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8. [7]

Polizeikommissar Dr. Jelbermayer befand sich in seinem Bureau. Der riesige Arbeitstisch, an dem er saß, war mit Aktenbündeln und Papieren belastet, etliche lagen ausgebreitet vor ihm, die Feder neben ihnen, er aber lehnte bequem in seinem weitarmigen Wiener Schreibstuhl, rauchte eine selbstgedrehte Zigarette nach der anderen und – tat nichts. Im Augenblick harrte nichts Dringendes der Erledigung, und die nie ausgehenden Rückstände aufzuarbeiten, wozu er so schön Zeit gehabt hätte, dazu fehlte ihm die Lust. Einmal durfte er sich den Luxus des Nichtstuns während der Amtszeit schon gestatten, er war dennoch einer der fleißigsten Beamten auf dem Sicherheitsbureau.

Es war jedoch kein »süßes Nichtstun«, dem er sich überließ. Sein Kopf arbeitete angestrengter als gewöhnlich, er arbeitete sogar ganz außerordentlich intensiv, nur nicht im Dienste des Staates, noch in dem der Bevölkerung von Wien. Er arbeitete an der Korrektur seines nach seiner Meinung sehr verbesserungsbedürftigen Schicksals.

Herr Jelbermayer war unzufrieden. Nicht erst seit heute, er war es schon lange. In der gegenwärtigen Stunde kam ihm seine Unzufriedenheit nur mit besonderer Schärfe zum Bewußtsein und das lähmte seine Arbeitsfreudigkeit.

Uebrigens hatte er Ursache zur Unzufriedenheit.

Als er vor zehn Jahren als Achtundzwanzigjähriger zum Sicherheitsdienst übergegangen, hatte er diesen Schritt im Vollgefühl seiner besonderen Fähigkeiten getan, die ihn geradezu auf diesen Beruf hinwiesen, ihm eine glänzende Laufbahn in Aussicht stellten.

Bisher hatten sich diese Aussichten jedoch nicht verwirklicht. Er war noch immer Kommissar ohne begründete Hoffnung auf baldige Beförderung, denn das Pech – ein scheußliches, ein unüberwindlich zähes Pech klebte an ihm und ließ ihn nicht los.

Nach der Summe von Scharfsinn, Eifer und Arbeit, die er während dieses Jahrzehntes im Dienste aufgewendet, hätte ihm reichlich ein höherer Posten gebührt. In dieser traurigen Welt wurden aber Fähigkeiten und Leistungen leider weniger gewertet. Nur der greifbare Erfolg galt in ihr, mochte er auch spielend errungen sein und unglücklicherweise litt er gerade daran bedenklichen Mangel. Die Schuld lag nicht an ihm und auch nicht an anderen; weder Vorgesetzte noch Untergebene ließen es an gutem Willen fehlen. Er stand unter einem besonderen Verhängnis.

Sein unmittelbarer Chef, der Polizeirat Meidler, überwies ihm immer wieder versprechende Affären, hier lag aber auch der Punkt, wo sein Pech einsetzte. Wie glänzende Aussichten eine solche Affäre zu eröffnen schien, meistens stellte sich früher oder später heraus, daß der Schein trog, daß es eine recht einfache Sachs war, deren Entwirrung keine sonderlichen Anforderungen an den Kriminalisten stellte oder sie erwies sich als unaufklärbar, trotzte allen Anstrengungen, allem Scharfsinn.

»Hm, hm? Sie haben wirklich ein ganz merkwürdiges, ein ganz miserables Pech, mein lieber Jelbermayer!«

So hatte der Polizeirat selbst gesagt, als er ihm neulich über den Diebstahl bei der Fürstin Orlowski Bericht erstattet hatte.

Uebrigens war er heute noch so unaufgeklärt, wie am Tage der Entdeckung und die Sache drohte ungeachtet ihrer energischen Verfolgung im Sande zu verlaufen, wieder zu einem Fiasko zu werden. Es war einfach scheußlich, und auch ein anderer wäre über ein derartiges Mißgeschick wütend geworden. Was aber Dr. Jelbermayer mehr als alles andere aufbrachte, war die ihm persönlich zur Gewißheit gewordene Ueberzeugung, daß er lediglich an der »Bosheit« der Fürstin scheitern würde. Wenn nicht mehr, ein paar nützliche Fingerzeige hätte sie ihm jedenfalls geben können. Sie kannte den Karamanoff wahrscheinlich sehr genau, denn sie besuchte ihn sogar unter Aufwendung von mancherlei Vorsichtsmaßregeln, ein Beweis, daß sie Beziehungen zu ihm hatte, die der Welt nicht bekannt werden durften.

»Vielleicht auch uns nicht!« ging es dem Kommissar wieder einmal durch den Kopf.

Es war eine merkwürdige Geschichte! – Auch die Dienerschaft wußte nichts von diesen Besuchen bei dem vorgeblichen Gelehrten. Davon hatte er sich bei ihren wiederholten Einvernehmungen überzeugt. Nur für die Russen hätte er nicht einstehen mögen. Die waren ein verlogenes und verschlagenes Pack, aus ihnen ließ sich nichts herausholen – rein nichts. Und sie besaßen der Fürstin vollstes Vertrauen, das ging aus den Angaben ihrer Mitdiener hervor.

Dr. Jelbermayer grübelte weiter und kam schließlich bei dem Bedauern an, daß er damals nicht, wie er bei sich bereits beschlossen, allen schönfärbenden Versicherungen der Orlowski entgegen, unversehens bei Karamanoff angeklopft und Haussuchung gehalten hatte. Das war ein Fehler gewesen.

Wozu hatte sie sich die Polizei ins Haus geholt, wenn sie den Burschen schützen wollte – nur um ihr Bewegung zu machen?

Der Zorn stieg ihm von neuem. Narr, der er war, sich durch das Gerede eines Frauenzimmers so beirren zu lassen!

Freilich, er hatte auch an die Folgen einer etwa ergebnislos verlaufenden Haussuchung gedacht, die ihm unter allen Umständen die Feindschaft der Fürstin eingetragen hätte. – Und wehe dem, der unter den Oberen der obersten Zehntausend einen Feind hat! Zehnmal aber wehe jenem, der in diesen Kreisen eine Feindin besitzt! Adieu, Karriere! So ein Weib unterwühlt ihm den Boden unter den Füßen!

Eine sonderbare Sache, besonders zusammengehalten mit dem Aktendiebstahl im Berlin–Wiener Schnellzug in der Nacht vom neunten auf den zehnten März, der sich unter den Augen der Fürstin vollzogen haben mußte und von dem sie doch nicht das Geringste wahrgenommen haben wollte. – Selbst Meidler bezeichnet das als »höchst unerklärlich!« Der vorsichtige Meidler! – Und dann wieder das gefällige Fieber, das gerade an dem Tage einsetzte, an dem ihr der Polizeirat seinen Besuch machte, und das in eine mehr als vierzehntägige Krankheit überging. –

»Alles zusammen sehr sonderbar und – auch sehr interessant! – Wäre sie keine geborene Reichlingen-Stindorf – wäre sie nicht doppelseitig steinreich – wahrhaftig ich – Aber auch so! – Etwas steckt dahinter, sei's was es sei, etwas, was den hellen Tag scheut wie die Eulen – und eine Liebschaft ist's nicht, denn der Bursche ist häßlich wie die Nacht, davon habe ich mich neulich selbst überzeugt –«

Plötzlich schlug Dr. Jelbermayer die Hand auf seinen Arbeitstisch und brummte, die Worte gleichsam zwischen den Zähnen zerreibend: »Ich lasse nicht locker! – Im Gegenteil, die Geschichte wird noch energischer betrieben, noch umfassender!« –

In den folgenden Stunden fand er keine Zeit mehr, sich mit dieser ihm so sehr am Herzen liegenden Angelegenheit zu befassen. Die Ruhepause war zu Ende. Meldungen liefen ein, Befehle wurden eingeholt, Aktenstücke wurden zur Unterschrift vorgelegt und was derlei zu seinen Amtsobliegenheiten Gehörendes mehr war. Bis gegen sechs Uhr hatte er keine zehn Minuten mehr zu ruhigem Nachdenken, und als ihm der Uhrenschlag den Schluß seiner heutigen Bureaustunden verkündigte, versicherte er seinen Arbeitstisch und rüstete sich für den Heimweg.

Er nahm gerade den Hut vom Kleiderständer, als es bescheiden an seine Tür klopfte, ein jüngerer Mann in blauleinener Arbeitsjacke über alten Militärhosen hereintrat.

Der Kommissar warf einen flüchtigen Blick nach ihm hin, dann fragte er kurz, geärgert durch den Aufenthalt: »Was wollen Sie?«

Bei dieser Frage ging ein Zug innerer Befriedigung über das Gesicht des schüchtern und linkisch auftretenden Mannes. Er richtete sich plötzlich stramm und entgegnete sehr gedämpft: »Dem Herrn Kommissar gehorsamst Bericht erstatten über die Karamanoff-Orlowski-Angelegenheit.«

Die Namen hatte der Mann so schwach ausgesprochen, daß sie kaum zu vernehmen waren, den Kommissar hatte das aber nicht gehindert, jedes Wort zu verstehen.

»Alle Wetter, Hoffmann, ich habe Sie ja gar nicht erkannt, ein so schafsdummes Gesicht haben Sie sich zugelegt!« begrüßte er den Ankömmling und setzte sich, den Hut weglegend, wieder in den Schreibstuhl.

Dann winkte er Hoffmann zu, sich einen der gewöhnlichen Rohrstühle herbeizuholen.

»Haben Sie was neues?« leitete er die Unterredung ein.

»Zu Befehl, Herr Kommissar. – Gestern abend gegen halb acht hat die Fürstin Orlowski die Karamanoffs wieder besucht. Im Fiaker Nr. 939 ist sie am Hause vorgefahren. Sie war ganz einfach schwarz angezogen und hat einen dicht gemusterten schwarzen Spitzenschleier vorm Gesicht getragen, offenbar, um nicht erkannt zu werden.«

»Sie sind aber dennoch sicher, daß es die Fürstin war?« fragte der Kommissar stutzig.

»Vollkommen sicher, Herr Kommissar. Da mir daran lag, einmal einer Unterredung der Orlowski mit Karamanoff beizuwohnen so gut es ging, hatte ich dem Dienstmädchen Kratschwill fünfundzwanzig Kronen versprochen, wenn sie mich das nächstemal, daß die Fürstin kommen würde, in die Wohnung einließ und mich in der Rumpelkammer verstecken würde, die sich der Wohnzimmertür gerade gegenüber befindet. Es ist ein enges, fensterloses Gelaß, in dem alte Kleider und allerlei Gerümpel untergebracht sind. Es wird fast nie geöffnet, wodurch es ein verhältnismäßig sicheres Versteck bot, und da es, wie das Mädchen sagte, während der Anwesenheit der nobeln Dame oft sehr laut hergehen sollte, hatte ich begründete Hoffnung, dies oder das zu erlauschen.« –

»Und diese Hoffnung hat sich verwirklicht?« unterbrach der ungeduldige Jelbermayer seinen Untergebenen.

»Zu dienen, Herr Kommissar. – Als ich hinter die alten Kleider gekrochen war, die Tür aber etwa halb handbreit offenstehen ließ, war zunächst nicht mehr zu vernehmen als ein Stimmengemurmel, das allmählich lauter und gereizter klang, aber noch unverständlich blieb. Alles, was ich zu unterscheiden vermochte, war, daß man sich in französischer Sprache unterhielt, der ich glücklicherweise ebenso mächtig bin wie der deutschen. Mit der steigenden Erregung wurde die Unterredung im Zimmer immer lauter, heftiger; ich verstand einzelne Worte, dann halbe Sätze.«

Hier machte Hoffmann eins Pause, um sein Notizbuch aus der Tasche zu ziehen, in dem er ein mit Kurzschrift bedecktes Blatt aufschlug.

»Wenn ich bitten darf, Herr Kommissar,« sagte er. »Was ich zu hören bekam, ist nachfolgendes: Die Orlowski: »Ueberlegen Sie sich meinen Vorschlag. Ein vorteilhafteres Angebot – Und merken sie sich, Iwan Feodorowitsch, daß ich in derlei Dingen nicht so willfährig bin wie – –« Karamanoff: »Wie oft muß ich noch sagen, daß wir uns durch den sogenannten Vertrag nicht gebunden fühlen.« – Die Orlowski: »Ich gehe keinen Schritt mehr über die festgelegten Verbindlichkeiten – meine Geduld ist zu Ende – Vergehungen – Ehrlosigkeiten – kein zweitesmal mehr.« – Karamanoff: »– bitter bereuen, Sie wissen, was Ihrer wartet –« – Die Orlowski: »– gemeine Verbrechen zu unterstützen –« Karamanoff! »Schlagworte, bestimmt zu blenden – wir haben Sie in der Hand, Maria Lisaweta, nicht Sie uns.« – Die Orlowski: und der Agent machte eine Handbewegung, die sagte: »das ist alles!« –

Laut aber äußerte er: »Bei dem Russen trat ein heftiger Hustenanfall ein, und gleich danach verließ die Fürstin die Wohnung.«

»Schade, daß Sie nicht mehr gehört haben!« sagte Jelbermayer, »denn in ihrer Vollständigkeit hätte diese Unterhaltung zweifellos ein hochinteressantes Bild gegeben.«

Hoffmann warf den Kopf zurück. Es lag etwas Gedrücktes in dieser Bewegung.

»Wäre es möglich gewesen, so hätte ich dieses Bild gebracht, Herr Kommissar. Gescheut habe ich nichts, habe bis 7 Uhr morgens in der dicken, moderigen Luft der Rumpelkammer ausgehalten, da Karamanoff, wahrscheinlich infolge der Aufregung, sehr krank wurde und die ganze Nacht kein Mensch im Hause zur Ruhe kam,« antwortete er.

»Daß Sie Ihr bestes getan haben, weiß ich, mein Lieber, und was ich sagte, sollte auch kein Vorwurf sein. Uebrigens sind die Bruchstücke, die Sie mir gebracht haben, ganz nett und sagen sie auch nicht gerade, was zwischen den beiden Herrschaften vorgeht, so doch, daß etwas vorgeht und zwar etwas, was der Frau Fürstin vermutlich nicht zur besonderen Ehre gereichen dürfte,« sagte der Kommissar mit einem Hauch von Genugtuung. Er hatte noch nicht vergessen, daß sie Karamanoff in der Juwelenaffäre gedeckt hatte.

Des Agenten Bericht hatte ihn vergnüglich gestimmt, denn er eröffnete ihm neue Perspektiven. Sie waren zwar noch nebelhaft, aber doch schon lockend.

Hoffmann nickte.

»Ich hab's auch gedacht, Herr Kommissar, daß da was dahinter steckt, was nicht ganz sauber ist. 's Dahinterkommen wird aber seine Schwierigkeiten haben, denn die halten alle zusammen wie die Kletten und von einer Vorsicht sind sie – von einer Vorsicht, daß man's anfangen kann wie man will, man bringt aus keinem was heraus.«

»Ist es sicher, daß Karamanoffs Dienstmädchen gar nichts weiß und zu keinerlei Beobachtungen Gelegenheit hat?« erkundigte sich Dr. Jelbermayer, wieder auf diesen schon öfter zur Sprache gebrachten Punkt zurückkommend.

»Ich habe keinen Grund, der Kratschwill zu mißtrauen. Bei Karamanoffs wird immer russisch gesprochen, nur russisch, und das arme Mädchen darf ja nicht heraus aus ihrer kleinen Küche.«

»Und mit dem Woritzky ist auch kein Vorwärtskommen?«

»Nein, Herr Kommissar, ich muß zu meiner Schande gestehen, daß ich noch nicht soviel aus ihm herausgebracht habe. Dreimal schon habe ich die Nacht mit ihm durchgezecht, mehr als zwanzig Kronen daran gewendet, aber rein für nix! Schnaps trinkt er nicht, Wein und Bier werden mit ihm nicht fertig. Der ist ausgepicht wie ein altes Faß!«

»Tut nichts, Hoffmann. Zehnmal hält er stand, das elftemal glückt's.«

»Glaub's nicht, Herr Kommissar.«

»Kann ja sein, daß er nichts verrät, er kann aber dies und jenes ausplaudern, wenn er tüchtig getrunken hat. Verschnappt hat sich einer gleich, ist er stark angeheitert. Darum – weitermachen. Die Auslagen werden Ihnen ja vergütet,« beharrte Dr. Jelbermayer.

»Wie der Herr Kommissar befehlen.«

»Sonst gibt's nichts neues?«

»Doch, Herr Kommissar. – Wir sind nicht mehr die einzigen, die den Karamanoff und seine Freunde überwachen –«

»Was –?« und Jelbermayer beugte sich weit vor, die Hände auf den Armlehnen des Stuhles.

»Ich war auch ganz baff, Herr Kommissar, wie ich dahinter gekommen bin.«

»Aber das ist ja wunderbar!«

»Aber Tatsache, Herr Kommissar! Ich habe mich davon überzeugt. Zwei Leute vom Detektivinstitut Prossl widmen den Herren Russen dieselbe herzliche Liebe wie wir, und von übermorgen an werden sich sogar noch zwei weitere Leute ihrem Dienste widmen! Einen davon, den Prohaska, kenne ich gut, und weil wir uns doch kein X für ein U vormachen können, wenn wir in denselben Gründen jagen, hat er Farbe bekannt.«

Dr. Jelbermayer war für Augenblicke sprachlos. In seiner Praxis war ihm etwas Aehnliches noch nicht vorgekommen.

»Und wer ist der Auftraggeber?« fragte er dann.

»Die Agenten haben keine Ahnung davon, sie kommen mit ihm in keine Berührung, erhalten ihre Anweisungen von Prossl und erstatten ihm über ihre Beobachtungen und Erkundigungen Bericht, den er wahrscheinlich persönlich an den Auftraggeber weiter gibt. Dieser interessiert sich aber jedenfalls ungemein für Karamanoff und seine Intimen, denn die Ueberwachung kostet wenigstens zwanzig Kronen pro Tag und Mann, gegenwärtig also vierzig täglich und von übermorgen ab, wird es sogar täglich achtzig Kronen kosten, ohne die verschiedenen drum und dran, die sich gewöhnlich auch auf ein Erkleckliches belaufen. Der Prossl ist überhaupt einer, der 's Rechnungen schreiben aus'm ff versteht. Die Sache muß also von jemand ausgehen, der die Hunderter nicht anzuschauen braucht, ehe er sie fliegen läßt.«

»Das ist richtig. Wie lange dauert die Ueberwachung schon?«

»Acht bis neun Tage.«

»Warum haben Sie bisher kein Wort davon gesagt, Hoffmann?«

»Weil ich meinen eigenen Augen nicht getraut habe, Herr Kommissar, und keine falschen Meldungen machen wollte«, antwortete der Agent.

Jelbermayer war aufgestanden und ging, die Hände auf den Rücken gelegt, mit weiten Schritten in seinem Bureau auf und ab.

»Was der Agent ihm erzählt, klang beinahe märchenhaft in seiner Unglaublichkeit, rückte die ganze Sache, rückte Karamanoffs Person in ein anderes, jedenfalls auch viel bedeutungsvolleres Licht. Was er aber daraus machen sollte, wußte er nicht, in seinem Kopfe herrschte vorläufig noch tiefes Dunkel, ebensowenig, ob das Auftreten der Privatdetektive als ein günstiger oder als ein ungünstiger Umstand zu betrachten wäre.

Endlich blieb er vor Hoffmann stehen, der sich gleichfalls erhoben hatte, und sagte: »Ihr heutiger Bericht enthält zwar nicht viel Bestimmtes, durchaus Klares, ich bin aber für's erste dennoch zufrieden mit dem Ergebnis Ihrer bisherigen Tätigkeit. Es scheint wenigstens so, als ob wir den Anfang vom Ende in die Hand bekommen hätten, vielleicht den Ariadnefaden, an dem wir uns bei ausdauerndem Eifer durch's Labyrinth tasten können. – – Machen Sie so weiter, strengen Sie alle Ihre Kräfte aufs äußerste an. Geht diese Sache befriedigend aus, so werde ich Sie zur Beförderung empfehlen.«

Der Agent verbeugte sich erfreut.

»Was menschenmöglich ist, tue ich, Herr Kommissar. An mir wird's nicht liegen, wenn die Schliche des Karamanoff unaufgedeckt bleiben. Was mir aber zu einem ordentlichen Erfolg fehlt, Herr Kommissar, ist noch ein zweiter Mann. Beschäftige ich mich mit Karamanoff, so können die anderen Gott weiß was treiben und umgekehrt«, sagte er.

Jelbermayer nickte.

Ich werde mit dem Herrn Polizeirat darüber sprechen und Ihnen, gibt er dir Genehmigung, den Jordan beigeben. Erinnere ich mich recht, so haben Sie schon öfter mit ihm zusammengearbeitet?«

»Jawohl, Herr Kommissar, und mit dem besten Erfolg. Er ist ein sehr tüchtiger Mensch, und einen solchen brauche ich in diesem Fall. Haben der Herr Kommissar mir Befehle zu erteilen?« fragte Hoffmann und nahm seine Kappe vom Stuhl.

»Nein. Kommen Sie morgen um die gleiche Zeit wieder.«

»Zu Befehl, Herr Kommissar.«

Er hatte schon die Türklinke in der Hand, als Jelbermayer ihn zurückrief.

»Sie haben auch noch nicht herausgebracht, wo der Michael Lenowostowoi sich in der Zeit vom 5. bis 12. März aufhielt?« fragte er.

»Nein, Herr Kommissar, der Woritzky läßt sich auch hierauf nicht ein, und die Leute im Hause wissen nichts. Daß die Zimmerfrau des Lenowostowoi am Morgen des 12. März eine tags zuvor in Laibach aufgegebene Postkarte bekam, worin er ihr seine Rückkehr anzeigte, habe ich dem Herrn Kommissar bereits gemeldet.«

Jelbermayer nickte. Dann sagte er mit einer entlassenden Handbewegung: »Na, also auf morgen.«

Ein paar Minuten später verließ er sein Bureau, doch nicht, um den Heimweg anzutreten. Er stieg eine Treppe höher und klopfte oben an eine Tür, die Polizeirat Meidlers Karte trug.

Eine Einladung zum Eintreten kam nicht, aber die Tür wurde aufgemacht, und vor Jelbermayer stand eine ältliche Frau im aufgeschürzten Rock, einen Besen in der Hand. Der Herr Polizeirat wäre schon vor einer Viertelstunde fortgegangen, sagte sie.

Verdrießlich trabte der Kommissar davon und aus dem Amtsgebäude.

Zu ärgerlich, daß er den Meidler nicht mehr getroffen hatte! Morgen war Sitzung und er den ganzen Vormittag nicht zu haben, nachmittags aber kam er selten vor drei Uhr aufs Bureau. So ging die schöne Zeit ungenützt hin, und Hoffmanns Bericht von soeben hatte in ihm die sehr ausgeprägte Empfindung ausgelöst, daß rasches und umfassendes Handeln geboten wäre.

Eins nämlich ging mit der wünschenswertesten Klarheit und Bestimmtheit aus diesem Bericht hervor: Die Beziehungen der Fürstin Orlowski zu Iwan Feodorowitsch Karamanoff waren, wie er es von allem Anfang vermutete, sehr verwickelter Natur. Wir haben Sie in der Hand, nicht Sie uns,« hatte er zu ihr gesagt. Was bewies das? Daß die Fürstin ihn zu fürchten hatte! Aus den übrigen von Hoffmann aufgefangenen Bruchstücken ihrer Unterredung ging mit ebensolcher Klarheit noch hervor, daß sie sich Karamanoff und noch anderen gegenüber zu bestimmten Leistungen verpflichtet hatte, wie auch, daß sie von ihm über die durch Vertrag gezogene Grenze gedrängt worden war und daß sie sich für die Zukunft dagegen verwehren wollte, was seinerseits wieder durch eine Drohung beantwortet wurde.

Worin aber bestanden die Leistungen, zu denen sie sich verpflichtet hatte – worin jene, zu denen sie gedrängt worden war!

Dr. Jelbermayer konnte sich diese Fragen nur durch ein Achselzucken beantworten. Mit Bruchstücken einer Unterredung, deren Gegenstand man nicht einmal kannte, war eben nicht viel anzufangen.

Und dennoch ließ es ihm keine Ruhe. Im Weiterschlendern durch die Gassen schlug er diese Bruchstücke in seinem Notizbuch auf und überlas sie mit einer Art Andacht.

»Vergehungen – Ehre. Kein zweitesmal mehr – gemeine Verbrechen zu unterstützen –«

Vielsagende Worte! – Nur fehlte der Zusammenhang. – Und nahm man die übrigen Bruchstücke ihrer Aeußerungen – nahm man noch Karamanoffs Antworten dazu, soweit der Agent sie verstanden hatte, so wurden diese Worte noch vielsagender. Ja, sie gewannen selbst eine gewisse Durchsichtigkeit!

»Hm – hm!« –

Dazu die Angaben, die die Kratschwill, das Karamanoffsche Dienstmädchen, neulich dem Hoffmann gemacht: Daß es bei den Besuchen »der noblen jungen Dame« oft »sehr laut hergehe drinnen im Zimmer«, daß ihre Herrschaft nicht viel »Federlesen« mit der Dame machte, der »Herr« schon gar nicht, und daß diese gewöhnlich sehr aufgeregt und zornig wäre beim Fortgehen. – Der Herr, das wäre überhaupt einer, mit dem sich's nicht gut Kirschen essen ließ! Sogar seine Schwester brüllte er grob an, und sie trüge ihn doch auf den Händen! Nur mit dem Herrn Tschatschitsch ging er immer um, als ob er »von Zucker« wäre.

Diese Erzählung der Magd, zusammengehalten mit den Gesprächs-Bruchstücken von gestern – zusammengehalten mit Fürstin Orlowskis Bemühen in der Diebstahlsgeschichte, deren Schauplatz ihr eigenes Haus war, jeden Verdacht von diesem Karamanoff abzulenken – zusammengehalten mit ihrer Behauptung: sie hätte von der in ihrem Beisein erfolgten Entwertung der Botschaftsnote nichts wahrgenommen – hm, hm, – das gab immerhin schon ein grob umrissenes Bild!

Zwar erkannte man noch nicht, was es geben sollte – aber einiges ließ sich wenigstens so ungefähr erraten.

»Hm! – Hm! – Ein sehr interessanter Fall!«

Wäre sie keine geborene Reichlingen-Stindorf, so würde er sagen: »Sie selbst hat die Aktensäcke in Graf Hartens Pelz vertauscht!« – Hm! – Hm! – Aber selbst so! – Selbst so! –

Um Geld handelte es sich natürlich nicht, das war außer Frage – in das menschliche Leben spielt aber allerlei hinein, und vornehme Geburt, sorgfältigste Erziehung und Reichtum sind nicht immer eine absolute Schutzwehr gegen schlimme Neigungen und gegen Ausschreitungen aller Art!

Keinesfalls durften die Winke und Mahnungen, die in Hoffmanns bisherigen Erkundigungen lagen, achtlos übergangen werden. Es war Pflicht, sie aufzunehmen und energisch, mit zäher Ausdauer zu verfolgen – seine Pflicht und die Meidlers!

Ob er ihn wohl in seiner Privatwohnung aufsuchen sollte?

Es konnte zwar mißlich werden, denn nicht jeder liebt es, mit dienstlichen Angelegenheiten bis in den Frieden seines Hauses verfolgt zu werden. Andererseits wieder drängte die Sache weit mehr zu einem raschen Vorgehen als es auf den ersten Blick den Anschein hatte. Karamanoffs merkwürdige doppelte Ueberwachung konnte allerlei unvorhergesehene Verwicklungen herbeiführen, sie konnte selbst die Bemühungen der Polizei zuschanden machen.

Als Dr. Jelbermayer die nächste Haltestelle der Straßenbahn erreichte, ließ er alle Wagen an sich vorübergehen, bis ein nach der Landstraße bestimmter kam. Kurz entschlossen sprang er auf – er wollte es wagen!

Polizeirat Meidler war ein schon älterer, sehr freundlicher Herr, der weder Mißstimmung noch jene peinliche Ueberraschung über den Besuch des Kommissars zu erkennen gab, die dem Eindringling deutlicher als Worte sagt, daß er stört.

Er begrüßte ihn vielmehr mit einem freundlichen Händedruck und der Frage: »Was bringen Sie Gutes, lieber Jelbermayer?«

Erfreut über die Aufnahme, die er fand, erwiderte er mit frohem Eifer: »Leider bei weitem nicht so viel, als ich wünschte, Herr Polizeirat, immerhin aber etwas ganz Beachtenswertes, was bei sofortiger energischer Weiterverfolgung einiges Licht verbreiten dürfte über den Juwelendiebstahl bei der Fürstin Orlowski – und vielleicht auch über den Schriftendiebstahl.«

»Oh! – Wirklich?« rief der Vorgesetzte plötzlich lebhaft interessiert.

Die Aufklärung der Nachtschnellzugs-Äffäre Berlin–Wien lag dem Polizeirat ganz besonders an, denn sie wurde an hoher Stelle dringend gewünscht, und es galt, auch eine Scharte auszuwetzen. Die intime Kenntnis, die man seit einigen Jahren in St. Petersburg über alle Vorgänge auf dem Ballplatze besaß, wies auf eine sehr rege und auch sehr ausgedehnte Spionentätigkeit hin, der Polizei aber war es bis heute noch nicht gelungen, nur einen der jedenfalls sehr fein verknüpften Fäden zu entdecken, obwohl sie es an den äußersten Anstrengungen nicht hatte fehlen lassen.

Dr. Jelbermayer trat sofort in einen ausführlichen Bericht über des Agenten Hoffmann letzte Erkundigungen ein und verlas die Bruchstücke aus Fürstin Lisawetas gestriger Unterredung mit Karamanoff.

Als er sein Notizbuch zuklappte, sagte der Polizeirat: »Ich gratuliere, lieber Jelbermayer, diesmal scheint Ihr horrendes Pech von Ihnen abzulassen. Was Sie mir gebracht haben, ist viel Gutes, es bietet uns einen sicheren Standort, von dem wir unsere Späher nach den verschiedensten Richtungen können ausschwärmen lassen. Fatal ist nur, daß die Fürstin Orlowski in den Aktendiebstahl schwer verwickelt erscheint, und daß eine dunkle Stelle in ihrem Leben das Band sein dürfte, daß sie an Karamanoff bindet, der mir – das nebenbei – ein Erzgauner zu sein scheint.«

»Dafür hatte auch ich ihn, Herr Polizeirat. Die Beteiligung der Fürstin macht den Fall aber nur um so interessanter.«

»Jawohl, und wären wir nicht gezwungen, uns eingehender – ja sehr eingehend mit ihr zu beschäftigen, so hätte auch ich durchaus nichts dagegen. Aber so –! Die Reichlingen sind eine der ältesten, der reichsten und angesehensten Familien des österreichischen Uradels, der Vater der Fürstin war k. k. Kämmerer, Ehrenritter des Malteser-Ordens und was weiß ich sonst noch, ihr Onkel Reichlingen ist ebenfalls alles das und obendrein noch Feldzeugmeister und Wirklicher Geheimrat! Die Orlowski selbst endlich ist eine der beliebtesten, eine der meistausgezeichneten Damen der Hofgesellschaft. Polizeiliche Maßnahmen gegen eine solche Persönlichkeit aber sind ein mißlich Ding und können unsereinem übel bekommen, sollte nichts oder nicht viel dabei herauskommen. Das wissen Sie so gut wie ich, Herr Kommissar.«

Dr. Jelbermayer nickte.

»Allerdings, Herr Polizeirat. Man kann in derartigen Fällen nicht vorsichtig genug sein. Vorläufig ist jedoch nichts weiter nötig, als eine zwar intensive, doch äußerst diskrete Ueberwachung der Fürstin durch hervorragend geeignete Leute, und das erscheint mir nicht bedenklich. Das Weitere kann ja so wie so erst nach den Ergebnissen der Ueberwachung bestimmt werden,« sagte Jelbermayer.

»Sehr richtig. Immerhin werde ich auch diese Ueberwachung nur im Einvernehmen und mit Genehmigung des Herrn Polizeidirektors verfügen. Voraussichtlich habe ich morgen mittag Gelegenheit, mit ihm Rücksprache zu nehmen und werde Sie dann zu mir bitten lassen.«

Jelbermayer verneigte sich.

Er war sehr unzufrieden mit diesem Entscheid seines Vorgesetzten, der ihm für wenigstens vierundzwanzig Stunden die Hände band. Er hätte Lisawetas Ueberwachung am liebsten sogleich eingeleitet und hätte den hierzu erforderlichen Maßnahmen mit Vergnügen seinen Abend gewidmet. Ueberhaupt lag es nicht an ihm, daß sie nicht schon seit ihrer Vernehmung über den Aktendiebstahl überwacht wurde.

Der Polizeirat mochte die Unzufriedenheit des Kommissars erkennen oder doch erraten, denn nachdem er seinen ergrauenden Schnurrbart mit etlichen wirbelnden Strichen bedacht hatte, sagte er liebenswürdig: »Was die gewünschte Unterstützung für Hoffmann betrifft, lieber Jelbermayer, so bitte ich, ihm soviel Leute zuzuweisen, als Sie für zweckmäßig erachten. Auch ich bin dafür, daß man auf die Intimen des Karamanoff ein so scharfes Auge hat, wie auf ihn selbst. Ist er wirklich der Dieb der Orlowskischen Juwelen, wie auch ich annehme, so dürfte der eine oder der andere irgendwie bei der Sache mitspielen.«

»Und wohl nicht nur bei dieser, Herr Polizeirat, ich vermute, daß einer der Russen wahrscheinlich der angebliche Literat Michael Lenowostowoi, der »Herr mit dem schwarzen Vollbart« ist, der die diplomatische Note entwendete, die dem Grafen Hartens zur Beförderung nach Wien anvertraut war –«

Meidler zeigte Spuren einer erwachenden Nervosität.

»Haben Sie Anhaltspunkte, auf die sich diese Annahme stützt?« fragte er hastig.

»Mehr als einen, Herr Polizeirat. Lenowostowoi war, wie ich schon seit Tagen weiß, in der Zeit vom 5. bis zum Abend des 12. März abwesend von Wien, ohne daß man wüßte, wo er sich während dieser Zeit aufgehalten hat,« antwortete er und berichtete von der Postkarte aus Laibach, die des Russen Zimmerwirtin am Morgen des 12. erhalten hatte.

»Das beweist freilich noch nichts,« setzte er hinzu. »Nimmt man aber das hinzu, was Hoffmann gestern, dank der Unvorsichtigkeit der Fürstin und des Karamanoff, erlauschte, so gewinnt diese Abwesenheit eine gewisse Bedeutung. Um so mehr, als ja festgestellt ist, daß der Herr mit dem schwarzen Vollbarte nach der Ankunft in Wien direkt vom Nordwestbahnhof nach dem Westbahnhof fuhr und dort eine Fahrkarte erster Klasse nach Salzburg löste und auch wirklich dorthin gefahren ist –«

»Das ist leider nicht so ganz fraglos, mein lieber Jelbermayer,« wendete der Polizeirat lächelnd ein.

»Gewiß, Herr Polizeirat, beweisen läßt sich's nicht, wenigstens vorläufig noch nicht, wir dürfen, es aber doch wohl als erwiesen voraussetzen, denn die Angaben, die der Bahnkondukteur Hüttelbauer über seinen einzigen Reisenden erster Klasse machte, sind von einer Präzision, die nichts zu wünschen übrig läßt und die Schilderung, die er von diesem Manne gegeben, deckt sich bis aufs Haar mit der des Grafen Hartens, der Fürstin Orlowski, des Eisenbahnkondukteurs Wagner vom Berlin–Wiener Nachtschnellzug und der des Chauffeurs Gnininger, der den Reisenden in seinem Auto von einem Bahnhofe zum anderen gefahren hat.

In Salzburg hat der Kondukteur Hüttelbauer seinen Reisenden aus der Ersten zufällig in den Speisesaal des Bahnhofsrestaurants treten sehen, der Kellner Vogelsang glaubt sich seiner zu erinnern wegen des splendiden Trinkgeldes – und damit Schluß. Die Umfragen in den Hotels und den sonstigen Unterkunftsstätten der Stadt haben kein Ergebnis gehabt, weder Portiers noch Kellner, noch Stubenmädchen und Hausknechte wissen sich zu erinnern, daß am Abend des 10. März ein Logiergast bei ihnen angekommen wäre, auf den die uns vorliegende Personalbeschreibung des mutmaßlichen Diebes paßte. Daraus läßt sich aber, wie auch der Herr Polizeirat getan haben, die Folgerung ziehen, daß der Schwarzbärtige nicht in Salzburg übernachtet hat, sondern mit einem der nächsten Züge wieder abgefahren ist.

Ich nehme nun an, da er über Innsbruck und Franzensfeste nach Laibach weiterfuhr und die bewußte Postkarte an seine Zimmerfrau unmittelbar nach seiner Ankunft dortselbst auf die Post gegeben hat. Ein Schachzug, bestimmt, jeden möglichen Verdacht von ihm fernzuhalten, und auch kein übel erdachter. Es ist schon das Zusammenwirken verschiedener Umstände erforderlich, damit man dahin kommt, in einem Mann, der am 11. März vormittags in Laibach eine Karte aufgab denselben zu vermuten, der in der Nacht vom 9. auf den 10. im Schnellzuge Berlin–Wien einen Diebstahl beging. –«

Meidler nickte, der Kommissar fuhr nach einem kräftigen Atemzuge fort: »Solche Umstände sind sehr reichlich vorhanden. Erstens der, daß die Orlowski während ihres Alleinseins mit dem Vollbärtigen auf der Station Bodenbach gar nichts Verdächtiges oder nur Auffallendes in seinem Verhalten bemerkt, daß sie nicht einmal wahrgenommen haben will, daß er sich an dem Pelze des Legationssekretärs zu schaffen gemacht hat, obgleich dieses Kleidungsstück ihr gegenüber auf einem der Sitze lag.

Zweitens, daß die Fürstin alles aufbietet, um jeden Verdacht von Karamanoff wegen Entwendung ihres sehr wertvollen Schmuckes fernzuhalten, trotzdem alles darauf hinweist, daß er und kein anderer der Dieb ist.

Drittens, daß die Fürstin, wie sie es auch am Tage ihrer Abreise nach Berlin getan, fast allemal, wenn Karamanoff bei ihr ist, an ihren Kassenschrank geht und offenbar etwas herausholt. Ihres Kammerdieners sehr bestimmte Angaben lassen keinen Zweifel hieran zu.

Viertens, daß Graf Hartens durch einen anonymen Brief zu einer ganz bestimmten Zeit an den Taschnerladen Unter den Linden gelockt wurde, den zur gleichen Zeit die Orlowski besuchte, von deren Anwesenheit in Berlin der Legationssekretär keine Ahnung hatte.

Fünftens, daß die Fürstin schon wenige Stunden nach ihrer Rückkehr von Berlin den Karamanoff besuchte, wobei es nach der Erzählung des Dienstmädchens Kratschwill zeitweise sehr laut zuging. Was diesen Besuch noch auffallender macht, ist, daß ihm kurz zuvor die Entdeckung vorhergegangen war, daß die beiden Schmuckstücke im Werte von mindestens 50 000 Kronen fehlten. Das ist doch nichts weniger als geeignet, die Verlustträgerin in Besuchslaune zu versetzen.

Sechstens die Erkrankung der Orlowski am zweiten Tage nach ihrer Rückkehr aus Berlin, die der Arzt als die Folge einer schweren Nervenerschütterung bezeichnete, und die fleißigen Anfragen Sergej Tschatschitsch's nach ihrem Befinden. Und dieser Freund des Karamanoff, der übrigens ab und zu auch zur Fürstin kam und stets von ihr empfangen wurde, begnügte sich nicht mit dem Bescheid, den er an ihrer Tür erhielt, er fragt noch den Portier aus, auch über Dinge, die mit ihrem Zustand nichts zu schaffen hatten.

Siebentes die schweren Geldsendungen, die Karamanoff von Zeit zu Zeit einem Ingenieur Richard de Wahl in Genf zugehen läßt, und seine häufigen Besuche bei der Anglobank, durch die er gleichfalls an diesen de Wahl hohe Beträge schickt. Er selbst aber erhält nur bescheidene Beträge aus Rußland, die vierteljährlich einlaufen und die Früchte seiner schriftstellerischen Tätigkeit sind. Woher also nimmt er all das Geld, das nach Genf abfließt? – Alles leitet zu der Vermutung, daß er sich die Fürstin tributär gemacht hat.

Endlich und hauptsächlich die Erklärungen, die sie ihm gestern gegeben hat.«

»Ich behaupte keineswegs, daß Sie unrecht haben, Kommissar. Das Gesamtbild – hm, hm. – Sehen Sie, was die Sache so heikel macht, ist der tadellose Ruf der Orlowski. –«

»Man spricht von einer starken Neigung zum Flirt,« bemerkte der Polizeikommissar dazwischen.

»Das ist weiter kein Wunder. Denken Sie an die jahrelange Vernachlässigung durch den Fürsten, eine so reizende junge Frau!«

Meidler wirbelte ununterbrochen seinen Schnurrbart. Er war sehr nervös. So dringend er die Entwirrung des Schriftendiebstahls wünschte, dadurch, daß die Fürstin Orlowski hineinverwickelt war, die Gefahr bestand, sie kompromittiert daraus hervorgehen zu sehen, wurde ihm die Sache peinlich.

»Zugegeben, Herr Polizeirat, nur ändert es nichts an der Tatsache, daß die Fürstin bei dem heutigen Stand der Dinge im Lichte einer Mitschuldigen des Aktendiebes erscheint.« –

Des Polizeirats Stirn runzelte sich.

»Derartiger starker Ausdrücke wollen wir uns lieber nicht bedienen, Herr Kommissar«, sagte er weit gemessener, als er mit Dr. Jelbermayer zu sprechen gewohnt war.

Dieser war nicht unempfindlich dafür. Das scharfe Wort, einmal ausgesprochen, mußte auch aufrecht erhalten werden, wollte er nicht eine Niederlage erleiden. Zudem stand seine eigene Sache nun doch auf einer Karte.

Darum antwortete er bestimmt und ohne merkbares Besinnen: »Ich bitte sehr um Entschuldigung, Herr Polizeirat, das sage nicht nur ich – auch in der Gesellschaft flüstert man es –«

»Haben Sie das aus zuverlässiger Quelle?« unterbrach ihn der Vorgesetzte sehr interessiert.

»Aus der besten – vom Grafen Hartens selbst,« antwortete Dr. Jelbermayer. »Er war gestern bei mir und bat mich, eben unter Hinweis auf das erwähnte Geflüster, das möglichste aufzubieten zur Klärung des Aktendiebstahls. Er will eine beträchtliche Prämie aussetzen für den, der es soweit bringt, daß dieses Geflüster verstummen muß, daß alle Mutmaßungen unmöglich werden. Der Graf ist außer sich, weil die Fürstin, wie er sich ausdrückt, durch ihn in diese schlimme Lage geraten ist.«

Jelbermayer pausierte ein Weilchen, dann, als der Polizeirat keine Aeußerung tat, ihn aber fragend, ansah, begann er wieder mit aller ihm zu Gebote stehenden Eindringlichkeit: »Somit liegt es in der Fürstin bestem Interesse, wenn wir in den beiden Diebstahlsaffären mit rücksichtsloser Energie vorgehen, wenn wir sie selbst der Ueberwachung unterwerfen und ihr mit List die uns geflissentlich vorenthaltenen Schlüssel zu diesen Rätseln entwinden. Denn ist sie schuldlos, so setzen wir uns durch diese Maßnahmen in dir Lage, mit der größten Entschiedenheit für sie einzutreten.«

Er hatte nichts mehr zu sagen und deutete das durch eine Verbeugung gegen den Vorgesetzten an.

Dieser antwortete nicht sogleich. Durch das in der vornehmen Gesellschaft umgehende Geflüster war die Ueberwachungsfrage für ihn in ein anderes Licht gerückt worden. Leicht wurde ihm die Entscheidung trotzdem nicht.

Eine ganze Weile ging er mit auf den Rücken gelegten Händen sinnend hin und her, ehe er, vor Jelbermayer stehen bleibend sagte: »Lassen Sie die Fürstin also überwachen, Kommissar, doch nur mit der weitgehendsten Diskretion. Nicht nur sie selbst, auch anders dürfen nichts davon merken. Es dürfte gut sein, die Agenten öfter zu wechseln. Ein und dieselbe Person muß schließlich auffallen.«

Er tat einen tiefen Atemzug, als er die ihm abgerungene Genehmigung zu einer Maßregel gegeben hatte, mit der er sich jetzt noch nicht zu befreunden vermochte.

»Sehr wohl, Herr Polizeirat, die Ueberwachung wird so betrieben werden, daß sie durchaus unbemerkt bleibt,« erwiderte Jelbermayer, erfreut, daß es ihm gelungen war, den Vorgesetzten dahin zu bringen, wo er ihn haben wollte.

»Mit dem Detektiv Prossl werden wir uns übrigens auch näher beschäftigen müssen,« sagte Meidler. »Unter Umständen kann es von Wichtigkeit sein, zu wissen, wer den Iwan Karamanoff privatim überwachen läßt.«

»Sehr richtig, Herr Polizeirat. Ich werde mich eingehendst mit ihm befassen,« erwiderte Jelbermayer aufstehend.

Er wollte seinen Chef keine Minute länger aufhalten, als unbedingt nötig war, zumal er ihn in einer gewissen Verstimmung gegen sich wußte.

Sie fand übrigens in der Art der Verabschiedung, bei der Meidler die gewohnte Jovialität und Herzlichkeit etwas vermissen ließ, ihren Ausdruck.

»Sobald der Herr Polizeidirektor über den Fall Orlowski entschieden hat, werde ich Sie zu mir bitten, lieber Jelbermayer. Bis dahin die alleräußerste Vorsicht und Diskretion, waren seine letzten Worte.

Als der Kommissar wieder einen Straßenwagen bestieg, um in die innere Stadt zurückzukehren, hob auf den Kirchtürmen das abendliche Geläute an. Die vorgerückte Abendstunde hinderte ihn aber nicht, sich nochmals nach den Amtslokalitäten des Sicherheitsbureaus zu begeben, um sofort alle zur Ueberwachung der Fürstin Orlowski und des jetzt für eigene Rechnung arbeitenden ehemaligen Sicherheitsagenten Prossl erforderlichen Maßregeln anzuordnen.

Er durfte keine Minute verlieren, handelte es sich für ihn doch gewissermaßen um Sein oder Nichtsein. Fortgerissen von seinen ihm zur Ueberzeugung gewordenen Vermutungen und Schlußfolgerungen, war er wesentlich weiter gegangen als er ursprünglich gewollt hatte und als klug war. – Hatte er sich getäuscht, was ja schließlich immerhin der Fall sein konnte, oder kam beiden Maßnahmen, auf die er gedrungen, nichts oder nicht viel Positives heraus, so durfte er sich getrost als einen toten Mann betrachten.

Gesenkten Kopfes war er dahin geschritten, in einer Stimmung, die nicht gerade als behaglich bezeichnet werden konnte, plötzlich reckte er sich mit einer schnellenden Bewegung hoch und sagte sich überzeugt: »Aber ich täusche mich nicht!«


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