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»Now all you recruties what's drafted today,
You shut up your rag-box an' 'ark to my lay,
An' I'll sing you a soldier as far as I may:
A soldier what's fit for a soldier,
Fit, fit, fit for a soldier!«
Rudyard Kipling.
»Ich habe nie in meinem Leben auf Dank Anspruch gemacht, ich habe ihn nie erwartet; ich habe ihn auch nicht verdient, denn ich habe niemals um Dank gehandelt, sondern habe einfach meine Schuldigkeit getan – und wer seine Pflicht tut, ist ein getreuer Knecht.«
Bismarck.
Rheinland 1929-1930.
Er war zurück im Gefängnis, zurück in seiner alten Zelle. Und es war wie zuvor – Tag um Tag und Nacht für Nacht. Jede Nacht hatte acht und jeder Tag hatte sechzehn Stunden und zusammen waren es vierundzwanzig Stunden. Sieben Tage gab es in jeder Woche, dreißig im Monat und manchmal war's noch einer mehr. Jede Stunde aber zählte sechzig Minuten, jede Minute wieder sechzig Sekunden – und jeder Augenblick war eine Ewigkeit.
* * *
Im Herbst gab's eine Abwechslung: Gerichtsverhandlung. Wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt und Körperverletzung mittels gefährlichen Werkzeuges. Er war geständig, half wenig seinem Anwalt. Der versuchte sein Bestes: von einem gefährlichen Werkzeug könne keine Rede sein – zerbrechliche Gipsmasken, in Holzwolle eingepackt! Und die begreifliche Aufregung: das schreie nach mildernden Umständen.
Der Staatsanwalt war andrer Ansicht. Habe der Angeklagte nicht selber gesagt, daß er sich zur Flucht Bahn habe brechen wollen – um jeden Preis? Zeuge nicht das zerbrochene Nasenbein des Beamten zur Genüge von der Gefährlichkeit des zur Körperverletzung verwandten Gegenstandes? Mildernde Umstände für einen bereits zum Tode verurteilten Fememörder? Das sei doch ein Scherzchen des Herrn Verteidigers! Die Behörde habe die Todesstrafe des Mörders Scholz in eine lebenslängliche Zuchthausstrafe, diese wieder in eine zeitlich begrenzte Gefängnisstrafe verwandelt; sie habe ihm dann einen Krankheitsurlaub bewilligt, ihn also buchstäblich mit Gnadenbeweisen überschüttet! Was sei der Dank gewesen? Daß der Mörder sich wie eine wilde Bestie auf pflichtgetreue Beamte gestürzt habe. Da mildernde Umstände? Er beantrage –
Das Gericht erkannte demgemäß: vierzehn Monate.
Dann kam der Winter, dann kam Weihnachten. Weihnachten in der Zelle – das war so, wie er's gewohnt war seit fünf Jahren.
* * *
Im Januar erhielt er Besuch: Hans ten Brinken kam. Er brachte gute Nachricht: man habe eine Vergünstigung durchgesetzt – von nun an dürfe er Bücher empfangen, Zeitungen und Zeitschriften.
Anfangs hatte Gerhard große Mühe; so ungewohnt war ihm das Lesen, so sehr war er heraus aus allem, was geschehn war. Dann aber fühlte er sich ein; konnte nun nicht genug bekommen. Alte Jahrgänge las er, las Rechtspresse und Linkspresse; arbeitete sich durch, machte Aufzeichnungen, lernte, was geschehn war seit dem Tage, an dem die Welt für ihn versank, seit dem Tage von Hindenburgs Wahl. Nur was Deutschland anging, beschäftigte ihn.
Ein Jahrfünft nur – wie anders sah alles aus. Immer noch, trotz aller Fehlschläge, saß die republikanische Regierung im Sattel: Sozialisten, Klerikale, Demokraten. Die hatten sich nun eine Hilfstruppe geschaffen, Hunderttausende in Uniform, die in Schritt und Tritt durch die Straßen zogen: Reichsbanner hieß das, Schwarzrotgold. Und die Polizei war fest in der Hand der Regierung; auch die Reichswehr würde bald so weit sein oder war's heute schon! Dann die Kommunisten – Rotfront hieß ihre Waffe. Die ist scharf, dachte Gerhard, die schneidet und beißt, wie sie im Ruhrkampf gebissen hat. Für die bürgerliche Rechte schufen Seldte und Düsterberg den Stahlhelm, für große Kundgebungen geschaffen; die Nazis stützten sich auf ihre Sturmabteilungen, die das Hakenkreuz im roten Felde führten – was übrig war von den Freikorps, mochte da untergekrochen sein. Gerhard überlegte: wenn ein Wunder geschehn würde, wenn diese Kampfgebilde zusammenständen, so würden doch Polizei und Reichswehr spielend mit ihnen fertig werden. Die Reichswehr aber mit ihren armseligen hunderttausend Mann, ohne Flugzeuge, ohne schwere Artillerie, ohne Festungen, die Reichswehr war heute die schwächste Truppe Europas, sie würde selbst einem kleinern Gegner gegenüber, dem Polen, dem Tschechen, dem Belgier, kaum vierzehn Tage lang standhalten.
Machtlos war Deutschland, so unterschrieben die Herrn der Regierung alles, was der Feindbund verlangte. Young-Plan hieß das jetzt: Milliarden Tribute alljährlich auf sechzig Jahre hinaus. Besiegelt Deutschlands Schicksal: ein wehrloser Sklavenstaat! Aber die Blätter der Regierungsparteien schienen stolz darauf: dieser Young-Plan – ein ganz großer Erfolg für die deutsche Sache sei das! Frieden – das allein sei das große Glück, das könne man nicht teuer genug einhandeln! ›Nie wieder Krieg‹ laute der Wahlspruch der Republik. Und Hindenburg unterschrieb den Vertrag –
Gerhard empfand: man regierte drauflos, recht und schlecht, wie's gehn wollte, trompetete sein eignes Lob aus in Versammlungen, Presse und Rundfunk. Man nahm Anleihen auf, pumpte zusammen, was man nur bekommen konnte, quetschte immer neue Steuern aus dem ausgesogenen Volk. Kam doch nicht weiter – immer mehr Betriebe mußten stillgelegt, immer neue Tausende von Arbeitern entlassen werden. Die Landwirtschaft stand vor dem Zusammenbruch, die Industrie war nicht weit davon – vier Millionen Arbeitslose lagen auf der Straße, jedermann wußte, daß es zur Jahreswende fünf sein würden. Dennoch: es gab immer noch Leute, denen es gut ging, die glänzende Geschäfte machten auf Kosten der Steuerzahler; das war wie einst: drei Brüder Barmat waren es früher, drei Brüder Sklarek heute, damals hatten sie die Regierung geschröpft, heute die Stadt Berlin.
Er durchsuchte die Blätter nach den alten Freunden – wenige nur fand er. Sieh doch: Heines, Raphael! Zwei seiner Leute von der Schwarzen Reichswehr – erst vor Jahresfrist hatte man ihnen den Prozeß gemacht. Fememord – nun saßen sie also wie er in der Zelle. Oberst Bauer – der war beim Kapp-Putsch dabei; die Pest fraß ihn in China, wo er Soldaten drillte. Auch Roßbachs Namen fand er – der zog durchs Land mit einer Schauspieltruppe.
Einen Namen nur sah er immer wieder: Hitler! Der war also wieder frei, der Hitler, sprach wieder zum Volk? Und die Jugend strömte ihm zu, überall in Deutschland, zog durch die Straßen, setzte ihr Leben ein für den deutschen Gedanken. Göring war mit ihm und Epp, Gregor Straßer und Frick – und immer wieder der alte Litzmann. Der? Sieh doch, dieser Achtzigjährige reiste durchs Land, sprach jeden Abend, reihte sich als Gemeiner in die Reihn, der General hinter dem Gefreiten Hitler! Litzmann, der Sieger von Lodz, der eine Schlacht schlug gegen fünffache Überzahl – eine Blücherschlacht, bei der jeder Generalstäbler versagt hätte –
Gerhard dachte: die müssen sie auch noch totschlagen, den Hitler, den Goebbels und ihre Getreuen, die auch noch! Dann ist Grabesruhe im Land.
Bis in den Sommer hinein las er, viele Stunden täglich, Bücher, Zeitungen, Zeitschriften.
* * *
Dann las er nichts mehr. Seit dem Tage nicht mehr, als Kätes Name in den Blättern stand.
Die Geschichte – die hatte er schon vorher gelesen, ohne sonderlich drauf zu achten. Wochenlang lief sie durch die Zeitungen, immer neue Einzelheiten wurden mitgeteilt. Junge Leute wurden verhaftet und wieder freigelassen; man wußte über die Täter so wenig wie über das Opfer – nur die Tat kannte man. Bis eines Tages berichtet wurde, daß es gelungen sei, die Persönlichkeit der Toten festzustellen: Käte Scholz heiße sie, stamme aus Düsseldorf –
Gerhard legte die Zeitung aus der Hand, lief herum in seiner Zelle. Fühlte plötzlich einen heftigen Kopfschmerz, dann eine Übelkeit. Er kämpfte dagegen an, versuchte zu lesen – die Buchstaben flimmerten vor seinen Augen. Er setzte sich auf den Schemel, atmete tief. Langsam schien es besser zu werden.
Er griff nach der Zeitung – in diesem Augenblicke fühlte er einen Brechreiz. Er sprang auf, erreichte mit Mühe den Eimer, spie.
Er saß auf dem Fußboden diesen Nachmittag, hielt sich den Kopf, würgte. Als der Schließer kam, bat er ihn, die Zeitung wegzunehmen – es war ihm, als ob ihm das Erleichterung schaffe. Er aß nichts, lag schlaflos in der Nacht, stand immer wieder auf, hängte den Kopf über den Eimer.
Widerlich war das; es änderte sich nicht in den nächsten Tagen. Er versuchte, ein wenig zu essen, konnte doch nichts behalten; nur Wasser trank er. Und das war merkwürdig – sowie nur sein Auge auf etwas Gedrucktes fiel, faßte ihn dieser gräßliche Brechreiz. Er ließ die Zeitungen hinausschaffen, auch die Bücher. Schließlich bat er, doch die Papptafel mit der Anstaltsordnung von der Wand nehmen zu wollen –
Nein, das ging nicht, das war ein unmögliches Verlangen. Die Ordnung blieb; aber ihn schaffte man in das Anstaltslazarett. Der Schließer mußte ihn stützen, so schwach war er.
Der Arzt untersuchte ihn: nervöser Brechreiz sei es. Man legte ihn zubett – künstliche Ernährung, künstlicher Schlaf.
Er bat um den Besuch seines Anwaltes. Hans ten Brinken kam; er brachte seinen Freund mit, Fritz Hemmerling; fast eine Stunde lang saßen sie bei ihm. Das Sprechen ermüdete ihn; doch ließ er sich erzählen von den beiden.
Ingenieur sei er nun, berichtete der Troßbub; Paul Hornemann habe ihn angestellt. Und jetzt solle er nach Belgien gehn, dort mithelfen, eine Brücke zu bauen –
»Tributkonto?« fragte Gerhard.
Der Troßbub seufzte. »Natürlich – Deutschland bezahlt's. Das sind die einzigen großen Aufträge unsrer Industrie.«
Plötzlich fragte Gerhard: »Was weißt du von meiner Schwester, Studentchen?«
Brinken zögerte. »Was so in den Zeitungen steht –«
»Sonst nichts?« verlangte Gerhard. »Ich will es wissen, hörst du!«
Für einen Augenblick leuchteten seine Augen stahlhart, klang seine Stimme wie einst, keinen Widerspruch duldend.
Der junge Anwalt sagte: »Zwei der – der Täter kamen zu uns ins Büro, als die Geschichte durch die Blätter ging. Das war, ehe der Name bekannt war – den kannten sie selber nicht. Übrigens: das wissen sie auch heute nicht, und das weiß weder die Behörde noch die Presse, daß die Tote – Ihre Schwester war!«
Gerhard lächelte müde. »Man wird's schon ausfinden, Studentchen. Aber ich werd's nicht lesen – ich kann nichts mehr lesen, seltsam, was? Vomitus aeternus et perpetuus, das faßt mich schon, wenn ich nur denke an eine Zeitung. Darum mußt du mir's – erzählen.«
Mit Mühe brachte er den Satz zu Ende, dieser greuliche Brechreiz schüttelte ihn. Er richtete sich auf, würgte – der Troßbub reichte ihm die Schale, mit beiden Händen hielt Brinken seinen Kopf. Galle –
Müde sank er zurück. »Es geht nicht, Studentchen, heute geht's nicht«, flüsterte er. »Du mußt es mir aufschreiben – mit der Hand, hörst du – alles, ganz genau – ich kann es lesen, wenn's nicht gedruckt ist.«
Brinken versprach es.
Tief beugte sich der Troßbub hinab, nahm seine bleiche, kranke Hand, küßte sie.
Gerhard ließ ihn gewähren. ›Als ob ich schon tot wäre‹, dachte er.
* * *
Hans ten Brinken sandte den Bericht.
So war es:
In einem Sanatorium bei Neuenahr war Käte. Sie wollte abreisen, hatte sich Fahrkarte besorgen und das Gepäck aufgeben lassen. Sie ging zu Fuß zum Bahnhof; da kam ein Motorrad, hielt an – der Fahrer rief sie an, erkundigte sich nach dem Weg nach Ahrweiler. Sie gab ihm Auskunft; während sie noch sprach, kletterte ein zweiter Bursch aus dem Beiwagen heraus, trat dicht zu ihr, starrte sie wortlos an, riß ihr plötzlich mit rascher Bewegung den Hut herunter.
»Ich irr mich nicht – ganz gewiß ist sie's!« rief er. »Dies Frätzchen werd ich nie vergessen.«
Sein Kamerad fuhr ihn an: »Was fällt dir ein, die Dame –«
»Nette Dame!« rief der Bursch. »Das Liebchen such ich seit Jahren – wußte, daß sie mir einmal in die Pfoten laufen würde. Denkst du noch an den Tag vor Hindenburgs Wahl? Als die Belgier Gerhard Scholz in Neuß geklappt hatten und viehisch mißhandelten, als die Gendarmen dich in Düsseldorf griffen? Sie schleppten dich ins Bezirksamt; wir standen draußen, hofften, daß du dich herauslügen würdest. Da kam dies Baby aus der Tür spaziert, groß aufgemacht, bepudert und bemalt, wie es sich gehört für Franzosenliebchen! Nerzpelz um die Schultern, olivgrünes Kleid mit Silberspitzen. Glührote Rosen in der Hand, zwei im Haar – hab ich ein gutes Gedächtnis, Fräulein? Ein belgischer Oberst war mit ihr, der half ihr in sein Auto. Der Wagen wollte nicht anspringen, der Fahrer wurstelte an der Kurbel, und der Schnürleiboberst schimpfte ihn aus. Da schrien ihr unsre Jungs zu: ›Metze, Hure, Franzosensau!‹ – Ein Stadtpolizist mengte sich ein, dann französische Gendarmen – den Behn, den mit dem lahmen Bein, haben sie erwischt und halb tot geprügelt. Dies freche Puppchen sah zu, fuhr mit ihrem Liebhaber los. Verdammt sauber sah sie aus, sag ich dir – ist ja heute noch hübsch! War's nett mit dem belgischen Helden? Heut wollen wir Erinnerung feiern – das sind wir denen schuldig, die damals Fußtritte bekamen und Reitpeitschenhiebe, dir, Kurt, und dem Behn und Gerhard Scholz.«
»Gerhard Scholz –« flüsterte sie. Sie dachte: ›Mein Bruder ist er. Für ihn tat ich's und für euch.‹ Aber sie sagte nichts.
Der Fahrer stieg von seinem Sitz. »Ist das wahr, Fräulein, was er sagt?«
Sie lächelte still, nickte dann.
»Einsteigen«, befahl der andre. »Der Scherenklub trägt großes Verlangen, Ihre werte Bekanntschaft zu machen.«
»Was willst du machen?« fragte der Fahrer.
Sein Freund lachte hart. »Zurück natürlich. Du bist ja seit gestern erst wieder im Rheinland – wirst schon sehn. Wir haben eine vergnügliche Art, den Separatistenherrschaften kleine Denkzettel zu geben und den Franzosenliebchen auch.« Er faßte sie am Arm. »Einsteigen, Baby!«
Käte riß sich los – nicht zwei Schritt weit kam sie. Die beiden faßten sie, hoben sie in den Beiwagen. Schnürten ihr mit ihren Leibriemen die Arme an den Leib, banden den Mund mit Taschentüchern zu.
Der Fahrer stieg auf, hinter ihm saß sein Freund. In rasendem Lauf ging es die Ahr zuberg, dann in die Eifel. Spät abends kamen sie an; lösten ihre Fesseln, hießen sie aussteigen.
Eine Burgruine, an einer Seite notdürftig zur Behausung zurechtgemacht. Der Fahrer hupte, oben hörte man Stimmen aus einem Fenster. »Schon wieder zurück?« rief einer.
»Wir haben einen Fang gemacht«, schrie der Fahrer hinauf, »ein Franzosenliebchen.«
Der Mann oben lachte. »Geleitet die Schöne ins Gastzimmer.«
Die zwei führten sie um das Gemäuer. Zogen eine niedre Luke auf, stießen sie in den Ziegenstall. Verschlossen sorgfältig, wälzten schwere Steine vor die Tür.
Dort saß Käte die Nacht über und den nächsten Tag; kein Mensch kümmerte sich um sie. Erst am Nachmittag kam einer, reichte ihr ein Glas Wasser und einen Knust Brot. »Ein Tag Einzelhaft«, lachte er, »so fängt's an bei uns.«
Als es dunkel war, holte man sie heraus. Führte sie zerfallene Stiegen hinauf, in einen großen Raum. Wacklige Tische an einer Seite, ein paar Wachskerzen brannten darauf, zwei große Papierscheren staken gespreizt im Holz. Sieben, acht Männer saßen da.
Der Bursch, der sie gestern erkannt hatte, erhob sich. »Also, Puppchen«, begann er, »Sie haben die längst verdiente Ehre, vor unserm Scherenklub zu erscheinen. Dies ist der Gerichtssaal, dort sitzen die Geschworenen, ich bin der Ankläger.« Er setzte sich; neben ihm erhob sich ein andrer.
»Ihren Namen, bitte?« fragte er.
Käte antwortete nicht.
»Ist auch nicht nötig«, sagte der Bursch, »wir pfeifen drauf. Sie sind angeklagt, es mit den Franzosen gehalten zu haben. Insbesondre –«
Er gab eine Schilderung des Abends vor dem Düsseldorfer Bezirksamt. »Stimmt das?« fragte er.
Sie zuckte die Achseln. »Es stimmt«, murmelte sie.
»Die Angeklagte ist geständig«, erklärte der Bursch. »Sehr vernünftig von ihr, das spart uns Zeit. Haben Sie etwas zu Ihrer Verteidigung anzuführen?«
Käte sah ihn an, ließ den Blick von einem zum andern gehn. Junge Burschen, kaum fünfundzwanzig der älteste. Ernst alle, entschlossen, mit klaren, offnen Augen – deutsche Jungens nach Gerhards Herzen. Die – die waren ihre Richter?
Sie lächelte still, schüttelte den Kopf.
Der andre erhob sich, der, der den Ankläger machte. »Ich beantrage, sie schuldig zu sprechen.«
Der Reihe nach standen sie auf, und aus jedem Munde erklang es: »Schuldig!«
Einer zog einen Stuhl heran, drückte sie nieder. Zwei griffen die Scheren vom Tisch, während ein andrer in einem Waschnapf Seifenschaum schlug. Man schnitt ihr die Haare kurz ab, seifte den Kopf ein, rasierte sie sehr geschickt, ratzekahl.
Einer hielt ihr einen Spiegelscherben vor. »Schau dich an, Baby, gefällst du dir? Kauf dir eine Perücke, kannst wieder dein Glück machen bei den parfümierten Wespentaillen. Geh in die Pfalz, da herrscht noch deine himmelblaue Freundschaft!« Er spie aus vor ihr, kehrte ihr den Rücken zu.
Man führte sie in den Ziegenstall zurück, holte sie spät abends wieder heraus. Zwei stiegen auf das Motorrad; hießen sie in den Beiwagen klettern. »Nun kommt der Abschiedstrank!« lachte einer, goß aus einer Flasche Wasser in ein Glas, reichte es ihr. Durstig war sie, nahm einen großen Schluck; setzte doch gleich ab – sehr bitter schmeckte das. Der Bursch lachte, hielt ihr die Flasche unter die Nase. »Hunyadi Janos, bestes Bitterwasser der Welt! Höchst gesund, reinigt die Gedärme: da geht's wie aus der Pistole geschossen! Trinken mußt du, Püppchen!«
Käte schloß die Augen, goß das Zeug hinunter. »So ist's recht«, nickte er. »Ihr braucht sie nicht zu binden – nun ist das Kätzchen zahm.«
Die zwei rasten los mit ihr, den Berg hinab und hinein ins Land. Nach ein paar Stunden fuhren sie langsamer, berieten sich, suchten herum. Kamen an einen kleinen See; der Beifahrer sprang ab, schritt am Ufer entlang durch die Büsche, kam bald zurück. »Der Nachen liegt an der alten Stelle«, berichtete er. Sie fuhren, so weit es gehn wollte, sprangen dann ab, hießen sie mitkommen.
Dort lag der Kahn; einer löste die Kette, hängte die Riemen ein; der andre nahm einen großen Stein auf, legte ihn ins Boot. Sie mußte einsteigen, lautlos ruderten sie in den See hinaus. Banden den Stein an eine Leine, loteten. »Hier ist's tief genug«, sagte der Bursch. Wandte sich dann an Käte: »Zieh dich aus, mein Schatz!«
Sie starrte ihn an, zitterte. Wollten die beiden –?
Der Bursch verstand sie, lachte. »Hab keine Angst – plärr nicht! Wir vergreifen uns nicht an deinesgleichen – nur deinen Denkzettel bekommst du.«
Sie nestelte an ihrer Bluse, seufzte – fast tat es ihr leid, daß sie kein Ende mit ihr machten.
»Eil dich«, rief der Bursch, »wir haben wenig Zeit.« Er griff ihre Füße, zog ihr Schuhe ab und Strümpfe.
Nur das Hemd ließen sie ihr; untersuchten sorgfältig Kleider und Handtasche. Nahmen das Geld, auch Zigarettendose, Brosche, alles was einen Wert hatte – knoteten es fest zusammen in ihr Taschentuch. »Nimm, wirst es brauchen können.« Sie schnürten die Kleider um den Stein, versenkten ihn ins Wasser, ruderten zurück zum Ufer. Einer machte den Nachen fest, der andre brach sich derweil eine Weidengerte ab, schwippte durch die Luft.
Sie gingen durch den Busch, fanden das Motorrad.
Noch eine Stunde durch die stille Nacht. Sie fror in dem dünnen seidenen Hemdchen; es punkerte und klunkerte ihr in Leib und Gedärm.
Dann hielten sie mitten im Walde, hoben sie aus dem Beiwagen. »Nun spring, Liebchen«, sagte der Fahrer. »Dort hinein, da kommst du an eine Suhle. Wonne der Sauen – da gehörst du hin!«
Sie stand auf der Landstraße, hilflos, regungslos. »Husch in den Wald, holde Elfe«, riet der Bursch, »mach dir Bewegung, das wärmt! Großartig siehst du aus – glatzköpfig im beschissenen Hemd!«
Mit seiner Gerte knallte ihr der andre auf den Popo. »Los, du Hur, soll ich dir Beine machen?«
Sie fuhr herum; da traf sie ein zweiter Schmiß über die linke Brust. Der Schmerz biß, hell schrie sie auf.
»Was fällt dir ein, Mensch?« fuhr ihn der Fahrer an. »Paß doch auf.«
»Tut mir leid«, sagte der Bursch, »so war's nicht gemeint – der war auch fürs Hintergestell bestimmt! Nun aber Schluß, lauf, lauf –«
Eine plötzliche Angst faßte sie. Sie rannte über die Straße, sprang in den nassen Straßengraben und hinauf an der andern Seite. In den Wald, zwischen die Bäume, hinein in das dichte Unterholz. Sie lief, lief –
Drei Nächte und zwei Tage irrte sie im Wald. Trank aus Pfützen und Lachen, kaute an Sauerampferstengeln. Wagte sich heraus auf die Landstraße, floh doch, versteckte sich, sowie sie Menschen sah.
Dann suchte man nach ihr. Ein Fuhrmann verständigte die Landjäger; mit den Bauern streiften sie im Hohen Venn. Früh am dritten Tage verbellte sie ein Jagdhund; bald darauf war der Förster bei ihr. Er redete auf sie ein – ein irres Lallen war die Antwort. Sie wehrte sich, als er sie fassen wollte, schlug, biß. Es half ihr nicht viel; der Förster griff sie auf, trug sie weg.
Nach Monschau brachte man sie, ins Krankenhaus – wirres Zeug redete sie daher. Doch wußte man schon Bescheid; der abrasierte Schädel, das Fehlen der Kleider sprachen deutliche Sprache – so war's mehr als einer Dirne am Rhein ergangen! Und grade hier an der Roer, hart an der Grenze der vom Reiche abgerissenen Gebiete, war man schlecht zu sprechen auf alles, was mit Wallonen und Welschen liebäugelte. Man hatte wenig Mitleid mit ihr, war dazu überzeugt, daß sie sich verstellte. So steckte man sie zunächst in ein kaltes Bad, duschte und schrubbte sie gründlich ab. Erst am Abend kam der Arzt von der Jagd zurück: er stellte Fieber fest, dazu rostbraunen Auswurf – Lungenentzündung. Er tat, was er konnte – Aderlaß, Digitalis, Sauerstoff. Aber es half nichts, nach acht Tagen war sie tot.
Es wäre kaum etwas aus der Geschichte gemacht worden, wenn sich die belgischen Behörden nicht eingemischt hätten; sie hatten festgestellt, daß die Tote westlich der Grenze aufgegriffen wurde, in dem Teile des Waldes, der nun wallonisch war. So erschien der Fall, mächtig aufgebauscht, in Lütticher und Brüsseler Blättern; dann erst griff ihn die deutsche Linkspresse auf, wetteiferte nun mit der belgischen: Schreckenstat völkischer Rohlinge!
* * *
Gerhard dachte: das ist schon richtig, was die Zeitungen schreiben, das ist alles ganz richtig! Ein schwaches Mädchen griffen die Burschen auf, schleppten es fort, hielten Gericht über sie – ah, diesmal war's wirklich ein rechtes Femegericht. Schabten ihren Skalp wie ein Ei so blank. Spien aus vor ihr, gaben ihr Bitterwasser. Nahmen ihr die Kleider weg, schlugen sie mit Weidenruten, jagten sie nackt in den Wald. Da lief sie herum auf zerrissenen, blutenden Füßen, da ward sie gegriffen: todkrank, eine arme Irre.
Ein Franzosenliebchen – Käte Scholz, seine Schwester.
Weil – nun weil sie mit dem belgischen Oberst –
Das war der, der anrief in Neuß, an dem Abend vor Hindenburgs Wahl. In dem Augenblick, als der hübsche Leutnant ihn wieder mal ins Verhör nahm – mit der Reitpeitsche.
Käte allein habe er's zu danken, daß er damals frei ward aus belgischer Haft, schrieb Lili – die wußte also darum. Großergott, wäre es nicht besser gewesen, man hätte ihn behalten? Dann säße er heute im Zuchthaus zu St. Ré oder stäke in den Fiebersümpfen Cayennes – war es nicht besser, im französischen Kerker zu liegen als im deutschen? Wie's dort auch sein mochte: man hatte das Bewußtsein, für Deutschland zu leiden, für das Vaterland. So aber –?
Diese Burschen – aus seiner Zucht kamen sie, handelten nach ihrem Gewissen auf eigne Faust, wie er es getan. Griffen eine auf, von der sie glaubten, daß sie es mit dem Feinde hielte, straften sie ab. Roh mochte das sein, o gewiß – war es darum weniger gerecht?
Er ließ ten Brinken kommen, bat ihn, als Anwalt den Tätern zu helfen, zu tun für sie, was möglich sei. Er bemerkte wohl das rasche Kopfnicken, den zufriedenen Blick: so und nicht anders hatte der es von ihm erwartet. War aus seiner Schule, Hans ten Brinken, dachte wie er: Deutschland! Nichts sonst – wer nicht Opfer bringen konnte in dieser Zeit der Schmach, der war kein guter Deutscher.
Still lag er in seinem schmalen Bett, als der junge Anwalt fort war, unbeweglich. Opfer? Wozu denn, wozu? Für dieses Deutschland?!
Was konnte es helfen, daß nun auch sie geopfert war? Sie, Käte, seine Schwester –
Und es war ja nicht wahr, daß sie für Deutschland tat, was sie getan. Oder doch nur, weil für sie Deutschland – er war, er und der Traum, der in ihm lebte. Für ihn tat sie es –
Nun begriff er das alles. Verstand, warum sie für ihn arbeitete, sich täglich neuen Gefahren aussetzte, damals im Kampf für Rhein und Ruhr. Warum sie den belgischen Obersten aufsuchte im Bezirksamt, mit ihm durch die Stadt fuhr, wie die frechste der Dirnen. Verstand auch, was sie wollte, als sie ihn besuchte im Zuchthaus zu Münster. Das war – anderthalb Jahr war das her.
Nicht einmal hatte er ihr geschrieben in dieser Zeit, keinen Brief, keine Karte, nicht ein armes Wort. Und sie wartete doch und sehnte sich –
Nun war sie tot. Wenn sie den Burschen gesagt hätte, wer sie war, ihren Namen genannt – Käte Scholz?
Kein Härchen hätte man ihr gekrümmt.
Aber sie schwieg, nickte, als man sie fragte: ja, das war sie, damals am Abend vor Hindenburgs Wahl. Lächelte hochmütig, viel zu stolz, sich zu rechtfertigen. Stellte sich vor ihn, wollte nicht, daß man das zusammen nenne: ein Franzosenliebchen und ihn, Gerhard Scholz. Handelte wie an jenem Tag – opferte sich für ihn. Nahm alle Schande, trug alle Qual – für ihn. Für ihn ward sie zur Irren – und sie starb für ihn.
Sie, Käte, seine Schwester –
* * *
Sie päppelten ihn wieder auf. Allmählich verlor sich der Brechreiz; er lernte wieder kauen und schlucken. Er kam, sehr schwach noch, zurück in seine Zelle; man verschonte ihn mit der vorgeschriebenen Arbeit. Lesen freilich, das ging noch nicht. Auch das würde kommen, versprach der Arzt; nur Geduld müsse er haben.
Er erfand Freiübungen in dieser Zeit, die nicht zu sehr anstrengten, kindliche Spielereien mit Fingern und Zehen. Er nahm Bindfaden in den Mund, lernte kunstvolle Knoten machen mit der Zunge. Dann erinnerte er sich, daß er früher einmal Schach gespielt hatte, im Unterstand in Frankreich; er ließ sich durch Brinken Brett und Figuren schicken, spielte nun stundenlang mit sich selber. Beschäftigte sich, wie es gehn mochte, kämpfte gegen diese grauen Tage, die dahin schlichen, einer wie der andre, unzählbar, hoffnungslos.
Immer trostloser wurde sein Widerstand. Er saß vor dem Schachbrett, bewegte Königin, Springer und Turm. Aber es war kein Spiel mehr, war nur noch ein irres Rücken, hin über die Felder und her, sinnlos. Immer noch machte er Übungen, bewegte Rumpf und Glieder, um müde zu werden, schlafen zu können, saß doch, stand doch, steif wie ein Klotz zwischendurch, starrte so vor sich hin.
Manchmal träumte er. Träumte:
Der Zug fuhr, der Zug fuhr. Weiter, weiter – das war ein Zug, der niemals halten würde. Wie gut das war, so zu fahren! Verhängt oben die Lampe, mit blauem Schirm darüber. Er blickte aus dem Fenster, da war Nacht; nur ein rasches Licht, noch eins und wieder eins – dunkel dann. Vielleicht fuhr man durch Wälder, vielleicht durch Wiesen oder zwischen Felswänden – wer mochte das wissen?
Gleich, wo man fuhr. Weg nur, immer weiter weg von –
Wovon denn nur? Es fiel ihm nicht ein – doch war es ein Ort, den er floh, irgendein schrecklicher Ort –
Der lag hinten, weit hinten, vergessen fast. Und er floh.
Der Herr neben ihm sagte: »Jetzt kommt Kufstein, da ist die Grenze.«
»Halten wir dort?« fragte er ängstlich.
Der Herr antwortete: »Nein, ich glaube nicht. Der Lokomotivführer hat versprochen, nicht zu halten. Er hat sein Ehrenwort gegeben.«
Gerhard nickte. »Gut. Dann –«
Der Herr schielte hinüber zu ihm. »Sie haben's wohl eilig? – Aber vielleicht hält er doch. Der Mann kann nur eines halten: den Zug, oder sein Ehrenwort, das begreifen Sie doch? Die Regierung wünscht natürlich, daß er den Zug hält – einmal steht's so im Fahrplan, und dann ist ein gebrochenes Ehrenwort so bequem für Erklärungen im Reichstag. Nur, sehn Sie, der Lokomotivführer ist kein Reichsbeamter, weil ja die Reichsbahn nicht mehr Reichsbahn ist. Die ist Sicherheitspfand, ist Privatgesellschaft, muß Tribute bezahlen an alle Welt – also ist der Mann ganz unabhängig von der Regierung. Der kann sich's leisten, sein Ehrenwort zu halten. Hohe Politik – Sie verstehn das doch?
»Jetzt kommt eine Brücke«, sagte der Herr, »deshalb stößt es so. Schaun Sie hinaus, da unten ist ein Fluß – wenn man nur wüßte, wie er heißt. Dann kommt ein Dorf, dann ein Berg – und man kennt sie nicht. Nirgends ein Schild – warum nicht? Da wüßte man gleich Bescheid. So ist alles geheim, alles verwischt, völlig inconnu, inconnu! Das heißt auf Deutsch – man müßte einen vereideten Dolmetscher kommen lassen, aber auf Ihre Kosten, nur auf Ihre Kosten, Herr Scholz. Die Behörde muß sparen, trägt die Kosten nicht – ihr gilt es ganz gleich, was das für ein Fluß war. Die Isar oder der Inn oder der Rhein oder die Seine – die Behörde kümmert sich nicht drum. Schaun Sie doch: jetzt sind Schilder da draußen, weiße Schilder mit schwarzen Buchstaben. Aber verschmiert, unleserlich, das hat zu lange im Wasser gelegen, da im Fluß, in der Seine, bei der Inconnue!
»Inconnue«, kicherte der Herr, »l'Inconnue de la Seine! Tragen Sie die Kosten – soll ich einen vereideten Dolmetscher kommen lassen?« Der Herr stand auf, nahm ein Paketchen in braunem Packpapier vom Gepäcknetz, legte es auf den Sitz. »Das haben Sie liegen lassen – ich hab's geholt. Zwei Masken, gut in Holzwolle verpackt – det Wassermächen uf Natur jearbeit, von en Kunstmaler, blau un bleich un janz naß – det is en Jenuß, sach ick Ihnen, da ham se wat für't Leben – rechts un links von de Servangte! – Ich betone ausdrücklich: Masken, Abgüsse – das Urbild wurde dem Generalstaatsanwalt überreicht zur gefälligen Kenntnisnahme und weitern Veranlassung.« Der Herr verbeugte sich, lüftete den Hut. »Gestatten Sie – Lürmann. Für die Richtigkeit – Lürmann.«
Sehr ruhig blieb Gerhard, ganz kühl. Er ließ das Fenster herunter, faßte Lürmann, hob ihn auf, klappte ihn zusammen wie ein Taschenmesser, drückte das Gesicht auf die Füße. Schob ihn zum Fenster hinaus, Füße vorn, Kopf vorn. Es ging ganz gut, nur der Hintern war zu dick, der blieb hängen. Er mußte schieben und quetschen, nahm schließlich das Paket, trommelte damit auf den Steiß, als ob er einen Nagel einhämmere, einen Nagel über dem Guckloch in seiner Zellentür. Noch ein Stückchen und noch eins – dann ging's, dann flog Lürmann aus dem Guckloch hinaus.
Nein, aus dem Zugfenster flog er. Schlug auf den Bahndamm, rollte sich, drehte sich, wie ein geschossener Has sah er aus. Gerhard nahm das Paket, zielte, schwang den Arm, schleuderte es –
Das knallte, das platzte, das zersprang – Eierhandgranate.
Er duckte sich unter der Schulterwehr – waren die Tommies schon heran? Er suchte im Graben – kein Ei mehr da? Die deckten einen gut ein, hinten lag die englische Feuerglocke, vorn trommelten sie noch, hoch oben tropften die Fallbomben von den Flugzeugen – sieben Stück in der Kette. Jetzt mußten sie bei den Stolperdrähten sein, bei den Wolfsgruben, jetzt knackten die Stangenscheren im Drahtverhau. Die Diskusgranaten hagelten, man merkte es an dem kurzen Bellen: englische Nüsse. Durch – sie sprangen in den Graben, rollten auf – und kein einziges verdammtes Ei mehr da?! Grad über ihm an der Berme ein langer Kerl, den Webley in der Hand, englischer Offizier – riesengroß erschien er in der Dämmerung am Grabenrand.
Paul Hornemann schrie: »Platz, Scholz!« Er stieß ihn zur Seite, das Ding oben krachte – Streifer an der Schulter, Paul riß den Arm hoch, Leuchtpistole, grad als der Lange sprang – von unten traf ihn die volle Raketenladung in Hals und Gesicht. Der Mann landete dicht vor ihm im Graben, aufrecht stand er da – aber er hatte keinen Kopf mehr; da war nur ein Blutstrahl –
Er hob noch den Arm, ehe er fiel, der Engländer, streckte die Hand aus und den langen Zeigefinger, zeigte auf ihn.
Doch nicht, nicht auf ihn zeigte er – zeigte auf den, der am Kreuze hing. Auch war es kein englischer Offizier, trug keine Uniform; nackt stand er da, nur einen Schurz um die Lenden. Der Täufer Johannes war es, der auf den Gekreuzigten wies. Lang, grauenhaft lang wuchs dieser Zeigefinger.
Gemalt war das, war nur ein Bild – wahrer doch als alle grausame Wirklichkeit. War Meister Matthias' Bild, im Klostermuseum zu Kolmar. Er stand davor, starrte, mit ihm zwei andre Reiter. Lachend waren sie durch die Säle gegangen; da hing viel kindlicher Kram. Aber sie sprachen kein kleines Wort, als sie vor dem Christus standen; sahn sich kaum an, als sie wieder fortschlichen. Fühlten: nichts auf der Welt ist so furchtbar, nichts so gewaltig wie dieser Tote am Kreuz.
Nicht einmal des Malers Namen wußten sie. Einer kaufte am Ausgang eine Bildkarte – sieh doch, Grünewald hieß der!
Sie liefen durch die Gassen, drei Einjährige vom dritten Jägerregiment zu Pferde, junge frische Reiter – wie jung waren sie damals! Zu siebzehn zogen sie ins Feld – er allein kehrte heim. Nun war das Reiterregiment verschwunden; französisch war Kolmar und das Elsaß; den Franzosen gehörte der Isenheimer Altar und das Werk des deutschesten Malers.
Wach lag er nun, hob sich auf der Pritsche, wischte mit dem Laken den kalten Schweiß von der Stirn. Wer stand da, wer streckte den langen Zeigefinger, wer?
Nicht der Täufer und nicht der englische Offizier im Graben, der sein Blut aus dem Halse spie, der nicht –
Einen langen Bart hatte dieser Mann, gelbweiß, schmutzig; Blut troff ihm vom Gesicht. Leichen lagen zu seinen Füßen, ein altes Weib und ein junges, hinter ihm brannten die Hütten. Der alte Jude achtete es nicht, gereckt hielt er den Arm, gereckt den Zeigefinger – zeigte dorthin, wo der letzte Kosak in den Abend ritt. Und er schrie, schrie –
Gerhard preßte die Hände an die Ohren, hörte doch diesen gräßlichen Schrei, der widerhallte von den Wänden der Zelle.
»Mamser ben hanide!«
Er selbst schrie, ja doch, er selber war es, der schrie. Streckte den Arm weit aus, reckte den Zeigefinger, zeigte auf die Leute, die dort vorbeizogen: auf den Staatsanwalt, den Untersuchungsrichter, auf den hübschen belgischen Leutnant, der ihm die Reitgerte durchs Gesicht hieb – Mamser ben hanide –
Wer sonst noch, wer? Die Kerle da, die seinen Vater niederschlugen; der Verräter Wilcke, der Barmer Polizeirat, der Schließer Kubalke, dem er den Schmutzeimer blankscheuern mußte. Und Lürmann, der Strafanstaltshauptwachtmeister Lürmann –
»Mamser ben hanide!« schrie er.
Wieder und wieder schrie er, stundenlang. Schrie sich heiser, zischte dann, flüsterte. Stand schließlich aufrecht in seiner Zelle, stumm, starr, mit verglasten Augen, den Arm weit ausgereckt und den Zeigefinger –
* * *
Er tobte nicht; Zwangsjacke war nicht nötig. Nur in der Nacht schrie er – das kommt vor in Gefängnissen, und man nimmt's nicht so ernst. Sehr still war er am Tage.
Zuweilen lachte er. Saß auf seinem Schemel, kicherte so vor sich hin, stundenlang. Nahm auch wohl den Bleistift, schrieb lange Seiten voll. Gab sie dem Schließer; sehr wichtig sei es, müsse gleich seinem Anwalt geschickt werden. Der Schließer nickte, warf einen Blick auf das Geschreibsel, brachte die Bogen in die Kanzlei – dort blätterte man sie durch – wirr alles, ohne Zusammenhang.
Dann wieder war er ganz klar; sprach zu sich selbst. Sang auch wohl, Schubert, Schumann, Brahms, alle Lieder der Mutter. Ohne den Mund zu öffnen, fest zusammengebissen die Zähne, jedes Wort doch, jede kleinste Note. Dunkel wurde es und wieder hell, Abend wurde zur Nacht, Nacht wurde zum Morgen –
* * *
Einmal schlief er ganz fest – bis um Mitternacht. Wachte dann auf, lief herum in seiner Zelle. Blieb stehn, öffnete weit den Mund –
Was war das nur? Er lauschte; kein Schrei kam aus seinen Lippen, kein armer Laut – nichts! Er griff mit den Fingern nach der Zunge, bewegte sie – ja das ging. Aber dann mußte er doch schreien können?! Was war das nur?
Glühheiß war ihm, er wischte den Schweiß von der Stirne. Auf und nieder lief er, auf und nieder – durch die langen Stunden. Dann saß er – sah in der Dämmerung weißes Papier vor sich liegen, daneben den Bleistift, schrieb:
»Eure Exzellenz!
Hochzuverehrender Herr Generalfeldmarschall!
Herr Reichspräsident!
Wenn gehorsamst Unterfertigter es wagt, diese Bittschrift an Eure Exzellenz zu richten, so ist er sich wohl bewußt, wie gering die Aussicht ist, daß sie vor Ihre Augen kommt. Meine Freunde werden ihr Bestes versuchen, das Schreiben Eurer Exzellenz zur Kenntnis zu bringen – Ihre Umgebung wird mit allen Mitteln das zu verhindern suchen.
Ich schreibe am Morgen meines sechsunddreißigsten Geburtstags: die Hälfte meines Lebens – mein ganzes Leben als erwachsener Mensch – habe ich dem deutschen Staate gedient. Mit achtzehn Jahren ward ich Soldat, mit zwanzig ritt ich ins Feld. Ich kämpfte zu Fuß und zu Pferde unter dem Befehl Eurer Exzellenz in Frankreich und Belgien, in Rußland und Italien. Elfmal wurde ich verwundet – kein Glied, das nicht blutete für mein Vaterland.
Wir waren zu sieben: Vater, Mutter, vier Söhne und meine Schwester. In Flandern fiel mein jüngster Bruder, der zweite wurde in Frankreich mit seinem Flugzeug abgeschossen. Mein ältester Bruder geriet in Palästina in die Hände der Araber; der Zeitungsbericht von seinem grauenvollen Ende warf meine Mutter aufs Krankenlager. Die falsche Nachricht meines Todes, der Zusammenbruch Deutschlands, der auch meinen Vater besitzlos machte, gaben ihr den Rest – so starb sie.
Am Blutsonntag in Düsseldorf fiel mein Vater. Als die Separatisten dabei waren, die Rheinische Republik auszurufen, hob er seine Stimme, mitten ins Gesicht von zehntausend Verrätern. Unter meinen Augen schlugen sie ihn nieder, stachen ihn, schossen ihn, trampelten mit Füßen auf ihm. Schleppten meines Vaters Leiche durch die Gasse, warfen sie in den Rhein.
Die Frau, die ich liebte, meine Verlobte, die manche Jahre mit mir kämpfte – aus dem Wasser fischte man sie, wie meinen Vater. Einsam ging sie ihren letzten Gang, zerbrochen, verzweifelt am Leben.
Da war noch eine: war meine Schwester. Die Arbeit, die sie tat, war vielleicht die schlimmste, der Weg zum Kreuz, den sie ging, gewiß der schwerste. Nicht durch den Feind starb sie, nicht durch eigne Hand – ward verhöhnt und bespien, in den Tod gehetzt durch meine eignen Leute, meine guten Kameraden: das war, als sei's durch mich selber geschehn. Und geschah doch für mich.
Vater, Mutter und drei Brüder. Und die Braut und die Schwester – sieben Tote.
Damals im November, als alles zusammenbrach, entkam ich aus italienischer Gefangenschaft über die Karawanken. In Klagenfurt sah ich, eben errichtet, einen Denkstein, einen der Tausende, die überall stehn in deutschen Landen. So war die Inschrift:
1914
Vom Kärntner Feldjägerbat. Nr. 8
zogen in den Weltkrieg
38 Offiziere, 1222 Mann.
Auf der andern Seite aber stand:
1918
Vom Kärntner Feldjägerbat. Nr. 8
fielen im Weltkrieg
38 Offiziere, 1221 Mann.
Einer blieb, ein einziger von zwölfhundertsechzig!
Mir fielen sieben – und ich blieb allein. Nur sieben –
In Kärnten kam ich zum Freikorps, kämpfte mit den Brüdern – deutsch blieb die windische Mark.
Dann rief das neue Deutschland, rief uns ins Baltenland. Wir warfen die Bolschewiken, eroberten Riga, hielten die Wacht an der Düna. Wenn die Länder leben und frei sind, Estland, Lettland, Litauen, so danken sie's deutschen Freischaren. Dank? O ja, Kugeln, Kolbenstöße, Fußtritte! Auf Befehl der Feinde zogen uns die Bonzen zurück, brachen die Versprechungen, die sie uns gaben. Mit Schimpf und Schande jagte man uns aus dem Lande – für nichts hatten wir unser Blut verspritzt.
Und doch blieben wir dem Reiche treu. Kämpften an der Ruhr gegen Spartakus. In Oberschlesien im nächsten Jahr gegen den Polen – stürmten den Annaberg, hätten in einer Woche den Feind über die Grenze geworfen, das Land für Deutschland gerettet, wenn nur Berlin uns den Rücken deckte.
Dann war's an der Ruhr gegen die Franzosen, war's am Rhein gegen die separatistischen Hochverräter. Und wieder in Pommern und Brandenburg, wo wir die Schwarze Reichswehr aufbauten. Immer fürs Reich, immer mit stillem Wissen und auf halben Wunsch der Regierung.
Als es aus war, als alle Freikorps und vaterländischen Verbände aufgelöst waren, als wir endlich begriffen, daß wir für all das vergossene Blut nur Fußtritte als Dank ernten würden, kämpften wir dennoch weiter. Jagten die grün-weiß-roten Mordbanden vom Rhein und aus der Pfalz, retteten was links vom Strome lag.
Dann, Exzellenz, starb Präsident Ebert, für dessen Deutschland ich nun fünf Jahre lang kämpfte, wie vordem für das des Kaisers vier lange Jahre. Mir war's gleich, uns allen war's gleich, wer an der Spitze war, wenn's nur für das Reich war. Nun aber sollte, zum erstenmal, das deutsche Volk sich selber seinen Führer wählen. Ich war dabei, unermüdlich, Tag und Nacht, wie all meine Kameraden. Denn der Führer sollte Hindenburg heißen.
Die Belgier fingen mich. Legten mir Handschellen an, schlugen mir die Reitpeitsche durchs Gesicht. Das ist schlimmer als Kugeln. Aber sie brachen mich nicht – die nicht! Ich lachte: für Sie, Exzellenz, biß mich die Reitpeitsche!
Und Sie wurden gewählt, der erträumte Retter: Generalfeldmarschall Hindenburg! Wir glaubten, nun gehe die Sonne auf über Deutschland.
Fünf Jahre vergingen seither.
Und fünf Jahre nun sitze ich im Gefängnis; man verhaftete mich kurz nach Ihrer Wahl. Aus italienischer Gefangenschaft floh ich; aus belgischer Haft befreite mich meine Schwester; Kameraden holten mich aus polnischem Gefängnis. Aber in Deutschland hielt man mich fest verwahrt, keine Möglichkeit, da herauszukommen – doch, einmal gelang es den Freunden, mir einen Krankheitsurlaub zu erwirken. Ich mußte mein Ehrenwort geben, wiederzukehren; als ich mich zurückmeldete, lachte man mich aus!
Exzellenz wissen, daß man mich verurteilte; über die Fememordprozesse hat man Ihnen gewiß Bericht erstattet. Sie haben diesen Berichten geglaubt, wie jedermann glaubte, was davon in den Zeitungen stand –
Das war so, wie es im Kriege war. Die ganze Welt glaubte an die Grausamkeiten unsrer Soldaten. Unsre Zeitungen druckten solche Aufsätze ab, auch Bilder aus englischen, französischen, amerikanischen Blättern – wir lachten herzlich darüber: wie war es nur möglich, daß man solch albernes Zeug den Leuten vorreden konnte? Kinder mit abgeschnittenen Händen, schwangere Frauen ans Kreuz geschlagen, bärtige Landwehrleute, die Säuglinge auf ihre Bajonette spießten, Arbeitssoldaten, die die Leichen gefallener Feinde in riesige Trichter warfen, um sie zu Seifenfett zu zerkochen. Aber die Massen glaubten doch daran, in Paris und Neuyork, in London und überall in der Welt, waren fest überzeugt, daß es die Pflicht der Menschheit sei, solch viehisch Volk wie das deutsche vom Erdboden zu vertilgen. Die englischen Herrn, die die Lügen erfanden, geben sie längst offen zu, schreiben dicke Bücher darüber, wie sie's gemacht haben. Sind stolz darauf, sagen: wir haben mit diesem Schwindel den Deutschen mehr geschadet, als wenn wir zehn neue Armeekorps aufgestellt hätten; wir logen den Ruß rot und den Schnee blau – aber wir taten's für unser Volk! Und wir hatten den Erfolg.
Nicht viel anders war's mit der Femehetze. Rohe, tierische Henkersknechte, denen es eitel Lust war, ihre Opfer zu Tode zu quälen. Und, irgendwo im Lande, eine geheime Höhle, da saß die mordgierige Hakenkreuzspinne, die die Fäden wob und alle Befehle ausgab – die Spinne war ich! Berichte in allen Blättern, Bilder dazu; wie im Kriege das Schwindelbild des von den Deutschen gekreuzigten Kanadiers die Runde über die Erde machte, so erschien diesmal überall das Bild von der geheimen Femesitzung.
Allewelt hielt es für wahr und auch Sie, Exzellenz. Damals im Krieg lachten Sie, wie wir alle, über den plumpen Schwindel – diesmal aber glaubten Sie dran, glaubten, Herr Generalfeldmarschall, an die grausame Mordlust Ihrer alten Soldaten und Offiziere. Wir aber fühlten, daß das alles geschah, um die Aufmerksamkeit des Volkes abzulenken von der Fäulnis im Innern, von der Versklavung nach außen. Um die Handvoll entschlossener Männer, von denen man annahm, daß sie der Republik gefährlich werden könnten, unschädlich zu machen. Als ob uns der Gedanke: Republik oder Kaiserreich? je beschäftigt hätte – für Deutschland stritten wir, und es galt uns gleich, ob die Männer da oben Hohenzollern oder Ebert hießen, ob sie Kaiser oder Präsidenten waren. Wie erst hätten wir für ein Deutschland gekämpft, das Hindenburg führte!
Aber haben Sie, Herr Reichspräsident, nicht vom ersten Tage an verzichtet auf jede Führung? Haben Sie nicht getan, was man von Ihnen verlangte? Gewiß, Sie haben streng verfassungsgemäß gehandelt und alle die für sich gewonnen, die vorher voll Haß gegen Sie kämpften – die Deutschen aber, die Sie wählten, haben Sie bitter enttäuscht! All das wurde gutgeheißen, von dem wir glaubten, daß es Deutschland zugrunderichte. Es wurde geduldet, daß ein Bollwerk des Reichs nach dem andern den herrschenden Parteien überantwortet wurde: Schule und Polizei sind es längst, morgen wird es die Reichswehr sein, übermorgen die Universität. Während Ihrer Präsidentschaft, Exzellenz, sind Landwirtschaft und Industrie verelendet, laufen viele Millionen hungernder Erwerbsloser durch die Gassen, betteln um Staatshilfe – nie wird man dieser furchtbaren Arbeitslosigkeit Herr werden, wenn man nicht zurückkehrt zum Wehrgedanken, wenn Sie, Herr Generalfeldmarschall, nicht alles daran setzen, die allgemeine Heerespflicht wieder einzuführen, wie sie die Völker rings um uns kennen.
Zwei neue Silbertaler hab ich, das ist mein Besitz auf dieser Welt. Der eine Taler zeigt Ihren Kopf, Exzellenz, und auf der Rückseite Ihre Hand, zum Schwüre erhoben. Zum Schwur auf die Verfassung – Eure Exzellenz hielten den Schwur. So kündet dieser Taler volle Wahrheit – wir aber glaubten, als wir Sie wählten, daß Sie der Führer seien, in dem allein alle Verfassung begründet läge. Der andre Taler aber lügt. Den prägte man in diesem Jahre zum tausendjährigen Gedächtnis eines deutschen Sängers, Herrn Walthers von der Vogelweide. Er trägt die Schrift: Einigkeit und Recht und Freiheit. Eure Exzellenz wissen, daß kein Volk in der Welt so wenig einig ist wie das unsre, daß es zerrissen ist in Parteien, die einander bekämpfen und totschlagen. Eure Exzellenz wissen auch, daß unser Land unfrei ist, ein Tributstaat, den Feinden versklavt. Und das Recht, das Recht – wer glaubt noch an Recht in dieser Zeit?
Ich fühle gut, wie lächerlich es ist, daß ich es wage, zu Eurer Exzellenz so zu sprechen. Ich, ein kleiner Oberleutnant, zu dem Herrn Generalfeldmarschall, ich, ein Ausgestoßener, ein Zuchthäusler, zu dem Herrn Reichspräsidenten! Doch denkt man viel nach, wenn man in enger Zelle haust. Das glaub ich auch heute noch, daß Sie Deutschland so glühend heiß lieben wie ich selber – doch meine ich, daß diese Liebe den Weg nicht mehr herausfindet aus Ihrem tiefsten Herzen. In unsern Seelen aber glüht und lebt die Erkenntnis der alten Weisheit: › Nur das ist gut und ist recht, was meinem Volke nützt. Alles aber, was ihm schadet – ist schlecht und ist unrecht.‹
Sie, Herr Reichspräsident, stimmten – gewiß unter schwersten Bedenken, dem Vertrage zu, der unter dem Namen Young-Plan das Reich zu einem Tributstaate, unser Volk zu einem Fellachenvolke macht. Alle die Millionen, die Sie auf den Schild hoben, flehten Sie an, Ihre Unterschrift zu weigern, dreimal suchte in ihrem Namen der Mann Sie auf, der einst unsre Flotte schuf, Ihr alter Kamerad, Großadmiral v. Tirpitz – Exzellenz unterschrieben dennoch! Das verstümmelte Deutschland ist längst das ärmste Land der Erde; dennoch soll es zahlen auf viele Jahrzehnte hinaus, immer neue unfaßbare Goldmilliarden. Wenn in alter Zeit ein Volk für seinen Herrscher sklavte, wenn es in Babylon und Ägypten, in China, Indien, Mexiko in grausamer Fron gewaltige Bauwerke schuf, Mauern, Paläste, Tempel, Pyramiden – so tat es das doch für den eignen Staat, schuf Denkmäler, die des Landes Ruhm verkünden in die Jahrtausende hin, wenn die Namen der Herrscher längst vergessen sind. Sie aber, Herr Reichspräsident, stehn an der Spitze eines Reiches, das für Feinde front, herrschen über ein Hungervolk, das Fremden versklavt ist. Unter die Frankreichs ist die deutsche Geburtenziffer gesunken, wird tiefer noch fallen: so herrschen Sie über ein Volk, das Selbstmord begeht!
Es mag scheinen, Exzellenz, daß das alles mit der Bitte, die ich gehorsamst vorzutragen wage, nichts zu tun habe. Dennoch: es hat sehr viel damit zu tun. Wenn ich für unser armes Volk – meines und Ihres, Exzellenz – auch nur den fernsten Traum einer Hoffnung noch hätte, dann möchte ich gern steinalt werden in Zuchthausmauern, nur um die Stunde zu erleben, in der draußen die Glocken läuten: Deutschland ist frei.
Auch in diesem Sommer, als Eure Exzellenz in das geräumte Rheinland fuhren, läuteten festesfreudig die Glocken, jubelten, daß das Land nun frei sei. Die Glocken logen. Darf vor dem Haus, in dem Sie abstiegen, Herr Reichspräsident, ein deutscher Soldat Ehrenwache stehn? Der Feind verbietet's! Klebt man an der Saar Marken mit dem Bildnis Eurer Exzellenz auf die Briefe? Gilt dort die Mark wie im Reiche? Mit Franken bezahlt man, französisch ist der Zoll. Versklavt aber ist ganz Deutschland, für die Feinde front der deutsche Knecht, wenn er schon so glücklich ist, Arbeit zu haben. Nicht einmal die Luft, die wir atmen, ist mehr deutsch – wie viele Flieger darf die Reichswehr hinauf schicken? Aber jede Woche kreuzen Kampfflieger über deutschem Land, Polen, Tschechen, Franzosen – die lernen, wo man am besten Bomben abwirft, wenn's not tut.
Die Glocken logen, wie die Festreden logen!
Und weil ich nun weiß, daß all meine Hoffnung vergebens ist, weil ich verzweifle an Deutschlands Schicksal – darum schreibe ich diese Bittschrift.
Von dem Tage an, da ich der Schule entlief, diente ich Deutschland, kämpfte für seine Freiheit. Bis zu dem Tage Ihrer Wahl, Herr Reichspräsident. Diese letzten Jahre aber im Gefängnis, im Zuchthaus diente ich weiter dem Staat – durfte Tüten kleben, Schweinsborsten auslesen, Abtrittbürsten anfertigen – fünf Jahre lang. Schmutzige Arbeit – doch war sie für den Staat: nie im Leben hab ich andre Arbeit getan.
Man verurteilte mich als Mörder zum Tode, begnadigte mich erst zu lebenslänglichem Zuchthaus, später zu siebeneinhalb Jahren Gefängnis. Aber man rechnete mir die Zeit der Voruntersuchung nicht an – so soll ich noch lange Jahre Zellenluft atmen.
In diesem Sommer, als Eure Exzellenz mit dem Stabe Ihrer Herrn Minister zu Festesfeiern in die vom Feinde geräumten Provinzen reisten – in diesem Sommer und aus Anlaß dieses Befreiungsfestes bewilligte der Reichstag einen neuen Gnadenerlaß, der auch uns ›Fememördern‹ endlich die Freiheit bringen sollte. Aber der Reichsrat legte Einspruch ein – da wurde nichts draus. Wenn Sie in diesem Augenblicke ein Wort gesprochen, leise nur einen Wunsch geäußert hätten – kein Minister hätte gewagt zu widersprechen: wir alle wären heute frei. Eure Exzellenz fanden das Wort nicht!
So sollen wir denn verfaulen in unsern Löchern!
Nun kommt meine Bitte, Exzellenz. Ich bat nie um Gnade; gegen meinen Willen hat man mir diese Gnadenbeweise aufgezwungen. Ich will sie nicht, ich verachte sie. In Ihrem Namen, Herr Reichspräsident, und im Namen des deutschen Volkes hat man mich zum Tode verurteilt.
Ich bin fertig mit dem Leben. Oft genug hat man mir gesagt, daß man mich schon mürbe machen würde. Nun gut: man hat mich mürbe gemacht. Und darum erbitte ich jetzt eine wahre Gnade: lassen Sie das Todesurteil vollstrecken!
Es gibt manche Hinrichtungsarten in Deutschland. Beil, Schwert, Guillotine – auch, für den Soldaten, die Kugel. Es ist mir gleichgiltig, wie es geschieht, ich habe keinen Ehrgeiz für die letzte Minute. Ich habe alles verloren für Deutschland, Verlobte und Schwester, drei Brüder, Vater und Mutter. Viele treue Kameraden – überall in Europa faulen ihre Knochen. Wofür nur, wofür? Und das letzte, das mir blieb, das einzige: die Hoffnung auf Deutschland – das, Herr Generalfeldmarschall von Hindenburg, zerbrach in den Jahren Ihrer Präsidentschaft –
So macht endlich ein Ende: hängt mich auf am Schinderstrick, schlagt mich tot mit einem alten Klosettdeckel, wie's euch beliebt!
Das, Exzellenz, ist die Bitte, die ich gehorsamst an Sie zu richten wage.«
* * *
Er legte den Bleistift hin, starrte auf das Papier. Aber er konnte nichts lesen, keine Zeile, kein kleinstes Wort. Kein Gedanke mehr, leer schien sein Schädel, wie ein fauler, ausgedrückter Schwamm sein armes Hirn. Schritte draußen – kamen sie schon ihn zu holen?
Nur der Schließer mit der Morgenbrühe? Er schob ihm die Bogen zu; sandte sie dem Anwalt – der sollte sie abtippen lassen – auf große Aktenbogen, wie sich's gehörte.
Hans ten Brinken brachte ihm die Abschrift. »Wenn ich raten darf –« begann er.
Gerhard schüttelte den Kopf. »Nein.« Er setzte seinen Namen drunter, reichte ihm die Bogen zurück. »Du mußt alles tun, daß er's zu Gesicht bekommt, hörst du? Du, Paul Hornemann, alle – ihr müßt ihm meine Bittschrift bringen. Er muß sie lesen!«
Brinken nickte. »Wir werden's versuchen. Doch kann Hindenburg nie die Bitte gewähren. Einmal begnadigt – das kann niemand rückgängig machen! Weder Verfassung noch Gesetz gibt dem Reichspräsidenten das Recht –«
Gerhard riß ihm das Papier aus der Hand. »Nicht einmal das kann er? Nicht einmal das?« Er zerriß die Bogen in kleine Fetzen, streute sie in die Luft. Lachte laut.
Der Freund legte ihm die Hand auf den Arm. »Gerhard«, sagte er, »Gerhard –«
Er hörte ihn nicht. Lachte, lachte – wollte nicht aufhören mit Lachen.
* * *
Im Oktober kam die neue Amnestie – diesmal legte der Reichsrat keinen Einspruch ein. Aber Gerhard blieb, wo er war: nun begann seine Zusatzstrafe, noch vierzehn Monate wegen Beamtenbeleidigung und Körperverletzung. Er las nichts, lehnte jeden Besuch ab, sprach nicht einmal mehr mit Schließer und Kalfaktor. Stumm wurde er und stumpf, saß stundenlang auf seinem Schemel, stand unbeweglich auf einem Fleck oder lief hin und zurück. Er schlang gierig sein Essen, ließ es dann wieder unberührt stehn. Matt wurde sein Blick, gebrochen und trüb – wie ein Tier stak er im Käfig.
Das waren die sechsten Weihnachten in der Zelle.