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Im dritten Stock dieses Hauses lag auf dem Sopha eines einfach und ernst ausgestatteten Zimmers, in dem an Büchern und Papieren kein Mangel war, ein Mann von einigen vierzig Jahren, fröstelnd und hüstelnd, obgleich er bis fast ans Kinn in eine dicke Wolldecke gehüllt war und der eiserne Ofen von Hitze fauchte.
Er lag still, ganz still. Befriedigung in dem grobknochigen, eingefallenen Gesichte, überspannt von einer fahlen blutleeren Haut, deren herbe Farbe durch den langen, noch glänzend schwarzen Vollbart noch auffallender und unangenehmer wirkte. Die kleinen stechenden Augen von dunkler Färbung lagen tief in den Höhlen, waren düster und von kommenden und gehenden Flämmchen durchspielt.
Dieser Mann nannte sich Iwan Feodorowitsch Karamanoff, war Privatgelehrter und populär-philosophischer Schriftsteller. Vor mehreren Jahren hatte er Rußland in fluchtartiger Eile verlassen müssen, um den Folgen einer wider ihn erhobenen Anklage wegen Aufreizung gegen die bestehende Gesellschaftsordnung, gegen Religion und gute Sitte zu entrinnen. Seine Schriften, von deren Ertrag er lebte, waren im Zarenreich verboten, was natürlich nicht hinderte, daß sie dort einen vorzüglichen Absatz fanden und ungewöhnlich hoch bezahlt wurden, denn ihr Vertrieb war eine gefährliche Sache.
Vor ihm, auf dem mit einem alten Teppich überhangenen Sophatische stand eine Tasse Tee, die einen stark süßlichen Apothekengeruch von sich gab.
Eine große, hagere Dame, deren Gesichtsschnitt und Ausdruck an Iwan Feodorowitsch erinnerte, saß ihm gegenüber auf einem Stuhle und verrührte einen Löffel Honig in dem gelblichen Gebräu.
Es war Helene Markowna Aschkin, seine Schwester, die Witwe eines Kleinstadt-Advokaten, der die Rechtsgeschäfte der Kleinbürger und Bauern seines Bezirkes redlich besorgt und nie einen Prozeß übernommen hatte, der keine Aussicht auf einen günstigen Ausgang bot. Aristides Aschkin war zwar nur ein Mann von Durchschnittsverstand und Durchschnittswissen gewesen, aber ein durch und durch aufrechter Charakter und eine gute Haut. Ein solcher Mensch konnte als Advokat natürlich kein Vermögen sammeln, denn der Rat: »Steck deine Beschwerden und Ansprüche in die Tasche und leg dich daheim auf die Ofenbank, es wird dir besser sein, als dein sauer verdientes Geld an Advokaten und Gerichtskosten zu hängen«, brachte ihm, wie nützlich er war, höchstens einen Rubel ein.
Und Aschkin hatte wirklich so wenig hinterlassen, daß seiner Witwe nichts übrig geblieben war, als zu ihrem unverheirateten Bruder Iwan zu ziehen und ihn in die freiwillige Verbannung zu begleiten. Das hatte sie übrigens kein Opfer gekostet, denn in ihrer rauhen, trockenen Art vergötterte sie den Bruder und war eine begeisterte Anhängerin seiner alles negierenden und auflösenden Lehre.
»Was die Gesellschaft wert ist, hat sie an meinem armen Aristid bewiesen. Weil er die beste, die edelste, die ehrlichste Seele war, haben sie ihn ausgelacht, verspottet, einen idealen Narren gescholten, dem es recht geschähe, müßte er am Hungertuche nagen! Und das haben auch jene getan, denen seine Herzensgüte das Geld in der Tasche erhalten hat! – »Geht doch nicht zum Aschkin, haben sie gesagt, der ist ein Advokat und schickte die fort, die ihm einen Prozeß bringen!« – Die Menschen – die Menschen! Pfui, ich habe nur Ekel für sie – nur Ekel!«
Wenn sie auf dieses Thema zu sprechen kam. faßte sie Hyänenwut, wie sie sich ausdrückte, faßte sie ein unüberwindliches Verlangen, den verstorbenen Aristid an jedem zu rächen, der in ihren Weg trat.
Jetzt aber rührte sie geduldig Honig in irgendeinem harmlosen Brusttee, und als beide Stoffe sich ihrer Meinung nach innig genug verbunden hatten, schob sie die Tasse noch näher an den Rand des Tisches und sagte: »Trink, Iwan, es tut dir not. Du hustest heute wieder fortwährend, und dein Katarrh, wenn's wirklich nichts schlimmeres ist, wird dich noch in die Grube bringen.«
Karamanoff hüstelte, trank in Absätzen die Tasse leer, hüstelte wieder und sagte hierauf mit einer stark belegten hohl klingenden Stimme: »Es ist nichts weiter als ein Katarrh wie ich schon viele gehabt habe. Es steckt im Hals, Helene Markowna. Und selbst wenn es mehr wäre, würde ich doch nicht sterben, so lange der Wille zum Leben in mir so mächtig ist, wie er's ist. Du weißt gar nicht, was das ausmacht, der Wille zum Leben!«
»Möchtest du recht haben!«
Helene Markowna sah aber nicht aus, als ob sie es glaubte.
Iwan bemerkte es, und es reizte ihn. Wie er selbst an die Unüberwindlichkeit seines Lebenswillens glaubte, so sollten auch die anderen an sie glauben. Eine dunkle Röte jagte durch sein Gesicht, eine durch ihre Fleischlosigkeit klappernde Faust fuhr unter der Wolldecke hervor, und fiel schwer auf den Tisch.
»Krächze mir nicht fortwährend Unheil, verwünschter alter Rabe! Ich werde leben bis mein Ziel erreicht ist, sage ich dir, denn ich will es!«
Die Aschkin nahm den verwünschten alten Raben nicht übel. Sie wußte es, es war nur die Erregung des Kranken, der nicht an die Vernichtung des eigenen Seins gemahnt werden wollte. Böse Absicht lag ihm fern, denn sie nahm in seinem Leben allen Platz ein, den die große Idee, für die er lebte, wirkte und – sündigte, übrig ließ. Sehr groß war dieser Platz ja nicht, aber sie besaß ihn wenigstens unbestritten, ungeteilt.
Um ihn nicht noch stärker zu erregen, lenkte sie mit der Frage ab: »Hast du heute besseren Appetit, möchtest du hernach essen?«
Er nickte.
»Ja, essen. Wie ein Wolf will ich essen und von dem dicken englischen Malzbier trinken. Gib her, was im Hause ist! Es soll nicht mehr gespart werden. Am eigenen Körper sparen ist Verschwendung! Nur der Kraftvolle sammelt Schätze.«
Jetzt wußte Helene Markowna, daß ihr Bruder sich krank und schwach fühlte, daß die Täuschung über seinen Zustand, in der er so lange gelebt, zusammengebrochen war wie ein Kartenhaus. Mit oder ohne Appetit, selbst mit Widerwillen würde er alles in sich hineinfressen, dessen er habhaft werden konnte, um wieder zu Kräften zu gelangen, um zu leben, um sein Ziel zu erreichen.
Vielleicht half das Mittel!
Und sie wollte in die Küche gehen, das Essen richten, da erhob sich die rauhstimmige Flurglocke.
Wer konnte es sein? Sie setzte sich wieder und lauschte.
»Wer wird's sein? Die Orlowski. Ich kenne sie an ihrem herrischen Fürstenläuten, in dem ihre hochmütige Sinnesart ihren Ausdruck findet.« Er hüstelte. »Ich habe sie bestellt, den Tschatschitsch zu ihr geschickt.«
Er hatte es kaum gesagt, als eine schmutzige Magd hereinkam und meldete: »Herr Professor, die eine junge Dame is wieder da. die so nach Veigerln riecht.«
»Hereinführen«, sagte Iwan Feodorowitsch, ohne sich aufzurichten. Seiner Schwester, die aufstehen wollte, gebot er: »Sitzengeblieben!«
Lisaweta trat ein, erst jetzt den Schleier lüftend.
»Guten Abend, Helene Markowna – guten Abend, Iwan Feodorowitsch! Sie sind unwohl?«
Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse, die in einem hässlichen boshaften Lächeln verlief.
»Ich bin krank, Maria Lisaweta, regelrecht krank! Aber es schadet nichts bei meiner bewährten Zähigkeit, und meinetwegen brauchen Sie Ihre Trauerroben noch nicht auffrischen zu lassen.«
»Ich wünsche Ihnen nichts Böses. Iwan Feodorowitsch. Weil es zwecklos ist, daher auch albern, nicht etwa aus Nächstenliebe. Uebrigens wird dieses Jahr ebenso herumgehen wie die anderen Jahre herumgegangen sind«, antwortete sie mit ruhiger, klarer Stimme.
Ihre Haltung mochte ihm imponieren, denn sein Ton war wenigstens kein so zynischer, kein so herausfordernder mehr, als er darauf entgegnete: »Aber bange wird es Ihnen werden. Maria Lisaweta, denn wir brauchen für das große Erlösungswerk Geld – Geld – Geld! Wir brauchen mehr denn je, und Sie werden es aufbringen.«
In der Fürstin fingen die Nerven an zu hüpfen. Aeusserlich blieb sie vornehm kühl.
»Keinesfalls werde ich mehr aufbringen als ich kann«, war ihre Antwort.
Ein spöttischer Ausdruck trat in Karamanoffs Züge.
»Sie können noch mehr leisten als wir fordern, Fürstin Orlowski. Wir sind über Ihre Finanzlage auf das genaueste unterrichtet. – Was hat sie so lange in Berlin zurückgehalten?«
»Sie wissen es ja.«
Dabei fixierte sie den Mann auf dem Sopha.
In seinen Mienen regte sich nichts.
»Ihr Vetter Staatsrat Scheragin –«
»Sie irren, Iwan Feodorowitsch, ich habe ihn weder gesehen, noch hat er die Absicht gehabt, nach Berlin zu kommen. Sein Name wurde mißbraucht, die drei Depeschen, die angeblich von ihm kamen, waren gefälscht. Und wissen Sie, wer sich dieser Fälschung schuldig gemacht hat? Ihr Freund Michael Lenowostowoi!«
»Haben Sie Beweise dafür?« fragte Karamanoff höhnisch.
Die Fürstin beachtete es nicht.
»Er hat mich nach Berlin gelockt«, fuhr sie fort, »um mit Hilfe gemeiner Kniffe und Drohungen eine Begegnung zwischen dem Legationssekretär Grafen Agenor Hartens und mir herbeizuführen. Der Feigling bedurfte eines Schildes, unter dessen Deckung er dem Grafen bequem die Schriftstücke stehlen konnte, die ihm zur Beförderung nach Wien übergeben waren. – Sind Ihnen diese Vorgänge bekannt, wissen Sie, daß er Sie als seinen Auftraggeber vorschob –?«
Ihre blauen Augen flammten fragend in die seinigen.
Der Leidende hüstelte wieder, dann fragte er nachlässig: »Weshalb interessieren Sie sich dafür, Maria Lisaweta?«
»Weil ich mich nicht dazu hergebe, die unfreiwillige Helfershelferin von Taschendieben zu sein und wissen muß, an wenn ich mich zu halten habe.«
Die Aschkin, die kreidebleich geworden war, fuhr jetzt in die Höhe, wie unter einem Schlangenbiß.
»Weib!« krächzte sie außer sich, unfähig einen lauten Ton aus der Kehle zu bringen.
Eine zur Ruhe verweisende Handbewegung des Bruders brachte sie zum Verstummen. Sie verhielt sich fortan still, fuhr aber fort, Lisaweta haßerfüllt anzustieren.
Der Russe blieb so kühl wie bisher, als er entgegnete: »Wozu diese Aufregung? Ich sehe keinen Grund. Sie können es ja halten, wie es Ihnen gefällt. Kein Mensch wird Sie zwingen an Alexander Alexandrowitsch zu denken, Rücksicht auf ihn zu nehmen. Das ist reine Gefühlssache.«
Ein Zittern der Empörung ging durch die Fürstin. Es durchschwirrte auch ihren Stimmton, als sie nach tiefen Atemzügen wieder begann: »Bleiben wir bei der Sache. – Ich habe mich seiner Zeit verpflichtet, für die Dauer von fünf Jahren jährlich hunderttausend Rubel zu Ihren Händen zu zahlen. Ich habe mich ferner verpflichtet, während dieser Zeit getrennt vom Fürsten in Wien zu leben, höchstens viermal im Jahre an einem Orte, den Sie bestimmen, und stets nur für kurze Zeit mit ihm zusammen zu kommen. Endlich habe ich mich noch verpflichtet, die Geschichte dieses Vertrages und seinen Wortlaut mit mir ins Grab zu nehmen. Mehr habe ich aber nicht auf mich genommen.«
»Wozu erzählen Sie mir Dinge, die ich so gut weiß wie Sie!« unterbrach Karamanoff hüstelnd.
»Um Ihnen klar zu machen, daß Sie kein Recht haben, mich in Schmutzgeschichten hinein zu ziehen, wie die von heute Nacht«, antwortete sie bestimmt, fast schroff.
Er sagte mit einem mitleidigen Lächeln: »Wie naiv Sie sind, Maria Lisaweta! – Wie mag man sich der Macht gegenüber auf's Recht berufen?«
»Pfui!«
»Das ist Ansichtssache, positiv aber ist. daß wir die Macht haben, zu erzwingen, was wir wollen, während Sie mit dem Recht gar nichts zu erzwingen vermögen. Es steht Ihnen ja frei, Lenowostowoi der Polizei preiszugeben, es fällt mir nicht ein, Ihnen abzureden. Tun Sie, was Ihnen beliebt, wir werden es ebenso halten. – Und was den Vertrag betrifft, so rate ich nochmals, sich mit dem Gedanken zu befreunden, daß er ein wertloses Stück Papier ist, das wir niemals ernst genommen haben – niemals! – Sie werden bezahlen, was wir fordern. Sie werden tun, was wir anordnen. Natürlich nur so lange, als Ihr Interesse für Alexander Alexandrowitsch so groß ist, daß Preis und Leistung sich in Ihrer Schätzung die Wage halten. Heute in drei Tagen brauche ich fünfzigtausend Rubel.«
Ein Hustenanfall, heftiger als die vorhergegangenen, überhob Lisaweta einer sofortigen Antwort auf diese unerwartete Forderung und rief Helene Markowna an die Seite ihres Bruders zur Hilfeleistung.
Als er wieder zur Ruhe gekommen war, hatte sich die Fürstin von der ersten schreckhaften Ueberraschung erholt und sagte kurz: »Es tut mir leid, Iwan Feodorowitsch, so schnell geht es nicht. Ich habe diesen Betrag gegenwärtig weder zur Verfügung, noch kann ich ihn sofort flüssig machen. Was ich Ihnen am Tage meiner Abreise nach Berlin gab, war alles, was ich monatelang zur Verfügung hatte.«
Karamanoff lächelte ungläubig.
»Armselige sechsundsiebzigtausend Kronen! Sie dauern mich, Maria Lisaweta. Sie stellen sich ein Armutszeugnis aus!«
»Rechnen Sie die Kapitalien zusammen, die ich seit Neujahr gegeben habe, dann werden Sie nicht von Armutszeugnis reden!«
Iwan Feodorowitschs stechende Augen bohrten sich in ihr Gesicht.
»Ich weiß sie auswendig, sie belaufen sich auf zusammen zweihundertfünfundvierzigtausend Kronen. Das ist nicht ganz wenig, es ist aber auch nicht viel für Sie. Nach ihres Vaters Tods erbten Sie über zwei Millionen Gulden, also vier Millionen Kronen, und Alexander Alexandrowitschs Besitz an liegenden Gütern allein wurde vor acht Jahren ungefähr auf sechs Millionen Rubel eingeschätzt. Wir sind über die Verhältnisse aller unserer Tributäre genau unterrichtet.«
»Und dennoch habe ich keine fünfzigtausend Rubel zur Hand«, erwiderte die Fürstin.
Von der Anstrengung des anhaltenden Sprechens ermüdet, hatte Karamanoff den Kopf stark hintenüber gelegt und lag jetzt mit geschlossenen Augen, mühsam atmend. Er sah aus wie eine Leiche.
Wenigstens zehn Minuten vergingen, ehe er wieder zu sprechen imstande war.
Dann sagte er matt: »Borgen Sie sich das Geld.«
»Wo?«
»Eine Fürstin Orlowski erhält es von jeder Bank.«
Seine Sprache war noch immer mühsam.
»Das kann ich nicht ohne den Fürsten.«
»Sie haben doch eine reiche Mutter, Fürstin Orlowski«, mischte sich die sonst stets passive Helene Markowna ein.
Um des Bruders willen, zu seiner Schonung suchte sie zu vermitteln.
»Das geht nicht«, antwortete Lisaweta, aufs äußerste gereizt, mit kurzer Entschlossenheit.
Karamanoff wollte etwas sagen, doch die Stimme versagte.
Nichts konnte er mehr aushalten, rein gar nichts, schon so ein bißchen Aerger warf sich ihm auf die Nerven!
»Wenn dir die Fürstin einen Wechsel ausstellt, Iwan?«
Da raffte er seine letzten Kräfte und schlug, durch den in ihm tobenden Zorn zu Energieäußerungen befähigt, so hart auf den Tisch, daß die Teetasse klirrend umfiel und ihr dickflüssiger Inhalt sich über den Teppich ergoß.
»Unsinn!« schrie er keuchend. »Sie hat Juwelen, die allein ein großes Vermögen repräsentieren – kann sich also helfen! Heute in drei Tagen liegt die Summe in Gold hier, auf diesem Tisch hingezählt oder wir halten uns an Alexander Alexandrowitsch! – Das ist mein letztes Wort.«
Damit brach er zusammen, aschfahl im Gesicht.
»Er stirbt!« schrie Helene Markowna und warf sich neben ihm auf die Knie, stützte seinen hintenübergesunkenen Kopf.
Zwischen den halb geöffneten Lippen drangen gurgelnde Laute, das einzige Zeichen noch vorhandenen Lebens.
So vergingen endlose Augenblicke. Endlich hob und senkte sich die Brust wieder, aber nur ganz schwach, mühevoll.
Auch Lisaweta hatte sich vom Stuhle erhoben. Sie stand am Tische und schaute sehr ernst zu dem Manne hinüber, der seit beinahe vollen fünf Jahren der Fluch ihres Lebens war und der jetzt so elend, so hilflos dalag.
War dieses verlöschende Menschlein ein Schurke mit Wissen und Willen, stand es wie sie unter einem übermächtigen Bann oder war es ein armer Narr, den ein toller Wahn von einer Schurkerei in die andere hetzte?
Sie legte sich diese Frage in eisiger Ruhe vor. Kein Händchen Mitgefühl mit dem Jammerbilde vor ihr erwachte. Es hätte sich vor ihren Augen winden können in den wahnsinnigsten Schmerzen, es hätte sterben können, ohne daran etwas zu ändern. Ihr Herz blieb stumm. Iwan Feodorowitsch hatte ihr zu großes Leid zugefügt.
»Er stirbt noch nicht, flößen Sie ihm ein Belebungsmittel ein, Helene Markowna«, sagte sie nach einer Weile stillen Beobachtens zur Aschkin, die sich zwar ganz ruhig verhielt, innerlich aber alle Fassung verloren hatte.
Die Blicke der Frauen trafen sich. Was darin lag, waren keine Freundlichkeiten. – Mißtrauen starrte in Mißtrauen.
Dennoch befolgte die Aschkin den Rat.
Was sie dem Bruder reichte, war eine dunkelrote Flüssigkeit, die ein Moskauer Professor für derartige Anfälle gegeben hatte.
Etliche Tropfen davon belebten den halb Ohnmächtigen so schnell, daß Lisaweta dachte, sie müßten wohl ein starkes Gift enthalten. In seine glanzlosen Augen trat wieder Leben, der Atem wurde kräftiger und regelmäßiger und nach einer Weile sagte er zu seiner ihn ängstlich beobachtenden Schwester: »Starr mich nicht so winselnd an, als läge ich in den letzten Zügen, du Gans! – Ich lebe so lange ich leben will! Das Blut rollt noch lustig in meinen Adern!«
Der pfeifende Atem und der wiedereinsetzende Husten widersprachen jedoch dieser Versicherung.
Die Aschkin gab sich auch keiner Täuschung hin. Sie sah zu deutlich, wie der Wille zum Leben, der den verbrauchten Körper so lange über Wasser gehalten, mehr und mehr die Oberherrschaft über die Krankheit verlor, die bisher sich ihren Weg durch den Organismus leise schleichend weitergewühlt hatte. Sie sah noch mehr. Sie sah den Tag herankommen, an dem alle Willensanstrengung fruchtlos bleiben, an dem Iwan Feodorowitsch gänzlich zusammenbrechen würde, um sich nicht wieder aufzuraffen, und Tränen drängten sich in die ihrer längst entwöhnten Augen.
Als Karamanoff sich wieder leidlich erholt hatte, sagte er mit einem Schein neuer Kraft: »Die Fürstin Orlowski kennt meine Entscheidung. Entweder sie bezahlt innerhalb der ihr gesetzten Frist oder wir machen uns auf unsere Weise bezahlt. Dass sie, daß jede Polizei der Welt gegen unsere Beschlüsse machtlos ist, weiß sie.«
Lisaweta, die wieder wie vorhin am Tische stand, biß die Zähne zusammen, um den in ihr kochenden, empörten Gedanken und Empfindungen den Weg nach außen zu sperren. Karamanoffs Drohung war begründet. Sie und Alexander Alexandrowitsch befanden sich tatsächlich in seinen und seiner Genossen Händen, ihr Willen stand unter deren Knechtschaft. Und für diese Menschen gab es nichts, was Ehre und Gewissen hieß!
Ein Schauder durchzitterte sie.
Hier war wirkliche Hilfe schwer zu bringen.
»Sie sollen das Geld haben, Iwan Feodorowitsch, aber erst übernächste Woche. Ich kann ohne den Fürsten nichts flüssig machen. Er kommt zwar für etliche Tage nach Wien, doch nicht eher als Mittwoch oder Donnerstag nächster Woche.«
Wieder lag Karamanoff eine Weile still, als dächte er nach. Was ihn ruhig hielt, war nur Schwäche. Eine Schwäche, die er nicht einmal sich selbst eingestehen mochte.
Helene Markowna aber erkannte sie und sagte sich: »Er kann nicht mehr – und bald wird dieses starke Herz stille stehen für immer, dieser große, dieser edle Mann gestorben sein!!
Als er die Augen wieder aufschlug, sagte er kurz, entschieden: »Alexander Alexandrowitsch kommt jetzt nicht hierher. Ich will es nicht!«
»Es ist aber unerläßlich, es handelt sich um Geldangelegenheiten, die vom Auslande aus nicht zu erledigen sind, ohne daß wir empfindliche Verluste riskieren«, wendete Lisaweta heftig ein.
»Nach Oesterreich kann er ja kommen, dagegen habe ich nichts.«
»Seine Anwesenheit in Wien ist dringend nötig!«
»Sie haben meine Entscheidung gehört, Fürstin Orlowski. – Und was die fünfzigtausend angeht, so beherzigen Sie – binnen drei Tagen oder –«
Karamanoff hatte sich mühsam zu halbsitzender Stellung aufgerichtet und schaute der Fürstin bedeutungsvoll ins Gesicht.
Seit länger als sechs Jahren schon kannte sie die lange schlotternde Gestalt. Wie in diesem Augenblick war ihr des Mannes furchterregende Magerkeit jedoch nie zuvor ausgefallen. Ihr war, als müßte man bei jeder seiner Bewegungen die Knochen klappern hören. – Wenn einer, so war Iwan Feodorowitsch einem nahen Tode verfallen!
»Ihr freilich brachte er keinen Gewinn. Starb er heute, so trat morgen ein anderer an seine Stelle. Sie aber stand jenem anderen so machtlos gegenüber wie diesem hier.