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Der K. K. Legationssekretär Graf Agenor Hartens vom Ministerium des Aeußern in Wien ging schon seit einer ganzen Weile vor einem eleganten Taschnerladen in der Straße Unter den Linden auf und ab. Zuweilen blieb er auch vor den beiden riesigen Schaufenstern stehen und besah die Warenausstellung.
Er stand eben wieder davor, als eine zweispännige Droschke vorfuhr. Eine vornehm aussehende Dame stieg aus. Höchster, doch diskreter Schick.
So flink huschte sie an ihm vorüber, daß sich die Ladentür schon hinter ihr schloß, ehe er Zeit gehabt, mehr in sich aufzunehmen, als das Gesamtbild ihrer Erscheinung.
Er schaute ihr betroffen nach.
Wenn das nicht die Orlowski war – dann – dann hatte sie in Berlin eine Doppelgängerin!
Schnell zog er die Uhr – drei Uhr durch! Genau die Zeit, zu der ihn die geheimnisvolle Briefkarte von gestern Abend hierher bestellte! – Doch – Fürstin Lisaweta und eine derartige Bestellung – – –? – Lächerlich! – Wie sollte sie auch nach Berlin kommen – wie sollte sie um sein Hiersein wissen? Verwirrende Fragen! – Er mußte Klarheit gewinnen!
Und ohne sich länger den Kopf anzustrengen, trat er in den Laden.
Sofort stand ein Verkäufer vor ihm, der sich zuvorkommend nach seinen Wünschen erkundigte.
Ein zerstreutes: »Sehr gut – später!« und der Graf war an ihm vorüber. Er hatte nur Augen für die blonde Dame am Ladentisch.
Sie war's!
Verblüffend!
Er trat an ihre Seite und begrüßte sie: »Sie hier, Fürstin –? Das grenzt an ein Wunder!«
Sie wendete hastig den Kopf und ein schwer festzustellender Ausdruck ging durch ihre Züge. War es unangenehme Ueberraschung – war es noch mehr – war es Schreck? – Freilich, es konnte auch eine gut gespielte kleine Komödie sein, bestimmt, ihn von der richtigen Spur abzulenken!
Sie hatte sich aber sofort wieder gefaßt.
»Wenn ich an Erscheinungen glaubte, würde ich Sie dafür halten, Graf Hartens! – Mittwoch abend haben wir uns noch bei der Westernheim getroffen, Sonnabend nachmittag stehen wir, Wiedersehen feiernd, auf Berliner Pflaster!« Dabei streckte sie ihm kameradschaftlich eine in einem hellen dänischen Handschuh steckende Hand entgegen.
Er küßte die Hand.
»Bei mir ging's Hals über Kopf. Donnerstag um zehn Uhr kam die Order, Freitag Frühstück in Berlin«, antwortete er.
»So, sind Sie dienstlich hier?«
Er verbeugte sich.
»Doch nicht an die hiesige Botschaft beordert? Das täte mir ehrlich leid, obwohl ich es Ihnen gönnte?«
Ein leises Leuchten ging durch sein hübsches Gesicht.
»Zu gnädig, Fürstin. – Nein, ich bin in besonderer Mission gekommen.«
»O! – das freut mich noch mehr für Sie, es ist ein großer Vertrauensbeweis!«
Wieder verneigte er sich dankend.
»Darf ich fragen, was gnädige Fürstin nach Berlin führte? – Ich traute vorhin meinen Augen nicht!«
Die Dame lächelte.
»Bei mir ging's auch blitzgeschwind. Eine Depesche unseres Vetters Nikolaus Nikolajewitsch Scheragin rief mich hierher. Er wünschte mich in Familienangelegenheiten zu sprechen, wurde aber durch ein Unwohlsein seines einzigen Kindes zu Hause festgehalten. – Wie lange bleiben Sie in Berlin, Graf?«
Nur noch bis zum Nachtschnellzug 11.13. Wäre es nicht strikte Order, unmittelbar nach Erledigung der Geschäfte die Rückreise anzutreten, so würde ich mir die Erlaubnis erbeten haben, Fürstin auf der Heimfahrt begleiten zu dürfen«, sagte Hartens mit einem sehr ausdrucksvollen Blick.
Fürstin Lisaweta Orlowski hatte es ihm »angetan«.
»Diese Erlaubnis ist gern gegeben – ich – ich benütze den gleichen Zug.
In des Grafen Gesicht strahlte jähe Freude auf.
»Ah!«
Die Briefkarte – sollte sie dennoch –?
»Wann wird der Zug in Wien sein?«
»Morgen zwischen 2 und 2.30 Uhr mittags«, – und er holte das Kursbuch aus seinem Pelze.
»Lassen Sie doch: an einer halben Stunde früher oder später ist nichts gelegen. – Uebrigens ist's nicht sicher, daß ich den Elfuhrzug benutze. Ich habe einige Pelzsachen gekauft, an denen kleine Veränderungen erforderlich sind, und es könnte sein, daß sie erst morgen früh geliefert würden. Sie sehen ja, ob ich im Wartesaal bin. – Haben Sie Zeit und Lust, mich jetzt zu begleiten, Graf Hartens?«
»Um acht Uhr werde ich in der Botschaft erwartet, bis dahin darf ich mich Ihrem Dienste widmen, Fürstin«, erwiderte er mit einer Verbeugung.
Die Verkäufer waren sofort wieder zur Stelle, als die beiden vornehmen Kunden jetzt ihre Wünsche äußerten.
Das Geschäft wickelte sich schnell ab. Ohne langes Wählen, ohne nach den Preisen zu fragen, ließ die Orlowski einige der ihr vorgelegten Lederartikel einpacken, bezahlte dann die Rechnung.
Der Legationssekretär machte es ebenso. Ihm war es völlig gleichgültig, was er gegen sein Geld eintauschte. Er kaufte nur, um zu kaufen, weil er einmal im Laden war. Ihn beschäftigte allein die Frage: Weiß Fürstin Lisaweta von dem gestrigen Kartenbrief?
– Undenkbar – Wer aber hatte ihn geschrieben – wer? Er kannte keine Seele. Und solange er sich auch in der unmittelbaren Nähe des Taschnerladens aufgehalten, solange er jetzt schon drinnen stand, er hatte keine Dame bemerkt, in der er die Urheberin der rätselhaften Bestellung vermuten konnte.
Die Orlowski unterbrach seine Gedankengänge durch die Aufforderung zum Gehen.
»Dieses Paket läßt auf eine vielköpfige Familie schließen!« sagte er lächelnd, als der Verkäufer es zum Wagen vorantrug.
»Für die Hausleute«, antwortete sie. »Sie sind gewohnt, daß ich ihnen von meinen Reisen eine Kleinigkeit mitbringe.«
»Sagen Sie lieber: sie sind verwöhnt!«
»Jedenfalls nur aus Berechnung!«
»Hoho!«
»Doch. Sie glauben nicht, lieber Hartens, wie solche kleine Freundlichkeiten sich belohnen, die Leute aneifern, ihre Anhänglichkeit an die Herrschaft stärken. Die meinen gingen für mich durchs Feuer! Sie sehen so etwas wie einen kleinen Engel in mir, und doch bin ich nichts weniger als gut«, versicherte sie ernst, fast traurig.
»Verzeihung, Fürstin, ich glaube Ihnen nicht«, und der Legationssekretär half ihr in die Droschke, sie kräftiger stützend, als das bequeme Trittbrett nötig machte.
»Daß Sie es nicht glauben, ist selbstverständlich. Sie dürfen nicht, es wäre unliebenswürdig – unhöflich«, sagte sie spöttisch, als er neben ihr Platz nahm.
»Die Höflichkeit unehrlicher Schmeichelei hat nie auf meinem Programm gestanden, Fürstin«, antwortete er, sich gegen sie neigend.
Dabei atmete er das diskrete Parfüm ihrer Kleider, seidenen Violettes de Parme-Hauch, und konstatierte, daß es das feinste und lieblichste wäre, das es gab.
»Das ist sehr anerkennenswert, Graf Hartens.« Und ablenkend setzte sie hinzu: Sehen Sie doch, dieses Menschengewoge, dieses Drängen, diese Hast! – Sonderbar, daß sich in den Großstädten fast alle bewegen, als wäre jede ihrer Minuten gezählt! Und mehr als arbeiten kann man doch nirgends.«
»Aber man kann mehr oder weniger intensiv arbeiten. Die Großstadt ist in diesem Punkte unbarmherzig, sie läßt den Arbeitenden nicht zu Atem kommen.«
»Und doch ist mir das Hasten, die Spannung und Anspannung nirgend so aufgefallen wie hier. Am wenigsten in Paris.«
»Fürstin waren schon lange nicht mehr dort?«
»Im Dezember. – Was fangen wir mit dem Nachmittag an, wenn die Pakete im Hotel abgegeben sind?« sprang sie wieder ab.
»Was Sie befehlen.«
»So speisen wir bei Kranzler und besuchen hierauf das Café Bauer. Ich habe von diesen beiden Lokalen so oft gelesen, daß sie mich interessieren. – Bis halb Acht sind Sie ja wohl zu haben?«
Hartens verneigte sich.
»Das heißt, wenn Sie wollen«, setzte sie hinzu.
»Wenn Sie wollen?« – Er war entzückt – er würde alles gewollt haben, was die Orlowski wollte! Die Aussicht auf einen Nachmittag in ihrer Gesellschaft ohne die Gegenwart dritter, die Hoffnung, ihr Reisebegleiter zu sein, versetzten ihn in die gehobenste Stimmung. – Und wenn sie, wie unglaublich es auch schien – den Kartenbrief doch geschrieben – wenn sie ihn gesucht hätte –? –
Eine Stunde später saßen sich die beiden in einer stillen Ecke des Kranzlerschen Lokales gegenüber. Das Mahl war bestellt, und Graf Hartens, dem der Brief von gestern auf der Seele brannte, legte ihn vor die Fürstin.
»Das habe ich heute Nacht bei meiner Rückkehr aus dem Botschafterpalais auf meinem Zimmer gefunden«, sagte er mit einem Blick, in dem eine schüchterne Frage stand.
In die Wangen der Fürstin schoß eine Flamme. Er sah sie aufsteigen und unterdrückte ein Lächeln der Freude.
»Was – was soll ich –?« –
»Erweisen Sie mir die Gnade, den Brief zu lesen«, bat er.
Eine elegante Frauenhand hatte ihn geschrieben:
»Graf Hartens! Finden Sie sich morgen zwischen dreiviertel drei und viertel vier Unter den Linden ein und achten Sie jener, die in den Taschnerladen auf der linken Seite treten«
Die Fürstin sah jetzt sehr ernst, fast düster aus, und die Briefkarte ihrem Empfänger zurückgebend, sagte sie: »Ich vermute, daß diesem Brief eine schlimme Absicht zugrunde liegt.«
Er sah plötzlich bitter enttäuscht und betroffen aus. Sie hatte nicht wie von einer Vermutung, sie hatte wie von einer feststehenden Tatsache gesprochen und er fand keine Erklärung dafür.
»Wer soll Böses gegen mich im Schilde führen – in Berlin, wo keine Seele mich kennt –?« und er schüttelte zweifelnd den Kopf.
»Darüber kann ich nicht einmal Vermutungen anstellen«, sagte sie. »Sicher aber ist, daß eine derartige Bestellung in einer Stadt, in der man ganz unbekannt ist, Verdacht erregen muß. – Sie glaubten wohl, ich hätte das geschrieben? – Hand aufs Herz, Graf! Ich nehme es nicht übel. Unsere Begegnung konnte diese Annahme sehr leicht auslösen.«
Hartens wurde verlegen. – Hätte er den Brief nur nicht gezeigt – die Situation war zu peinlich!
»Geglaubt habe ich es nicht, Fürstin, daran gedacht, ja, das gebe ich zu. Vielleicht ist es auch verzeihlich, zieht man die Umstände in Rechnung«, sagte er zögernd – stotternd, in einem Unbehagen, das auch äußerlich den stärksten Ausdruck fand.
Von der Gewandtheit des Diplomaten war keine Spur mehr an ihm wahrzunehmen.
»Ich bin nicht böse und bin nicht beleidigt, Graf Hartens. An Ihrer Stelle wären mir die gleichen Gedanken gekommen. Aber zu denken gibt mir dieser Vorfall. Er mißfällt mir und ich warne Sie: seien Sie auf Ihrer Hut, halten Sie Augen und Ohren offen, bis Sie wieder in Wien und in Ihrer Wohnung sind. Die Bestellung entsprang offenbar dem Bestreben, uns beide zusammen zu führen und –«
»Aber, Fürstin, ich bitte Sie, wohin führt Sie das Mißtrauen!« unterbrach der Legationssekretär lächelnd. »Wer sollte wissen, daß Sie den Taschnerladen besuchen, daß Sie ihn gerade zu der angegebenen Stunde besuchen würden? Sie haben doch gewiß mit niemand darüber gesprochen – und noch dazu so lange vorher!«
Die Fürstin biß sich auf die Lippen. Sie fühlte, daß sie eine unvorsichtige Aeußerung getan hatte, die sich unter Umständen gegen sie kehren konnte. – Freilich, Agenor Hartens war so arglos wie ein Kind – erdrückend arglos!
»Gestern mittag habe ich den Hotelportier nach einem Taschner gefragt und für heute dreiviertel drei einen Wagen bestellt«, antwortete sie.
»Und war jemand in der Nähe?« erkundigte sich der Legationssekretär eilig.
»Das kann ich nicht mehr sagen.«
Die Erklärungen der Orlowski befriedigten ihn nicht, an keiner Seite schlossen die zwei Enden dicht aneinander. Das erregte ihm ein gewisses Unbehagen und rief allerlei Gedanken wach. »Man sollte denken, sie wüßte mehr, als sie sagt«, drängte es sich immer wieder in seinen Kopf.
Die Fürstin übte indessen einen starken Zauber auf ihn, um diesen Empfindungen und Gedanken einen breiteren Raum zu lassen. Bald hatten sie sich ganz verflüchtigt, war er wieder voll hingegeben an das vertrauliche Geplauder, an das Vergnügen, das ihre Gesellschaft ihm bereitete. – –
Als der Legationssekretär mit dem Schlage acht die österreichisch-ungarische Botschaft betrat, kostete es ihm Mühe, sich zu sammeln und seine Gedanken auf die bevorstehende Unterredung zu richten, bei der vermutlich hochwichtige und heikle Fragen zur Sprache kommen würden. Die Orlowski und die mit ihr verlebten Stunden, die ihm nunmehr neue Hoffnung gebracht, alte neu belebt hatten, spukten wild und wirr in seinem Kopfe.
»So schön es war, ich wollte doch, ich hätte sie nicht getroffen!« dachte er beim Ersteigen der teppichgedeckten Treppe, ärgerlich auf sich, auf seine Zerstreutheit.
Die Gewohnheit des Dienstes und der Anforderungen, die er an die geistigen und seelischen Kräfte des Diplomaten stellt, kamen ihm indessen rechtzeitig zu Hülfe. Mit dem Augenblick, wo er in das Kabinett des Botschafters trat, der persönlich mit ihm verhandeln, ihm seine Weisungen erteilen wollte, war der tolle Fastnachtszauber – als das hatte er seine eigentümliche Stimmung empfunden – vollständig verschwunden, war er wieder ganz und gar Diplomat, für den es nur eins gab – das Interesse an der Sache, an deren Lösung mitzuarbeiten er berufen worden. Während der mehr als zweistündigen Verhandlung kam ihm Lisaweta Orlowski auch nicht einmal in den Sinn.
Als er wieder unter das Portal trat, zeigte die Uhr auf genau zwanzig Minuten nach zehn. So hatte er noch reichlich Zeit vor sich bis zum Abgang seines Zuges.
Hoffentlich hatte sich die Fürstin in der Zwischenzeit nicht anders besonnen.
Lisaweta galt für launisch und es sollte bei ihr öfter heißen: Aus den Augen, aus dem Sinn! So behauptete der und jener, und in der Gesellschaft flüsterte man, Lästerer sprächen aus Erfahrung.
Daß ihre Beziehungen zu dem Fürsten keine guten waren, lag übrigens aus der Hand – sie das ganze Jahr in Wien, er in Paris! Daß er alle heiligen Zeiten einmal für zwei oder drei Tage zu Besuch kam und daß sie ein paarmal im Jahre nach der Seine-Metropole fuhr, änderte wenig daran.
Ehe der Legationssekretär in die Straße und zu seinem Wagen trat, knöpfte er den Pelz über der Brust fest zu und fühlte an seine rechte Innentasche, in der er die Schriftstücke geborgen, die er seinem obersten Chef, dem Minister des Aeußern, zu überbringen hatte. Sie befanden sich an ihrem Platze.
Dann bestieg er den Wagen, um im Hotel seine Reisetasche abzuholen und von dort nach dem Anhalter Bahnhofe weiterzufahren.
Als er den Wartesaal erster Klasse betrat, fehlten noch fünf Minuten zu elf. Außer der Orlowski war keine Seele anwesend. Sie lehnte mit geschlossenen Augen in einem der samtenen Armstühle.
War sie nicht ausfallend blaß? – Der Schein der Gasflammen, der direkt auf ihr Gesicht fiel, konnte indessen täuschen.
Beim Klang seiner Tritte schlug sie die Augen auf. Ein trüber Schleier stand darin.
»Schon so zeitig?« fragte sie, die Hand ausstreckend.
»Dis Furcht vorm Zuspätkommen – ich wäre untröstlich gewesen!«
»Ohne Ursache, ich wäre eben allein gefahren.«
Hartens war betroffen und geärgert, Uebelbefinden oder Laune?
Er wußte nicht. Wer kennt die Weiber jemals aus?
»Fürstin sind verstimmt?« fragte er.
»Ein wenig, wie immer vor Antritt einer längeren Bahnfahrt.«
»O!«
Er wollte wissen, woher das komme, ob das Fahren im Zuge ihr Uebelbefinden verursachte und was derlei mehr war. – Nein, sie ertrug das Reisen vorzüglich, liebte es auch. Ueber die Ursache der voraufgehenden Verstimmung war sie selbst sich nicht klar.
»Eine Eigenheit schöner Frauen!« versetzte er lächelnd und bat um Erlaubnis, eine kleine Besorgung zu machen.
Als er nach zehn Minuten wiederkam, trug er einen weißen Dütensack in der Hand, und aus einer Seitentasche seines Platzes schaute eine rosenfarbene Bonbon-Hülle heraus. Die Fürstin liebte Süßigkeiten sehr, und Hartens hatte sich am Büfett des Restaurants reichlich damit versorgt.
»Wie nett, daß Sie an meine Naschkatzen-Neigungen gedacht haben, Graf Hartens!« sagte sie, als er die Bonbonhülse in ihre Hand legte.
Sie sagte es heiter, scherzend, der Ausdruck der Augen widersprach indessen dem Stimmton.
Im gleichen Augenblick wurden die Reisenden abgerufen, die in der Richtung Dresden fuhren.
Der Zug war nur mäßig besetzt, und es gelang dem Legationssekretär, ein leeres Abteil zu entdecken. Als sie eingetreten waren, zog er die Tür sorglich zu.
Wie ein inneres Kämpfen ging es durch die Züge der Orlowski, als sie den Hut abnahm. Dann wendete sie sich hastig zu Hartens und sagte: »Sollten wir nicht allein bleiben, so nehmen Sie sich zusammen, auch im Sprechen. Der anonyme Brief beunruhigt mich, ich bin überzeugt, er ist eine Falle, die man Ihnen stellt.«
Der Legationssekretär schaute sie verwundert an.
»Wer soll mir eine Falle stellen, ich bitte Sie, Fürstin!?«
»Gibt es nicht schlechte Menschen genug, besonders in Weltstädten?«
»Ich bin aber doch ganz unbekannt in Berlin –«
»Was tut das? Wer kennt alle Zusammenhänge? – Ich wiederhole – seien Sie auf der Hut!«
Dis Fürstin litt offenbar an fixen Ideen!
Uebrigens kein Wunder bei einer so langen Strohwitwenschaft in noch jungen Jahren! Sie konnte höchstens acht- bis neunundzwanzig Jahre zählen.
»Beruhigen Sie sich Fürstin, Augen und Ohren halte ich stets offen, und im Reden bin ich auch äußerst vorsichtig. Uebrigens postiere ich mich als Vogelscheuche an die Tür, um fortzuschrecken, was hier nichts zu tun hat«, scherzte Hartens, während seine Reisegefährtin ihre dicken aschblonden Flechten ordnete, die wie ein Diadem aufgesteckt waren.
Er stand aber ohne Erfolg Wache.
Der Zug hatte sich gerade in Bewegung gesetzt, als ein Herr von sechs- bis achtunddreißig Jahren, dicht eingeknöpft in einen langen, flockigen Reisemantel, vor der Tür erschien, sie öffnete und eintrat.
Ein kurzer, steifer Gruß, und der Eindringling, der einen schwarzen Vollbart trug, wählte seinen Platz in der anderen Fensterecke. Von seinen Mitreisenden nahm er weiter keine Notiz.
Der Legationssekretär warf Lisaweta einen Blick ärgerlicher Enttäuschung zu, den sie durch ein vieldeutiges Achselzucken beantwortete.
Er war wütend, den ganzen Nachmittag hatte er sich, auf ein intimes Geplauder mit der hübschen, eleganten Frau gefreut, und nun verdarb ihm der langbärtige Mensch mit der breiten Nase und dem Gesichtsschnitt eines Raven das Spiel. Sitzt ein dritter daneben, so läßt sich 's nur über die alltäglichsten Dinge plaudern. Auch Lisaweta machte einen sehr verstimmten Eindruck.
Das tröstete den Grafen einigermaßen, schmeichelte seiner Eitelkeit. –
Der Zug eilte mit nur seltenen Unterbrechungen weiter und weiter durch die sternenhelle Nacht.
In dem Abteil erster Klasse war es ziemlich still. Die Orlowski und der Legationssekretär tauschten nur ab und zu ein paar gleichgültige Worte. Schweigsam, verdrossen lehnte sie in ihrer, lehnte er in seiner Ecke. Er enthielt sich des Schlummers aus Artigkeit, sie schien sich für den Herrn in der anderen Ecke zu interessieren, wenigstens beobachtete er mehrmals, wie sie einen forschenden Blick zu ihm hinübergleiten ließ.
»Möchte wissen, was an diesem Burschen sie anzieht? Er ist weder eine schöne, noch eine sympathische Erscheinung. – Vielleicht seine Gleichgültigkeit. Er hat noch nicht einmal nach ihr gesehen«, dachte Hartens, dessen ärgerliche Erregung fortbestand.
Diese Fahrt hätte so angenehm sein können, und war so sterbenslangweilig!
Der Fremde, dessen Anwesenheit so störend empfunden wurde, saß unbeweglich, an seinem Platze und starrte unverwandt durchs Fenster.
Als der Zug in die Grenzstation Bodenbach einfuhr und der Schaffner die Türen sämtlicher Abteils öffnete, um die Reisenden zur Zollrevision zu rufen, wies er bloß auf sein Handköfferchen aus echtem Juchtenleder.
»Wenn das alles ist, was Sie an Gepäck mit sich führen, können Sie sitzen bleiben. Das Handgepäck wird im Wagen nachgesehen«, beschied ihn der Beamte.
Der schweigsame Herr nickte und blieb sitzen. Fürstin Lisaweta aber stand auf. Sie hätte noch einen größeren Koffer bei sich, sagte sie, sie müßte in den Revisionssaal.
Hartens hielt sie zurück.
»Geben Sie mir die Schlüssel, Fürstin, ich besorge Ihren Koffer.«
»Nein, nein, lassen Sie lieber mich gehen –«
»Es ist nichts für eine Dame, die Beamten sind mitunter wenig höflich.«
»Ich habe doch nichts Steuerbares. Was ich in Berlin kaufte, geht per Post ab.«
»Tut nichts. – Woran ist Ihr Koffer kenntlich?«
»Er trägt meinen Namenzug mit der Krone.
Graf Hartens nahm ihr das schon bereitgehaltene Schlüsselchen ab und stieg aus.