigstens ein Schrittchen vorwärts!
»Möchte Mütterchen nur nicht zu lange überlegen, sonst bleibt doch alles beim Alten«, bat sie nach einigem Zögern.
»Nein, nein, Nadascha, das brauchst du nicht zu befürchten«, antwortete die Fürstin gütig. »Ich weiß wohl, daß etwas geschehen muß, und es wird geschehen, denn lange ertrage ich diese Ketten nicht mehr. Es übersteigt menschliche Kraft! Die fortwährenden Ansprüche sind noch das wenigste, aber was sonst noch drum und dran hängt? –«
Wieder ging ein Schauder, wie Nadascha ihn in dieser Stunde schon wiederholt beobachtet, durch die zierliche Gestalt der Fürstin, dann fuhr sie fort: »Geduld mußt du aber haben, mich nicht immer drängen. Ich habe jetzt den Kopf ohnehin so voll – so voll, und dann will ich auch Scheragins Antwort wegen der Depeschen abwarten, ehe ich weiter beschließe. Ich werde ihm aber noch heute schreiben. – Gib mir ein dunkles Straßenkleid.«
Eine halbe Stunde später saß die Fürstin in ihrem Schreibzimmer vor einem Empire-Sekretär aus Mahagoniholz, einem Prachtstück der Kunsttischlerei.
Seine vielen großen und kleinen Schubfächer standen weit aufgezogen, und sie warf in nervöser Hast ihren Inhalt, meist Papiere, durcheinander.
Jedes Fach war mit einem besonderen, verschieden gearbeiteten Kunstschloß versehen, und außerdem bedurfte es noch eines Hauptschlüssels, um die kleinen Fächer überhaupt zugänglich zu machen. Die Sicherung des Sekretärs war sinnreich erdacht und vorzüglich. Darum fühlte Lisaweta auch noch keine ernste Besorgnis, als sie den gesuchten Saphirschmuck nicht fand. Es lag jedenfalls an ihrer hochgradigen Nervosität.
Sonderbar war es aber doch, und sie flüsterte: »Wenn ich nicht wüßte, daß es unmöglich ist – ganz unmöglich –«
Und sie fing von neuem zu suchen an – noch gründlicher, noch systematischer und – ebenso erfolglos, es fand sich nichts.
Da durchlief ein nervöses Zittern ihre Hände, spielte um ihre feine Nase, um ihren hübschen Mund – sie war bestohlen! Das Saphirhalsband, von dem ausgesucht schöne Perlen wie Tränen niederhingen, und der dazu gehörige Diademreif waren aus dem Sekretär verschwunden – ein Wert von reichlich fünfzigtausend Kronen!
Die Fürstin saß erstarrt, unfähig, klar zu denken, Vermutungen anzustellen über den wahrscheinlichen oder möglichen Dieb, über die Art und Weise, in der sich der Raub vollzogen haben konnte. Sie wiederholte sich nur fortwährend: »Wie ist's möglich – wie ist's möglich? Ich habe doch sämtliche Schlüssel bei mir gehabt! Und das Aufschließen ging so leicht wie sonst, ein Beweis wieder, daß keine Gewalt angewendet wurde.« – Es zeigten sich auch keinerlei Spuren von Gewalt oder nur von größerer Kraftaufwendung.
Wer hätte auch ahnen sollen, daß sie den Schmuck in der Hast der drängenden Abreise in den Sekretär eingeschlossen hatte, nicht wie sonst in die feuersichere Kasse? Niemand. Nicht einmal der Nadascha hatte sie es gesagt – leider!
Sie stand auf und schaute in dem geräumigen Zimmer mit Blicken um, die auch des Kleinsten achteten. – Nichts – nichts, was einen Anhaltspunkt geboten hätte, für sie wenigstens nicht. Alles stand und lag an seinem gewohnten Platz.
Ihr Blick ging an den Fenstern entlang. – Wieder nichts. Ueberall tadellose Ordnung.
Es war unfaßbar!
Wäre am hellen lichten Tag ein Gespenst vor sie hingetreten, Fürstin Orlowski hätte nicht bestürzter sein können. Es überrann sie eisig.
Eine Weile noch blieb sie stehen, regungslos vor sich hinsinnend, dann raffte sie sich auf und ging zu dem Sekretär zurück, neben dem eine elektrische Klingel angebracht war. Sie gab das Zeichen für Nadascha.
Als die Kammerfrau erschien, hatte Lisaweta die Herrschaft über sich wieder zurückgewonnen.
»Was befiehlt Mütterchen Maria Lisaweta?«
»War während meiner Abwesenheit jemand in diesem Zimmer?« fragte sie ruhig.
»Ich und der Basil. Wir haben gründlich aufgeräumt und alles abgestäubt.«
»Sonst war niemand hier?«
»Keine Seele.«
»Bist du's ganz sicher?«
»Vollkommen sicher, denn die Zimmer in beiden Stöcken waren stets versperrt, und die Schlüssel sind tagsüber nicht aus meiner Tasche gekommen, nachts aber habe ich sie unter dem Kopfkissen gehabt«, erklärte die Frau in beginnender Verwunderung, aber noch ohne Unruhe.
Lisaweta wußte, daß sie die Wahrheit sprach.
»War auch niemand hier, während ihr gearbeitet habt?« setzte sie das Verhör fort.
»Niemand. – Hat Mütterchen Lisaweta etwas in Unordnung gefunden?«
»Ich sage es dir später. – Hast du auch nichts Auffallendes wahrgenommen, gesehen oder gehört?«
»Nein.« – – –
»Auch Basil nicht?«
»Nein.«
»Und keins der anderen?«
»Nein. – Das heißt, ich glaube nicht, denn sie hätten es uns erzählt. Ich werde aber alle einzeln danach fragen.«
Jetzt schaute ernste Sorge aus Nadaschas Augen.
Die Fürstin sah es und sagte mit gedämpfter Stimme: »Der Saphirschmuck, das Hochzeitsgeschenk meines seligen Vaters, ist aus dem Sekretär verschwunden. Ich habe ihn vor der Abreise hineingeschlossen.«
Entsetzt, verstört schrie Nadascha auf, »Großer allmächtiger Gott!«
»Pst!« flüsterte die Orlowski und legte den Finger an die Lippen.
Die alte Frau war jedoch außer Rand und Band.
»Ihr lieben Heiligen – das – das ist nicht mit natürlichen Dingen zugegangen! Die Türen waren fest zugesperrt, und durch die Fenster ist auch keins hereingekommen, denn die Laden haben vorgelegen. Um zwei Uhr erst haben wir sie heute wieder aufgemacht. – Heilige Muttergottes von Kasan, erbarme dich unser!« wimmerte sie von den Schauern abergläubischer Furcht geschüttelt.
Die Fürstin aber sagte begütigend: »Ruhe, faß dich! Es ist mit rechten Dingen zugegangen. Wenn du mir nicht glaubst, so frage Vater Wassili, euern Popen.«
Dazu verspürte Nadascha jedoch keine Lust. Der ehrwürdige Vater auf dem Alten Fleischmarkt stieß in Maria Lisawetas Horn, die ihm mit freigiebiger Hand Almosen spendete für seine Armen, und die an nichts glaubte. Weder an böse Geister noch an Kobolde und ähnliche Wesen, die in Rußland jedes Kind kannte. Aeußerlich aber sammelte sie sich, um die Fürstin nicht zu erzürnen.
»Mütterchen Maria Lisaweta ist eine vornehme und kluge Dame, die viel gelernt hat und weiß. Ich bin eine unwissende alte Frau, die denkt und sagt, was sie in der Kindheit von den Alten des Dorfes gehört hat,« versetzte sie unterwürfig.
»Und die es auch bis an ihr Lebensende glauben und sich mit törichten Aengsten abquälen wird!« sagte die Orlowski freundlich, denn die Alte, der man ihrem scheu spähenden Auge die Furcht ansah, tat ihr leid.
»Die Leute des Westens sind klüger, aber auch weniger gläubig als wir armen Moskowiter«, stotterte sie.
»Klüger sind sie nicht, meine gute Nadascha, sie sind nur freier von Wahnglauben. – Weiß ich auch, daß der Schmuck auf eine ganz natürliche Weise verschwunden ist, so bleibt es mir doch unerklärlich, wie es zuging.«
»Wir müssen die Polizei rufen.«
»Morgen.«
»Das ist zu spät, Mütterchen Maria Lisaweta, bis dahin kann der Dieb, den Gott mit allen Gebrechen der Erde schlagen möge, das Weite gefunden haben. Der Schmuck ist so wertvoll!«
Die Fürstin nickte. Wertvoll war er allerdings und bei den gegenwärtigen Verhältnissen kamen auch Werte in Betracht, auf die sie früher kein hohes Gewicht gelegt hätte. – Aber – aber –
Vorhin war, wie ein jäh aufleuchtendes Licht, ein Verdacht in ihr aufgezuckt, der sie schwindeln machte. – »Karamanoff – der Gelehrte! – War es denkbar, war es überhaupt möglich –? Sie konnte es nicht glauben – es war zu gemein – und doch, wenn das, was sie heute nacht erlebt hatte, möglich war, warum sollte es nicht auch das andere sein?«
Wohin sie schaute, überall derselbe schwarze Vorhang. der den suchenden Blick auffing, keinen Lichtstrahl durchdringen ließ – überall im Dunkeln lauernde Gefahren überall nur Trostlosigkeiten! – Und die letzte Nacht, – sie war das Aergste! – Bis an ihr Lebensende würde diese Erinnerung auf ihr lasten. Sah keiner das Schandmal, sie selbst würde es sehen, bis ihr Auge brach!
Wieder ging ein Schauder über Lisaweta hin – wie Eis fröstelte es ihren Rücken hinunter.
Da raffte sie sich mit gewaltiger Willensanstrengung zusammen.
Wozu der armen alten Nadascha, die ohnehin schon so schwer zu tragen hatte, um ihretwillen noch eine neue Last aufladen?
Diese Rücksichtnahme hatte jedoch nicht die gewollte Wirkung. Die Kammerfrau las ihr die verzweifelte Stimmung aus den umschleierten Augen heraus, kannte sie auch ihre Quelle nicht.
»Mütterchen Durchlaucht soll nicht den Mut verlieren«, tröstete sie eifrig. »Sie wird einen Ausweg finden aus ihren Sorgen und aus ihrem Leide, ich weiß es, es ist mir in einem Traum offenbar geworden! – Was sie so lange ausgehalten hat, wie eine Heldin, das hält sie noch eine kleine Weile aus. Nur muß sie den Beistand des Herrn Grafen Scheragin anrufen!«
In Lisawetas Brust löste sich der erstickende Druck etwas. Ihre Augen wurden feucht, und die Hand der alten Frau warm drückend, sagte sie: »Du hast recht, meine gute Nadascha, es wird schon noch gehen! Ich würde mich übrigens gar nicht so niederzwingen lassen, sähe ich selbst in weitester Ferne nur ein freundliches Lichtpünktchen!«
»Es ist vielleicht näher als du denkst. Mütterchen! – Halte dich nur an den Grafen!« sagte die Frau darauf überzeugt.
»Man dächte, du wüßtest mehr als ich, wenn man dich so reden hört!«
»Ich weiß auch mehr. In der Nacht nach deiner Abreise war ich wieder in Anilonkowo, mitten zwischen den Feldern und den Weiden. Da fing's plötzlich an, in der Luft zu brausen und zu tosen, und vom Schlosse her fegte es wie eine schwarze Wolke einher, ein Gewimmel häßlicher Gestalten – Dämonen und Ungeheuer, und in einer davon habe ich deutlich den Karamanoff erkannt! Und der sie vor sich hertrieb, war unser Graf Nikolaus Nikolajewitsch! Auf einem riesengroßen Rappen hat er gesessen und mit einer ungeheuren Peitsche immerwährend mitten hineingeknallt zwischen das zerstiebende Gesindel! Das war die Vorverkündigung besserer Zeiten.«
»Hoffen wir's!« sagte die Fürstin ohne Hoffnung.
Sie kannte Nadaschas wunderbare Träume, die sich nie erfüllten.
Diese aber vertraute ihnen unentwegt und sagte beinahe heiter: »Ich telephoniere jetzt an die Polizei.«
»Noch nicht; ehe wir die Polizei holen, fragst du sämtliche Hausleute, ob sie von der Sache nichts wissen, das heißt, ob keiner etwas Verdächtiges oder nur etwas Auffallendes wahrgenommen hat. – Gib mir den Skunspelz, ich will zu Karamanoff.«
Nadascha ging schweigsam und ärgerlich.
Karamanoff! – Karamanoff! – Wie sie diesen Namen haßte!
Es ging auf sechs Uhr, als Lisaweta Orlowski zu Fuß das Haus verließ, eingehüllt in einen bis auf den Boden herabreichenden Pelzmantel und einen dichten schwarzen Gazeschleier vor dem Gesicht, als gälte es, sich vor grimmiger Winterkälte zu schützen. Sie ging bis zum nächsten Fiakerstandplatz in der verlängerten Kärntnerstraße, um sich in die stille Piaristengasse in der Josephstadt fahren zu lassen.
Als sie dort vor einem alten, hohen Hause ausstieg, wies sie den Kutscher an, ihre Rückkehr zu erwarten.