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Heraklit um 500 vor Christus.
»Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König. Die einen macht er zu Göttern, die andern zu Menschen; die einen zu Sklaven, die andern zu Freien.«
Weltkrieg 1914-1921.
»Dieser Krieg machte viele zu Göttern: Joffre, Foch, Clémenceau, Lenin, Masaryk, Pilsudski. Er machte zu Menschen: die Russen; zu Freien: die Polen und Tschechen; zu Sklaven: die Deutschen.«
Oberschlesien, Mai 1921.
Spätnachmittag im Mai; zwei Hauenburger hockten auf dem Brunnenrand, schauten über den Dorfplatz. Hinten vor einer alten Scheune saßen und standen ein Dutzend Männer herum, reinigten Gewehre und Pistolen. Wilde Jungens, hemdärmlig; krachlederne Hosen sah man, Gamsbarthüte, breite Ranzen um die Leiber. Nur: hübsch verteilt, der hatte dies, der andre das. Daneben Gamaschen oder Wadenstrümpfe, Schnürschuhe oder Ackerstiefel, Wollwämser, Joppen oder Windjacken, lange Hosen oder kurze, wie's eben kam: der hatte ein Krätzchen, der eine Reisemütze. Einer nur mit Stahlhelm; der Mann neben ihm trug, tief in den Nacken gezogen, ein knallneues, graues Melonenhütchen. Von einer Linde hing ihr Fähnlein herab: schmale grüne Streifen, auf dem weißen Felde ein roter Adler.
»Eine Wonne, wie die herumputzen«, lachte Hornemann. »Was sind's für Burschen?«
Scholz nickte. »Tiroler vom Sturmzug Draxler – kenn sie von der windischen Hatz. Drunten bei Völkermarkt. Die beißen. Gehören zum Freikorps Oberland.« – Er zog, ein wenig mühsam, mit der Hand die Windjacke hoch, die von der linken Schulter herabgerutscht war; nur der rechte Arm stak im Ärmel, der andre hielt sich am Hosengurt fest. »Ich wollte, die Megäre wäre fertig; könnte mich verarzten.«
Leutnant Paul Hornemann warf einen Blick zum Dorfkrug, auch da wehte ein Fähnlein – rotes Kreuz mit dem Oberländer Edelweiß in der Gösch. »Wird schon kommen, die Schwester Pia. Nur Geduld, mein Söhnchen – kennst ja ihre sanfte Art vom Baltenland her. Weißt du, wer sie jetzt hergeschickt hat nach Oberschlesien? Der Sauerbruch, der Münchner Chirurg. Oberländer kamen zu ihm, um Sanitätertornister zu schnorren – da fing die Pia Feuer, machte die ganze Universitätsklinik wild und den Professor dazu. Der ließ Sturm läuten, stellte eine Abteilung feldmarschmäßig zusammen. Auf eigne Verantwortung, eigne Kosten – Prachtkerl, der Sauerbruch! Karbolfreikorps, das einzige, das die Welt je sah – hat sich den Oberländern angeschlossen.«
Sie saßen und warteten. Hornemann pfiff, falsch genug, das Hoferlied mit, das die da drüben sangen, schlug mit der Reitpeitsche den Takt. Als die Tiroler schwiegen, versuchte er's auf eigne Faust: »– – mit ihm sein Land Tiro–a–ol –« Aber er kam nicht weit.
»Wann wird der Eggeling zurück sein?« fragte Scholz.
Hornemann zuckte die Achseln. »Weiß nicht. Ich hab hinterlassen, wo wir sind: er solle gleich herfahren!«
»Hoffentlich hat er ausgefunden, was wir wissen wollen«, sagte der Oberleutnant. »Wir müssen der Sache auf den Grund kommen.«
Der andre nickte. »Es ist eine Sauerei – zum drittenmal schon hat uns der Pole Verbindungsposten abgeschossen! Und jedesmal, grad als die ablösende Streifwache weitergegangen war. Also wurde ihnen aufgelauert und also muß es verraten sein – von jemandem, der verdammt gut Bescheid wußte. Aber der Eggeling wird's schon aufdecken; auf den ist Verlaß.« Er summte:
»Als ich noch klein war,
Mein Herz noch rein war,
Trotz größtem Flei–iße
War alles – – scheinbar!«
Scholz seufzte: »Das hab ich heut schon zwanzigmal gehört. Kannst du nichts andres?«
»Nee!« meinte der Leutnant.
»Dann sing's wenigstens richtig!« schimpfte Scholz.
Hornemann blickte ihn entrüstet an, stellte fest: »Wenn einem singerisch zumute ist, möchte man singen – ob man nun musikalisch ist oder nicht. Wenn's nicht klappt – was soll man machen?«
»Maul halten!« entschied Scholz.
Eine Frauenstimme klang über den Platz. »Scholz! Oberleutnant Gerhard Scholz!«
Die beiden schlenderten zum Dorfkrug, stiegen die paar Steinstufen hinauf. Im Flur stand die Schwester, redete auf einen Burschen ein, dem der Kopf im Wickelverband stak. Vorn lugten Nase heraus und Mund, darüber die Augen –
»Also nicht saufen«, schalt die Schwester, »hörst du? Ruhig hinlegen – laß den Schädel nur brummen. Morgen kommst du wieder.« Sie beugte sich hinab, schob ihm die verrutschte Wickelgamasche zurecht. Da witschte ein andrer die Treppe herunter, drei Paar blankgeputzte Stiefel in den Händen. Einen Augenblick stutzte er, grinste, setzte die Stiefel auf die Treppe, knallte ihr mit mächtigem Schwung die flache Hand auf den stattlichen Hintern.
»Schinkenkloppen!« johlte er.
Im Nu fuhr die Schwester herum, aber der Bengel war flinker – rasch die Stiefel auf und zur Tür hinaus.
»Na warte, Bürschchen«, lachte sie, »wenn du mir unter die Finger kommst!«
Sie war garnicht ärgerlich. Ein bißchen rauh der Ton im Lager, rauh, aber herzlich – das kannte man doch. Laß den Jungs ihren Spaß! Jahr um Jahr beim Kriegsvolk – da vergißt man das Schamigtun. Aber nichts sonst, garnichts – keiner wußte von keinem, der die Schwester jemals im Bette hatte. Die Landsknechte schwuren darauf, daß sie noch eine Jungfer sei.
So war die Schwester Pia. Mittelgroß, schlank eigentlich; aber vorn und hinten gab's was zu sehn. So ein richtiger strammer Pummel, dreißig Jahre und mehr, die braunen Haare unter die Haube gezwängt, rotwangig wie eine Kuhmagd. Der breite Mund konnte lachen mit zwei Reihen Prachtzähnen – zweiunddreißig Stück und keine Goldplombe drin. Klein die Nase, stupsig, aber zwei frohe Braunaugen drüber, braun wie das Jod, das sie in fantastischen Mengen verschwendete. Jod – das macht jeden Lümmel zahm, dachte sie.
Sie streckte ihnen beide Hände entgegen. »Paulchen Hornemann, du auch da? Und du, Scholz – wann sahn wir uns zuletzt? In Mitau, was? In der Konstantinsgasse – damals wart ihr in der Legion des Kaptän Siewert.«
Sie plauschte drauflos, wiegte sich in den Hüften, sauber und schmuck, in voller Tracht mit all ihren Orden: Rote-Kreuz-Medaille, Luisenorden, Ludwigkreuz, Sidonienorden, Schlesischer Adler, Baltenkreuz –
»Große Kriegsbemalung?« fragte Hornemann. »Was gibt's denn heute?«
»Der Kommandeur kommt her«, erklärte sie, »kenn ihn noch nicht, muß mich vorstellen. Major Horadam heißt er.«
»Ein richtiger Major, sieh doch an!« rief der Leutnant. »Unser Korps führt ein Fähnrich.«
Schwester Pia nickte. »Weiß ich – Hänschen Hauenburg. Ist noch nicht zwanzig und hat vier Kompanien. Fixer Junge. Doch vor mir hat er Angst, seit ich ihn einmal vorhatte – der reitet lieber drei Stunden weit zum schäbigsten Lazarettflicker. Fürchtet sich nicht vor dreitausend Polacken und reißt aus vor drei Tropfen Jod. Genug geschwatzt nun – zieh die Jacke aus, Scholz, wo tut's denn weh?«
Scholz gehorchte; sein Freund half ihm den Hemdärmel hochstreifen.
Die Schwester löste die schmutzigen Lappen von Schulter und Oberarm. Ihre Stimme schlug um, klang nun streng. »Schweinerei, Oberleutnant, Sie sollten auch langsam ein wenig mehr davon verstehn.« Kein kameradschaftliches ›du‹ mehr, ein scharfes, fuchtiges ›Sie‹. Sie zog ihn ins Zimmer, dicht ans Fenster. »Erzählen Sie – wie und wann?«
»Vor zwei Stunden etwa«, berichtete Scholz. »Einer von euren verdammten Motorradkerls – da scheute mein Gaul. Lag auf dem Pflaster; ich drunter.«
»Hübsche Quetschung« stellte sie fest. »Bluterguß nach innen.« Sie wusch die Wunde, schnitt mit der Schere Hautlappen ab. Jod – und nun Binden herum. Wie sie ihm den Hemdärmel herunterstreifte, bemerkte sie einen Fetzen um den Zeigefinger. »Na, und das da? Weg damit!«
Scholz hatte genug. »Ach, lassen Sie nur, Schwester. Ist garnichts – ein bißchen gestoßen nur!«
Aber Schwester Pia kannte ihre Pappenheimer. »Nichts da! Befehlen Sie draußen und gehorchen Sie im Lazarett, wenn's beliebt. Schon wieder so ein dreckiges Sacktuch – zehn Tage im Gebrauch, Nasenputzen, Schweißwischen, Stiefelreinigen – und dann rauf auf die Wunde. Haben Sie mal was von Tetanus gehört? Denken wohl, daß das ein Käse sei?«
»Aber, Schwester«, versuchte Hornemann kleinlaut, »wir hatten doch nichts andres. Ich gab ihm mein letztes.«
Die Schwester hörte nicht hin. Nichts gab's mehr auf der Welt für sie, nur den Finger da. Sie wusch ihn ab, sorgsam, wie ein kleines Mädchen sein Badepüppchen. »Häßlich«, murmelte sie, »häßlich!« Sie hieß ihn sich setzen, kniete vor ihm. »Halt ihm den Arm«, befahl sie Hornemann. Sie arbeitete los, als ob sie eine Handarbeit mache – o ja, das konnte sie, beste Schwester aus Sauerbruchs Klinik.
Gerhard biß die Zähne zusammen, schloß die Augen. Vorn an der Fingerspitze, hübsch an der Nagelwurzel – noch ein Fetzchen Fleisch herunter und noch eins. »Au«, stieß er hervor, »autsch! Hol's der Satan!«
Sie zischte: »Sing nur, Vögelchen, sing! Hör hübsch zu – sind die Engelein, die oben im Himmel dir ein Liedchen pfeifen. Die haben Mitleid mit deinem Wehwehchen!«
Scholz hielt die Klappe, kniff sich mit der rechten Hand ins Ohrläppchen, stieß in langen Zügen den Atem heraus.
Jod und Verbandzeug. Endlich war sie fertig. »Hat's weh getan?« lachte sie gutmütig. »Du mußt das doch kennen; sag mal: wie oft warst du eigentlich verwundet?«
»Achtmal«, knurrte er, »oder neunmal. Solch kleinen Dreck nicht gerechnet. Aber es scheint, ich hab wenig Talent dazu – kann mich durchaus nicht dran gewöhnen.«
Sie packte ihr Verbandzeug fort. »Warte, ich werde dir eine Armbinde geben; mußt den Arm drin hängen lassen.« Weich klang es jetzt, wie ein verhaltenes Mitleid, wie ein Hauch großer Menschengüte. »Wie alt bist du eigentlich? Ach, ich weiß schon: sechsundzwanzig, siebenundzwanzig – siehst älter aus. Sieben Jahre im Krieg – ein bißchen Lazarett dazwischen. Bist ein starker Bursch, Sehnen und Muskeln – kein Lot Fleisch zuviel, wie eine Tanne so schlank. Und bist doch ein armes Vögelchen – drinnen singt es und träumt. Flieg überfeld, Vögelchen, nimm dich wohl in acht, daß sie dich nicht in den Käfig stecken.«
»Keine Angst, Schwester Pia«, gab er zurück. »Mich wird der Pole nicht fangen.«
»Der oder ein andrer«, murmelte sie, »wer mag das wissen?« Sie unterbrach sich. »Wo sind die Binden? – Aber freilich, die sind ja oben.« Sie ging zur Tür, rief hinauf: »Schwester Martha! Eine schwarze Armbinde!«
Keine Antwort. Sie lauschte, begann wieder: »Schwe–!«
Sie stockte plötzlich. Zögernd kam es heraus, lauernd fast: »Geh selbst hinauf, Scholz, klopf an die zweite Tür. Sag der Schwester Martha, sie solle dir eine Armbinde geben.«
Der Oberleutnant nickte; leicht klangen seine Schritte von der Treppe. Hornemann wollte ihm folgen, aber die Schwester hielt ihn zurück.
»Nein, bleib du«, sagte sie, »bleib.« Sie lauschte. Man hörte das Klopfen, dann seine Stimme: »Schwester Martha, Sie möchten mir eine Arm –«
Schwester Pia schloß die Tür. »Der wird sich wundern – und sie auch. Weißt du, Leutnant, wer das ist, die Schwester Martha? Solltest sie auch kennen – vom Baltenland her. Denk mal nach: Sommer neunzehn! Das bleiche Mädel, das als Rekrut Lili mit der Kolonne Kleist ritt.«
»Was – die?« dehnte Paul Hornemann. »Die wilde Lili? Hab sie einmal nur gesehn. Aber ich weiß, daß Gerhard sie eine Zeitlang bei sich hatte. Hundert Geschichten gingen von ihr um, recht üble zum Teil.«
»Setz dich her«, forderte die Schwester, »sag mir, was du von ihr weißt. Alles, was dir Scholz erzählt hat.«
Der Leutnant schüttelte den Kopf. »Der? Nie eine Silbe. – Hab nur da oben von ihr gehört. Klatsch und Tratsch, weiß nicht, was davon wahr ist. So fängt's an: sie soll garnicht Lili heißen, sowenig wie Martha. Soll aus baltischer Baronsfamilie sein. Soll – soll! Als sie sechzehn war, oder siebzehn, kamen die Bolschewiken, brannten das Schloß nieder. Können auch rote Letten gewesen sein. Brannten, raubten, schlugen tot – vor ihren Augen – Vater, Mutter und Brüder. Gleich die ganze Familie, wie das so Mode war damals. Und die Lili und ihre Schwestern – nun – Volkesfreude: gestern die schwarzen Judenmädchen, heute die blonden Baltenfräulein; da will jeder Lump mal ran. Die Schwestern gingen drauf bei dem Tanz – die kleine Lili aber las nach Tagen ein Bauer vom Misthaufen auf. Man sagt, daß sie eines Tages beim Freikorps von Brandis auftauchte, in Uniform, die sie einem toten Soldaten am Wege abnahm. Pistolen im Gürtel, die Knarre im Arm. Später zog sie mit Major Bischoffs Eiserner Division, dann – na, einerlei, bei manchem Trupp war sie, überall da, wo was los war. Es hieß, daß sie nach jedem Gefecht auf ihrem Panjepferdchen überfeld ritt, hübsch in der Nacht, daß sie jedem verwundeten Feind, den sie fand, höchst eigenhändig eine Kugel in den Schädel jagte. Man sagte auch, daß sie es bald mit dem hielt und bald mit jenem – wer grade ihr Beschützer war – vermutlich war sie auf den Geschmack gekommen.«
Schwester Pia nickte. »Ja, das schwatzt man, all das und noch viel mehr. Im Lager zu Jakobsstadt war sie mit einem Reitertrupp des Fürsten Avaloff; ein weißrussischer Kornett hatte sie damals. Dem war sie wohl über; kurz, als er alles versoffen hatte, verloste er den Rekruten Lili. Eine wüste Nacht – dreißig Heldensöhne und alle wie die Säue voll. Dirksen gewann sie, der einbeinige Rittmeister vom Freikorps Graf York – der später bei Schaulen fiel. Dann, früh am Morgen, geriet der Scholz in die wilde Gesellschaft; nüchtern war er, wie immer. Er sah sie, sprach mit ihr. Der Rittmeister, besoffen, daß er nicht mehr aus den Augen sehn konnte, verkaufte sie ihm – nun blieb sie bei Scholz. Der behielt sie, bis das Abenteuer da oben zu Ende war. Er war einer der letzten, die heimkehrten über die Memel; er mußte sie zurücklassen, versprach ihr, sie nachkommen zu lassen, sowie das nur möglich sei.«
»Und hat es nicht getan«, sagte Hornemann.
Die Schwester wiegte den Kopf. »Nein, das tat er nicht. Man brachte sie mir nach Mitau ins Lazarett – Typhus. Sie wartete, wartete; kein Wörtchen von ihrem Schatz. Als unsre Jodbude aufgelöst wurde, nahm ich sie mit – meingott, wo sollte sie sonst hin? Also nach München – gleich in die Klinik. Sie lernte rasch; hat Begabung zur Krankenpflege. Seit der Zeit haus ich mit ihr zusammen.«
Der Leutnant pfiff: »Na – und seither ist sie tugendhaft?«
Schwester Pia nickte. »Das ist sie; ich glaube, sie hat Gerhard Scholz nicht vergessen – der steckt ihr noch in den Knochen. Darum hab ich ihn eben hinaufgeschickt, und darum red ich jetzt mit dir. Du mußt mir helf–« Sie unterbrach sich. »Sag mal, willst du endlich die Pfoten aus den Taschen ziehn? Was suchst du eigentlich?«
Hornemann sang: »Als ich noch klein war –« Er entleerte die Hosentasche, schüttete ihr den Inhalt auf den Schoß. »Da, Schwester, das ist alles, was ich besitze!« lachte er.
Sie betrachtete die Herrlichkeiten: ein schmutziges Notizbuch, drei alte Schrauben, ein verknäulter Bindfaden mit einem Fischhacken, ein Bleistiftstümpchen, ein verrostetes Feuerzeug, zwei Patronenhülsen, ein zerbrochener Schlüssel, den man aber noch gut zum Pfeifen benutzen konnte. »Fehlt nur die Schachtel mit dem Maikäfer«, lachte sie. »Viel anders wird das auch nicht ausgesehn haben, als du zur Klippschule gingst. Aber ich seh schon: eine Zigarette suchst du.«
»Du merkst auch alles«, gab er zurück. »Aber nein – nur halb alles. Ich könnte noch etwas gebrauchen – ein Taschentuch. Kann man eins von dir erben?«
»Kann man«, nickte sie. Sie stand auf – zog eine Schublade auf. »Hier, mein Junge.«
Er schnaubte sich die Nase nach Herzenslust. »Danke schön. Und nun schieß los; wenn ich kann, helf ich gern.«
»Also hör zu, Leutnant«, begann sie. »Du kennst mich ja, weißt, daß ich nicht gern einen aus den Fingern lasse, der nicht völlig gesund ist. Körperlich ist sie längst beieinander, die Schwester Martha, aber es scheint mir, daß sie doch noch irgendwo einen Knacks hat. Will man aber einen Kranken gesund machen, muß man die Vorgeschichte der Krankheit kennen. Da hapert's, davon habe ich noch keine Ahnung. Das geht so weit, daß ich nicht mal ihren Namen weiß.«
»Frag sie doch«, schlug er vor.
»Grad so gut kann ich den Mond fragen«, erwiderte die Schwester. »Sie mußte doch Papiere haben; ohne Ausweis ist man kein Mensch – und sie besaß nichts. Es hat Mühe gekostet, aber schließlich habe ich für sie einen Nansenpaß bekommen. Also gut, als es so weit war, fragt mich der Paßmensch nach ihrem Namen. ›Martha‹, sag ich. ›Sonst nichts?‹ verlangt er. Ich sage: ›Lili‹, und er schrieb's auf. ›Nachname?‹ fragt er. ›Schreiben Sie, was Sie wollen‹, sag ich, ›ich kenn ihn nicht.‹ Der Mann legt die Feder weg, will nicht. Aber ich hatte höchste Empfehlung, von meinem Professor, weißt du; dem tut man schon einen Gefallen. Schreiben Sie ›Unbekannt‹, schlag ich vor. ›Nein, das geht nicht‹, meint er. Er besann sich, dann hatte er einen schlauen Gedanken. Er schrieb, reichte mir stolz den Paß – da stand Martha Lili Ignota. So also heißt sie seither. Gerhard Scholz hat dir nichts erzählt, sagst du – hast du ihn jemals gefragt?«
»Nein, nie«, gab Hornemann zurück.
»Ich hab das Mädel hundertmal gefragt – so hintenrum, harmlos und arglos – jede andre war drauf reingefallen. Sie nicht – sie sieht mich an und schüttelt den Kopf. Ich glaube, sie stammt aus großem Hause, ist sehr sorgfältig erzogen, spricht Französisch, Russisch, Englisch und Italienisch. Versteht Griechisch, Hebräisch, Lateinisch und was nicht noch. Weißt du, daß sie in München, so ganz nebenher, ihr Maturum gemacht hat? Sie will nun Medizin studieren.«
»Meinen Segen hat sie«, sagte der Landsknecht.
Schwester Pia lachte. »Ich werd's ihr ausrichten, sie wird gewiß dankbar sein. Sie singt auch, spielt Klavier wie der Satan, kennt alles und ist sehr musikalisch. Als sie sich zum Examen vorbereitete, fand ich bei ihr einmal auf den Rand eines Bogens Wappen hingekritzelt – ich sag dir, sie zeichnet wie's Donnerwetter. Gut also, ich nahm den Bogen, zeigte ihn einem unsrer Assistenzärzte, der aus Riga stammt. Der wußte Bescheid mit den Wappen: da war die Lilie der Fürsten Lieven, der Drache der Barone Drachenfels, der Panzerarm der Oelsen, die Löwen und Äxte der Meyendorff; kurz, der halbe baltische Adel war beisammen, gleich dutzendweis. Woher sollte sie das wissen, wenn sie nicht selber zu der Gesellschaft gehörte? Endlich – mit jedem Freikorps zog sie herum in Livland und Kurland, mit den Yorkschen Jägern, mit den Kosaken des Generals Wirgolitsch, mit den Roßbachern, der Batterie Schlageter und manchen noch. Nur mit einem Trupp nicht: mit der Baltischen Landeswehr. Wo die war, verschwand Rekrut Lili. Warum?«
»Das ist doch klar«, antwortete Hornemann. »Da kämpften ihre Landsleute – sie aber wollte keinen sehn, den sie von früher kannte. Eine Hölle lag dazwischen – zwischen dem, was nun war, und dem, was früher einmal war.«
Die Schwester nickte. »So wird's wohl gewesen sein. Und darum glaub ich: es hat seine Richtigkeit mit dem, was sich unsre Leute erzählten an der Windau und der Düna: Brand, Raub, Mord, Schändung – zum Teufel die ganze Familie. Das war das rasende Feuer, in dem die Komteß zu Asche brannte und aus dem das Phönixchen Lili mit versengten Flügeln hervorging. So wuchs in ihr ein unbändiger Haß – darum zog sie herum mit dem Heerhaufen.
»Und das ist, glaube ich, bei ihr das Ursprüngliche und hemmungslos Treibende: Haß. Du merkst nichts davon; sie ist still und sehr wohlerzogen. Es heißt, daß es losgeht in den nächsten Tagen: ich werde mich wohl hüten, einen verwundeten Polen in ihren zarten Händen zu lassen. Dann ist noch ein andres da – so begraben, wie ihr Haß ist – auch davon merkst du nichts, und sie spricht nicht davon. Das ist ein Ehrgeiz, der jede Fiber ihres Leibes erfüllt. Aber ganz gewiß ist, daß er da ist – so stark, so glühend, wie ich es nie bei einem andern Menschen sah. Endlich ein Drittes. Und das ist es, warum ich dir diese Geschichte erzähle.«
Sie stand auf, zog vom offenen Fenster den zerrissenen Vorhang zurück, blickte hinaus. Letzte Sonnenstrahlen hingen über dem Dorfplatz, küßten den Roten Adler des Tiroler Fähnleins. Einer saß auf der Bank unter der Linde, griff in die Zither, die auf seinen Knien lag. »Der Hallodri!« lachte sie. »Das ist der, der mir vorhin eins draufgeknallt hat. Wo der nur die Zither herhat?«
Die Klänge zogen über den stillen Platz, dann sang es:
»Schiani Wirtshäus, ja die kenn i,
So a drei an der Zahl,
In aan lump i, in aan pump i,
In aan raaf i amal!
Schiani Diandlan, ja die kenn i,
So a drei an der Zahl,
's aani liab i, 's aani fopp i,
's aani heirat i amal!«
»Hübsch singt der Bursch«, seufzte Hornemann, »möcht's auch so können.«
Schwester Pia kam zurück; fuhr ihm mit der Hand durchs braune Haar. »Na, tröst dich – dafür bist du ihm bei den Dirndeln über.« Sie zog einen Stuhl heran, setzte sich zu ihm. Sehr leise, flüsternd fast, kamen ihre Worte.
»Ich wußte, daß ihr herkommen würdet nach Oberschlesien, du und Scholz – wenn einer kam, mußtet ihr zwei kommen. Das war der Grund, warum ich sie mitnahm: ich glaube, sie liebt ihn. Sie fantasierte von ihm in ihren Fieberträumen in der Typhusbaracke in Mitau. Nichts von ihren Eltern und Geschwistern, nichts von der Mordnacht, nichts von all dem, was sie erlebte in dem brandroten neunzehner Jahr – nur von dem einen Mann. Als sie eingeliefert wurde ins Krankenhaus, war sie nackt und bloß, besaß nichts – Waffen und Uniform hatte man ihr abgenommen. Nur eins hatte sie, das hielt sie fest, um das krampfte sich ihre bleiche Hand. – Sag mal, Paulchen, hast du in der Tasche auch so ein Maskottchen? So ein Dings, das Glück bringt?«
Hornemann suchte, zog einen Granatsplitter heraus.
Schwester Pia lachte. »Dacht ich mir's doch! Ein bißchen verdrallt seid ihr ja alle. Das Ding bringt dir Glück, was? Macht dich hiebfest und kugelfest – was nicht hindert, daß du seither schon ein dutzendmal wieder verwundet wurdest! Willst du's nicht wegwerfen – oder mir schenken?«
Der Leutnant schob den Splitter in die Tasche zurück. »Man kann nicht wissen«, sagte er kleinlaut, »immerhin –«
»O gewiß«, rief Schwester Pia, »immerhin! Immerhin: es hätte ja noch schlimmer kommen können! Immerhin: und schaden kann's ja nicht! Ich kenn sie alle, eure ›Immerhins‹! – Seit wie lange trägst du den Splitter mit dir herum?«
Er besann sich. »Seit – sechs Jahren nun. In der Tasche. Vorher noch ein paar Wochen im Bein.«
Die Schwester nickte. »Ganz recht, seit Frühjahr fünfzehn. Und dieselbe Granate deckte euch beide zu, dich und deinen Freund Gerhard. Der bekam auch so ein liebes Glückbringerchen als Andenken; zwischen den Rippen schnitt man es ihm heraus. Bloß: er hat seins verschenkt. Meiner Freundin, der Lili: das war das Ding, das sie nicht loslassen wollte im Krankenbett. Tag und Nacht fantasierte sie davon, immer in Angst, daß man ihr das Stückchen Eisen wegnehmen wolle – daher weiß ich die Geschichte.«
»Na, siehst du, Schwester«, meinte der Leutnant. »Du bist ja erhaben über so was, du vergißt nie, daß dein Alter Gymnasialprofessor war, Mathematik und Physik lehrte. Aber mir macht's Spaß, daß die Lili, trotz all ihrer Klugheit und großen Bildung, auch ein bißchen abergläubisch ist.«
»Nein, das ist sie garnicht«, erwiderte sie, »keinen Augenblick glaubte sie, daß es ihr helfen würde. Sie hatte einen andern Grund: der Eisensplitter war gefärbt mit seinem Blut, stak in seinem Leib – einen halben Zoll nur von seinem Herzen. Und es war das einzige, das sie von ihm hatte. Darum! Sie liebt ihn. Mehr noch: sie glaubt an ihn; glaubt, daß ihr Haß auch der seine sei, daß ihr Ehrgeiz auch in seinem Hirn brenne. Glaubt, daß er – und sie mit ihm – berufen seien. Wozu? Ahnst du, was sie meint?«
Hornemann schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung –« Er zögerte, riß die Augen weit auf, stierte sie an. » Berufen – der Scholz?« Er lachte kurz auf: »Komisch!«
»Was ist komisch?« fragte sie.
»Daß ich nie daran gedacht habe«, gab er zurück. »Ich kenn Scholz nun viele Jahre, sang mit ihm und trank mit ihm, watete knietief mit ihm durch den dicksten Dreck – nie kam mir solch ein Gedanke. Bis zu diesem Augenblick nicht. Es ist fast, als ob du mir das eingeblasen hättest.«
Die Schwester horchte auf. »Was denn? Nun, so geht mir's auch, genau so. So was steckt an, scheint's, wie Masern. Niemals sprach mir Lili davon, aber sie dachte es, das ist gewiß. Träumt es, wirr nur und formlos. Was sie träumt, nahm von mir Besitz und nun, durch mich, auch von dir. Du hast recht: komisch! Und nun verstehst du, was ich von dir will. Wenn ihr Gefühl recht hat, wenn er – mit ihr und durch sie – berufen ist, mehr zu sein als der kleine Führer eines winzigen Trupps – wenn einmal Zehntausende ihm folgen sollen und Millionen vielleicht, dann müssen wir beide ihm helfen.«
Paul Hornemann schwieg, sah sie an. »Schwester«, sagte er endlich, »ich bin ein einfacher Mensch, hab wenig Fantasie und gewiß kein Pathos. Daß ich Freischärler bin – weißt du, ich bin so mitgelaufen. Man war einmal drin in dem Trott, lernt nicht so leicht um. Dann auch, weil mich das Leben da draußen ankotzt. Ich hab mir auch eingebildet, daß es kein Geschöpf auf der Welt gebe, das so nüchtern sei wie die Krankenschwester, die auf den schönen Namen Pia hört. Und nun kommt eben diese Person, Pia, die Megäre, Pia, die Jodtante – na, du kennst ja all deine Kosenamen – und verlangt ausgerechnet von mir, daß ich ihr helfe, aus Gerhard Scholz einen –. Aus ihm, der gewiß ein warmes Herz hat, aber so hundeschnäuzig kalt ist, daß ihn kein Mensch je in Erregung gesehn hat, der nie mehr als fünf Sätze hintereinander gesprochen hat –« Er brach ab. »Donnerwetter, mach doch das Fenster zu, man versteht ja sein eigen Wort nicht!«
Draußen zog ein Trupp vorbei, brüllend und johlend. Die Schwester sah hinaus, lachte gutmütig. »Sind eure Leute, Paulchen, sind Hauenburger, schwarze Fahne mit gelbweißem Winkel. Na ja, was ihr so Gesang nennt! Kiesewetterverse und Lahnwirtinstrophen sind Waisenmädchenlieder dagegen. Ach, laß nur, Landsknechte sind keine Heilssoldaten, wie ich keine Säuglingsschwester bin.«
Sie sah den Davonziehenden nach, wandte sich zurück. »Du brauchst nichts weiter zu sagen, ich weiß, daß du helfen wirst – den beiden da oben. Schicksal!«
Die Tür ging auf, Scholz kam herein.
»Was, keine Armbinde?« fuhr sie ihn an.
Er schüttelte den Kopf. »Die Schwester Martha rief durch die Tür, ich möge warten. Ich wartete also, setzte mich auf die Treppe. Schließlich wurd's mir zu lang – ich kann doch nicht da übernachten.«
Schwester Pia entrüstete sich: »Du hast sie nicht gesehn?«
»Nee«, rief er. »Sie macht wohl Toilette für den hohen Besuch eures Herrn Kommandeurs.«
»Zum Teufel – Schicksal!« lachte Hornemann.
Pia war gleich bei der Tür, aus voller Lunge schrie sie: »Martha, Schwester Martha! Die Armbinde! Sofort!«
Nach einer Weile kam die Antwort, hell und singend. »Ja – ja, ich komm schon.«
Tritte auf der Treppe; dann war sie da. Rotkreuztracht, wie Schwester Pia; nur die Orden fehlten. Helles Blond unter der Haube, das ein wenig ins Rötliche schimmerte. Aquamarine die Augen, dazu die Gesichtsfarbe baltischer Frauen, wie Pfirsichblüten so blank. Sehr hoch die Stirn, um ein kleines zu stark die Backenknochen, und der Mund ein wenig zu groß; ein verlorenes Lächeln auf den geschlossenen Lippen. Schlank, knabenhaft die Figur.
»Hier ist die Binde«, sagte sie.
»Was hast du so lange gemacht?« schalt Schwester Pia. »Leg sie ihm um, dem Oberleutnant Scholz – da steht er.«
Die Schwester zuckte zusammen, starrte ihn an, nur eine Sekunde lang. Dann trat sie scheinbar ruhig auf ihn zu. Scholz wandte sich, hielt ihr den Arm hin. Erkannte sie. »Du?« sagte er, »wo kommst du her?«
Draußen hupte es. Ein schwerer Hotchkisswagen fuhr vor, der Fahrer in englischer Uniform hielt dicht unter der Rotkreuzflagge. Aus dem Auto scholl eine helle Stimme: »Ist Scholz drinnen?«
Ein junger Bursch sprang die Steintreppe hinauf.
»Dir geht's ja gut, Eggeling«, rief Hornemann dem Eintretenden entgegen. »Kommst im englischen Auto – Mensch, wo hast du die Breeches her?«
Der Bursch trat zu Scholz, grüßte leicht. »Auftrag erledigt, Oberleutnant – ich kenn den Verräter, weiß den Namen und alles.« Dann wandte er sich an Hornemann: »Die Breeches? Von meinem Freunde geerbt, dem Major Seagrave von der Hohen Internationalen Abstimmungskommission! Die Puttees obendrein! Euch hab ich auch was mitgebracht – da schaut her – Camels, Lucky Strikes, Three Castles – bitte nur auszusuchen.« Er zog ein Dutzend Zigarettenpäckchen aus der Tasche, warf sie auf den Tisch.
»Also Bericht!« forderte Scholz.
»Alles hat tadellos geklappt«, lachte der Landsknecht. »Der Major biß gleich an, als er gestern abend meinen Brief bekam; schickte mir in aller Frühe seinen Wagen, Ich sagt euch ja, daß er mein dicker Freund sei, von der Insel Man her, wo die Katzen ohne Schwanz rumlaufen. Als die Engländer mich aus dem Wasser vor Ypern auffischten und in ihr Feldlazarett trugen, lag er neben mir; schon damals befreundeten wir uns. Dann wurden wir getrennt; ich kam nach Oswestry ins Gefangenenlager. Nach ein paar Monaten aber wurde ich abgeholt – zu Schiff nach Man – dort waren sonst nur Zivilgefangene. Der Seagrave hatte mich angefordert – ich müsse ihm bei seinen Arbeiten helfen. Er nahm mich in Empfang – bei ihm langte es nach seiner Verwundung nicht mehr zur Front, so war er zum Lager kommandiert. Da schwatzten wir weiter von dem, was wir uns im Lazarett erzählt hatten, hatten ja jahrelang Zeit dazu. Er war nur so nebenher Leutnant, bei der Miliz, wurde Captain in Flamland; jetzt stolziert er hier als Major herum. Aber eigentlich ist er Professor, ist Kunstgelehrter, grade wie ich.«
»Du – Kunstgelehrter?« lachte Hornemann. »Ich denke, du liefst vom Gymnasium weg schnurstracks in den flandrischen Dreck hinein.«
»Tat ich auch«, nickte Eggeling eifrig. »Aber mein Onkel war Archäologe, der hielt mir schon Vorträge, als ich noch die Schulbank drückte. Keltische Mythologie, das war der Boden, auf dem wir uns fanden, Seagrave und ich. Zu sechstausend waren wir im Gefangenenlager, die Tommies nicht gerechnet – mit wem hätte er sich unterhalten können? Ihr könnt mir's glauben, ich hab verdammt viel gelernt von ihm.«
Hornemann brannte eine Zigarette an. »Archäologische Kenntnisse – die kannst du ja ausgezeichnet bei uns verwenden. Darum also ging's aus dem Gefangenenlager gleich zum Freikorps?«
»Ich mußte doch nachholen. Hatte ja kaum die Nase in den Krieg gesteckt«, lachte der andere. »War noch keine vier Tage in Hamburg, da war ich schon drin im Klub.«
»Bei den Bahrenfeldern?!« rief der Leutnant. »Da hast du's fein getroffen. Ypern vierzehn und Hamburg neunzehn – mehr Dreck und Blut konntest du dir nicht leicht aussuchen; das ist gute Schule. Nun aber erzähl!«
»Dräng doch nicht so«, wehrte der Hamburger, »wirst schon alles hören. Ich hab heute wirklich viel erlebt –«
Scholz nickte. »Schwatz nur, wie dir der Schnabel gewachsen ist.«
Eggeling verbeugte sich leicht. »Dank, Oberleutnant. Als ich hörte, daß mein Major Seagrave bei der Internationalen Kommission sei, wußte ich, daß er unser Mann sei – der steht, hier wenigstens, auf unsrer Seite. Also sein Auto kam, holte mich ab nach Oppeln; er wartete schon vor dem Hotel, sprang gleich zu mir in den Wagen. Wißt ihr, wohin wir fuhren? Hinüber nach Polen, nach Tschenstochau.«
Schwester Pia horchte auf. »Was wolltet ihr denn da? Beten? Das ist doch ein Wallfahrtsort.«
»Die Schwarze Madonna ist dort«, nickte er, »weltberühmt. Eben zu der pilgerten wir, zum Eremitenkloster auf dem Klarenberge. Ihr könnt euch nicht denken, wie die Herrn Polen vor den Engländern schweifwedelten – die verstehn es, sich Liebkind zu machen bei der Hohen Kommission. Hinter unserm Rücken mögen sie dann ein Kreuz geschlagen haben über uns Ketzer, die stundenlang höchst unehrerbietig ihre wundertätige Gottesmutter begafften und betatschten. – Über eins waren wir uns einig, der Major und ich: byzantinisch ist dies Bild nicht. Ich behaupte, daß es ein Isisbild ist – wie alle die schwarzen Marien, wie die von Puy, wie die in Würzburg, die in Altötting: eine ägyptische Gottheit, die mit den Römern sich die Welt eroberte. Und nun stellt euch vor, daß Seagrave darauf schwört, daß es ein Bild der Ceridwen sei –«
»Entsetzlicher Gedanke!« höhnte Hornemann. »Was ist denn das, die Ceridwen?«
Eggeling war im Zuge. »Eine Todesgöttin natürlich wie die Isis – darum ist sie schwarz – das heißt: dann schwarz, wenn sie eben als Todesgöttin auftritt. Eine heidnische Göttin, eine gälische, irische, keltische – eine, die die druidischen Barden besangen. Habt ihr mal was vom Parsival gehört und vom Heiligen Gral? Na, der Gral ist eigentlich nichts andres als das Waschbecken dieser Ceridwen, der Gattin des Hu –«
»Was du nicht sagst!« brummte der Leutnant. »Deine Sorgen möcht ich haben!«
Der junge Hamburger hörte nicht. »Das muß man ja zugeben«, überlegte er, »daß die Schwarze Muttergottes der Gralsburg, Nuestra Señora de Montserrat, wirklich die Annahmen des Majors unterstützt. Sie trägt die Krone Parsivals, das Zepter Amfortas', den Gralsbecher und –«
Hornemann grölte: »In fernem Land, unnahbar euren Schritten, steht eine Burg, die Monsalvatsch genannt –«
»Nun ist euch doch klar«, fuhr der Kriegsknecht fort, »daß keine der Heidengöttinnen jemals gestorben ist? Sie leben alle, heute noch, nur tragen sie Masken – manchmal als Heilige, meist aber als Madonnen. Da trefft ihr Ceres und Juno, Freia und Berchtha und immer wieder die Venus und die Astarte. Die Schwarze aber von Tschenstochau, die ist keine von all diesen, sowenig wie sie Ceridwen ist. Sie ist auf Zypressenholz gemalt – soll das etwa aus Irland stammen? Nein – sie ist eine ägyptische Schönheit und heißt Isis – darauf könnt ihr Gift nehmen!«
»Hoffentlich hat's dein Major auch eingesehn«, spottete Hornemann.
Der Landsknecht schüttelte den Kopf. »Garnicht! – Und nun könnt ihr merken, wie schlau ich bin. Erst haben wir uns herumgestritten, dann – hab ich ihm beigepflichtet. Er ist eitel wie ein Truthahn in wissenschaftlichen Dingen. Selig war er – noch drei Wochen lang wird er guter Laune sein. Auf der Rückfahrt hab ich ihn ausgeholt, hab ihn mitten ins Gesicht gefragt – und genau so gab der Major mir Auskunft.«
»Nun?« fragte Scholz.
Eggeling wurde ernst. »Unser Verdacht ist begründet: wir haben einen Lumpenkerl unter uns, der gegen Bezahlung uns verrät. Und zwar dem Monsieur Ponsot, dem französischen Generalkonsul in Oppeln. Dieser neutrale Herr gibt alles den Polen weiter. Kein Wunder also, daß die so gut unterrichtet sind über das, was bei uns vorgeht.«
»Kennst du den Namen?« fragte Scholz.
Eggeling nickte, zog ein Zettelchen heraus, reichte es ihm.
Scholz las. »Peters?!« rief er. »Das ist unmöglich!«
»Seagrave hat mir's selbst aufgeschrieben«, beharrte der andre. »Da gibt's keinen Irrtum, der Major würde nie etwas sagen, das er nicht verantworten kann. Er hat beim französischen Konsul den Ausweis des Kerls gesehen.«
Der Oberleutnant zerknüllte den Zettel. »Dennoch – woher sollte der Engländer den Namen kennen?« überlegte er. »Wir wissen, daß der Schuft von deinem Zug sein muß, Hornemann – und der Peters ist in deinem Zug.« Er stand auf, ging mit großen Schritten auf und nieder. »Beim Teufel – nie lernt man aus. Dem hätt ich's niemals zugetraut, dem Peters, dem nicht! Vor vier Wochen meldete er sich bei mir, ein Primaner, Sohn eines armen Landpastors – die Familie ausgetrieben aus dem Pfarrhaus von den Polen. Ich wollte ihn nicht nehmen, sagte ihm, daß wir alte Leute brauchten, keine Zeit hätten, Rekruten auszubilden. Aber der Junge ließ sich nicht abweisen – ich würde schon sehn, was er leisten könne; er müsse helfen, die Heimat zu schützen.«
»Anstellig ist er«, bestätigte Hornemann, »willig, beliebt. Angst kennt er nicht.«
»Und der Junge stand die ganze Zeit über mit dem Feind in Verbindung«, murmelte der Oberleutnant. »Kam offenbar nur zu dem Zweck, uns zu verkaufen.«
»Pfui Teufel«, spie Eggeling.
Hornemann nahm das Zettelchen, las: »Karl Friedrich Peters, Freikorps Hans Hauenburg, Kompanie Scholz, Zug Hornemann. Da ist kein Zweifel möglich – genauer kann man nicht sein.« Er zerriß das Papier in kleine Fetzen.
Keiner sagte ein Wort, keiner rührte sich. Schwester Martha trat zu dem jungen Kunstgelehrten, fragte ihn halblaut: »Sagen Sie, bitte, wie hieß die Göttin?«
Eggeling antwortete: »Die ägyptische? Isis. Die keltische – Ceridwen.«
»Und was für Göttinnen sind es?« fragte sie weiter.
Er zuckte die Achseln. »Oh – Göttinnen überhaupt. Aber in diesem Falle – wenn sie schwarz sind, wie die Maria da drüben – verlangen sie Buße und Opfer, sind Todesgöttinnen, wie die nordische Hel, wie die griechische Persephone.«
»Danke«, lächelte die Schwester. Sehr leise wiederholte sie: »Die Schwarze Muttergottes von Tschenstochau, die polnische, verlangt Buße und Opfer. Eine Todesgöttin ist sie.«
Keiner wollte es hören, und doch hörte es jeder. Schwester Pia fuhr auf: »Schweig du, was geht's dich an?«
Dann fragte Hornemann: »Was willst du tun, Gerhard?«
»Widerliche Sache, ekelhaft«, murmelte Scholz.
»Wollen Sie's dem Chef vorlegen, Oberleutnant?« schlug Eggeling vor. »Es heißt, daß er morgenabend zurückkommt zum Korps.«
»Vielleicht kommt er morgen«, nickte Scholz. »Vielleicht übermorgen. Hänschen Hauenburg würde mich schön auslachen. Der hat weißgott andre Sorgen – meinst du, daß es leicht sei, ein Freikorps zu ernähren?« Er preßte die Lippen zusammen, fuhr mit beiden Händen durchs Haar.
»Laß den linken Arm hängen«, fuhr ihn Schwester Pia an, »soll ich ihn dir festbinden?«
Scholz hörte es nicht. »Man muß sich entscheiden – jetzt!« sagte er. »Wenn's nur nicht dieser Junge wäre, dieser Karl Friedrich Peters! Ich hab mit dem Vater gesprochen, dem alten Pastor. Sechs Töchter – der ist der einzige Sohn, das jüngste, spätgeborene Nesthäkchen; er gab es her, ohne mit der Wimper zu zucken.«
»Zweifelst du noch?« fragte Hornemann.
Er schüttelte den Kopf. »Nein, natürlich nicht –«
Es klopfte stark, gleich darauf trat ein Offizier herein. »Schwester Pia«, rief er, »Sie müssen gleich mitkommen nach Gogolin, ich nehm Sie vor mich auf meinen Gaul. Einer von meinen Leuten hat sich – ich erzähl's Ihnen unterwegs.« Er erkannte Scholz, reichte ihm die Hand. »Arm in der Binde? Hoffentlich nichts Gefährliches?«
»Nichts von Bedeutung, Rittmeister«, antwortete Scholz.
Der Fremde wandte sich zu den andern. »Vergebung, daß ich so reinschneie. Gestatten Sie – Lannwitz.«
»Peter von Lannwitz?« rief Hornemann. »Freut mich – Hornemann! Wie geht's Ihrer Sammlung?«
»Blüht und gedeiht«, lachte der Rittmeister. »Davon habt ihr auch schon gehört? Also da ist der französische, der englische, italienische – die ganze Hohe Kommission beisammen. Dann der polnische natürlich – vier Stück bisher.«
»Vier Stück – was?« fragte Eggeling.
Lannwitz lachte. »Vier Stück Steckbriefe – holder Jüngling. Und gestern bekam ich Nachricht aus Berlin, daß die deutsche Regierung auch so ein Fahndeschreiben auf mich loslassen wird. Nolens volens, gedrungen, gezwungen, da gibt's nichts, das Tierchen muß traben, wenn der Versailler Kutscher mit der Peitsche knallt. Haben mich ohnehin auf dem Strich, vom Kapp-Putsch her. Man sehnt sich überall nach mir, zahlt höchste Preise für mein edles Haupt. Aber deshalb sollen sie mich doch nicht erwischen; ich werde Steckbriefchen sammeln, wie andre Liebesbriefchen! Solange die Schlauberger stets ein falsches Bild draufdrucken, hat's kaum Gefahr!« Er unterbrach sich, blickte herum. »Na, was ist, Kinder? Laßt mich Geschichten erzählen und lacht nicht mal? Wo juckt denn 's Läuschen?«
Hornemann warf seine Zigarette in die Luft, fing sie mit den Lippen wieder auf. »Sie haben schon recht, Lannwitz, eine recht stinkende Laus ist uns über die Freikorpsleber gekrochen. Wir bekamen eben den glatten Beweis, daß einer von unserm Fähnlein den Polen Nachrichten zuträgt.«
Lannwitz wurde ernst. »Was wollt ihr tun? Bei uns –«
»Bei uns auch!« nickte Hornemann. »Es bleibt ja nichts andres übrig – jeder weiß, wem er sich aussetzt bei Verrat.« Er wandte sich an Scholz. »Wir müssen uns entschließen. Wenn du meine Ansicht hören willst – umlegen.«
»Seid ihr sicher, daß es der Richtige ist?« fragte der Rittmeister. »Dann gibt's nur die eine Möglichkeit. Niemand deckt uns, keiner steht hinter uns: wir müssen uns selber helfen. Wenn ihr solche Lumpen laufen laßt, kann's euch das Leben vieler Dutzende braver Jungen kosten. Und mehr vielleicht: dies schöne Land, für das wir kämpfen.«
»Und das auch seine Heimat ist«, rief Eggeling, »seine Heimat, die er verkauft.«
»Man könnte vielleicht –« murmelte Scholz, »man könnte –«
»Was könnte man?« forderte Hornemann.
»Ihn wegschaffen«, antwortete der Oberleutnant. »Nach Breslau zu seinen Eltern. Mit ein paar sichern Leuten. Unterwegs eine kleine Abreibung – als Denkzettel.«
»Großartig!« höhnte Lannwitz. »So haben wir's im Kriege gemacht, vier Jahre lang. Alle Verräter, alle Fahnenflüchtigen hübsch mit Samtpfötchen angefaßt, keinen an die Wand gestellt – so ist's recht! Die Hunde haben schon gewußt, warum es geschah: aus Angst vor dem Pöbel daheim. Haben geschwätzt und gehetzt, haben die Dummköpfe ausgelacht, die sich totschlagen ließen fürs Vaterland!«
»Als ob er dann sicher aufgehoben wäre«, rief Hornemann, »daheim bei den Eltern. In drei Tagen ist der Schuft wieder zurück – meldet sich unten bei den Wikingern oder den Roßbachern, beim Richthofen, beim Tillmann oder Aulock. Bei einer Freischar wird er schon unterschlupfen – da fängt er fröhlich von vorn wieder an.«
»Die Polen zahlen gut«, sagte Eggeling.
Paul Hornemann schlug die Faust auf den Tisch. »Recht hat er – Schußgeld nennt man das! Drei Mann hat dieser Schuft schon den Polen vor die Kugel gebracht, gestern haben wir sie eingescharrt. Kerls wie Samt und Seide, nun flennen ihre Mütter. Drei Mann! Wieviel sollen's noch werden?«
Unbeweglich stand Scholz.
Sie schwiegen. Eine Minute lang und noch eine.
Dann klang die Stimme der Schwester Martha, still, wie von fernher. Stark doch und überzeugend, fast ein Befehl. »Was zögert ihr noch? Tut eure Pflicht.« Ihr Blick suchte das Auge des Oberleutnants, fand es und hielt es.
Schwester Pia faßte sie hart am Arm. »Und ich sag dir, daß du schweigen sollst! Das ist nichts für Frauen – ist Männergeschäft!«
»Sieh doch an«, rief Lannwitz, »Sie sind zurückgeblieben in der Zeit, Schwester Pia! Wissen Sie nicht, daß im Deutschen Reich längst Frauenstimmrecht gilt?«
Die Schwester sagte: »Gut, wenn ihr abstimmen wollt, gebt Zettel aus. Jeder mag sein Kreuz in den Kreis machen: Ja oder Nein.«
Hornemann drängte. »Es wird spät, Gerhard –«
Scholz trommelte heftig auf den Tisch. Dann sagte er langsam: »Er ist in deinem Zug – du mußt es tun. Nimm zwei zuverlässige Leute, alte natürlich. Wachtmeister Kramer und dann den Bergemann – nein, den nicht, lieber den Wilcke, der ist Oberschlesier, kennt die Gegend gründlich. Fahrt weit zurück, über die Grenze des Abstimmungsgebiets, damit uns die Hohe Kommission nicht in die Suppe spuckt.«
Er schwieg, starrte vor sich hin. Keiner sprach ein Wort; Hornemann wühlte in seinen Taschen herum, holte ein Ding nach dem andern heraus, betrachtete es scheinbar aufmerksam, schob es wieder zurück.
»Ich beneid dich nicht um diese Nacht«, murmelte Eggeling.
Hornemann starrte ihn verständnislos an. »Was willst du?« Dann trat er dicht auf Scholz zu: »Befehl?«
Der Oberleutnant antwortete: »Was brauch ich dir zu befehlen?!«
Aber Hornemann beharrte. »Du führst die Kompanie. Du hast die Verantwortung. Also – Befehl?«
Fest kam es zurück: »Befehl!«
Hornemann legte die Hand an die Mütze, ging zur Tür. Wandte sich, wiegte den Kopf hin und zurück. Zog die Reitpeitsche aus der Gamasche, schwippte damit in der Luft. »Befehlen Herr Oberleutnant morgen früh Bericht?«
Scholz schüttelte den Kopf. »Ich weiß, daß ich mich auf dich verlassen kann.«
Immer noch zögerte Hornemann. Dann hing ein Lächeln auf seinen Lippen, verzerrt und erfroren. Endlich schlug er einen pfeifenden Hieb durch die Luft, lachte laut. Grüßte noch einmal, rein mechanisch, machte kehrt, war mit drei Schritten zur Tür hinaus. Nur seine Stimme hörte man:
»Als ich noch klein war,
Mein Herz noch rein war,
Trotz größtem Flei–iße
War alles – –«