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XII

»Unusquisque tantum juris habet,
quantum potentia valet.«

Spinoza.

 

»Wiltu new und fremd Zeitung haben,
Laß diß Werk nit fürüber traben,
Hier lern, wie es zu Rhom zugeht,
Was die Rhömer für gutter Tugent han –«

Ulrich v. Hutten.

 

Rom, Berlin 1926.

Lili stieg in einem kleinen Hotel beim Palazzo Sciarra ab, das ihr der Schlafwagenschaffner empfohlen hatte. Sie verlor keine Zeit, machte sich gleich auf die Suche nach Farinacci. Sie telefonierte, lief zweimal in seine Wohnung, dann ins Parlament auf Montecitorio. Sie traf ihn nicht, hinterließ Nachricht, wartete auf Antwort. Saß spät abends im Lesezimmer, blätterte in den Zeitungen.

Kein Wort über Deutschland; es schien, als ob das auf dem Monde liege. Aber immer wieder, in allen Blättern, fiel ihr Auge auf den Namen: Mateotti. Sie las drüber hinweg, wurde erst aufmerksam, als sie ein paarmal in dieser Verbindung auch Mussolinis Namen fand und den ihres Freundes Farinacci. Eine Zeitung nahm sie nun nach der andern auf; verstand bald den Zusammenhang.

Mateotti – sozialdemokratischer Führer, sehr vermögend und einflußreich. Er hatte angekündigt, daß er demnächst eine große Rede im Parlament halten, gründlich abrechnen werde mit den verrotteten Zuständen im Innenministerium. Diese Rede des einflußreichen Mannes wollten junge Faschisten gewaltsam verhindern; vor seiner Villa hatten sie ihm am Vorabende aufgelauert, ihn in ein Auto geschleppt und entführt – wenige Tage später fand man seine Leiche in einem Wäldchen vergraben. Die Täter flohen, wurden ergriffen, ehe sie die Grenze überschritten.

Die Blätter aller Richtungen schoben die Tat Mussolini und seinen engsten Freunden zu, waren sich einig, daß die Regierung darüber stürzen werde. Die Abgeordneten aller nichtfaschistischen Parteien waren aus dem Volkshaus auf Montecitorio ausgezogen, hatten sich auf dem Aventin zu einem neuen Parlament zusammengeschlossen. Die Regierung, die neben den Faschisten noch aus den mehr rechtsstehenden Liberalen bestand, war aufs schwerste erschüttert, jeden Tag erwartete man ihren Rücktritt.

Ein Kellner kam herein, brachte späte Extrablätter, reichte ihr auch eins. Sie las, daß heutnacht im Großen Faschistenrat im Palazzo Venezia eine Parteisitzung stattfinden würde, einberufen von dem Generalsekretär der Partei, Farinacci; da würde die Entscheidung fallen, die nicht anders lauten könne als das Ende dieser Regierung von Mördern!

Lili ließ das Blatt sinken. Mörder – wie bekannt ihr das klang! War es nicht derselbe Kehrreim hier wie in Berlin?

»Was ist das für ein Blatt?« fragte sie den Kellner, der die Zeitungen auf dem Tisch ordnete.

Er sah hinüber. »›Il Popolo‹? Das ist klerikal. Hier sind die andern Blätter.« Er belehrte sie, sozialistisch sei der ›Avanti‹, demokratisch der ›Mondo‹ –

Sie nahm die Zeitungen – derselbe Ton überall, dasselbe Geschrei: Mörder, Mörder! Und dieselbe Unterstellung: die Burschen, die Mateotti beseitigten, die seien nur Werkzeuge – sicher in seinem Versteck säße der wahre Mörder. Sie nannten den Namen nicht, waren doch deutlich genug: Mussolini.

Wie in Deutschland, dachte sie, wie in Berlin. Freilich, dort schrie die Presse laut des Mörders Namen, brachte immer wieder sein Bild – Gerhards Bild. Denn die andern saßen am Ruder, die Parteien der großen Blätter, und Gerhard war nur ein armseliger Oberleutnant, wehrlos und stumm.

Sie fühlte: es ist nicht wahr. Nie hat der Duce das befohlen; der hat andre Mittel, Gegner zu vernichten. Man verleumdet ihn, wie man Gerhard verleumdet – man lügt, lügt.

Und wenn wirklich alle daran glauben und ganz ehrlich es schreiben, ist's dennoch eine Lüge.

Wie Gerhard ergeht's dem Duce. Nur: er kann sich wehren.

Sie überlegte: wenn ich's ihm erzähle, ihm und seinem Freunde Farinacci? Sie werden mich verstehn. Und vielleicht werden sie helfen.

Sie zog sich an, Mantel, Hut, Handschuhe. Fragte sich zurecht – Piazza Venezia. Auf und ab ging sie vor dem Palaste des Gran Consiglio Fascista. Wenn die Sitzung zu Ende war, müßte Farinacci herauskommen, dann könnte sie ihn sprechen. Sie sah auf die Uhr, halb zwölf war es.

Kalt war die Januarnacht; sie fror. Sie ging hinüber in ein Kaffeehaus, setzte sich ans Fenster, trank einen Punsch. Beobachtete das Haus – niemand kam heraus.

Immer später wurde es, halb eins nun, ein Uhr. Sie sah drüben ein Auto vorfahren; zwei Damen stiegen aus, traten zum Pförtner. Sie zahlte, eilte hinüber – der Mann meinte, daß das Ende der Sitzung nicht abzusehn sei; die Damen möchten drinnen warten. Lili schlüpfte mit ihnen durch die Tür; der Pförtner glaubte wohl, daß sie zu ihnen gehöre.

Sie folgte den Damen die Treppe hinauf. Auf dem breiten Wandelgang standen Diener; einer trat auf die beiden Damen zu, die er augenscheinlich kannte. Nein, es sei unmöglich, daß er Meldung mache; sie müßten schon warten. Er rückte ihnen ein paar Sessel zurecht. Dann kam er auf Lili zu, fragte nach ihrem Begehr. Sie murmelte einen Namen, sagte, daß sie den Generalsekretär sprechen müsse. Es fiel ihr ein, daß Farinacci aus Cremona stamme – dorther komme sie, erklärte sie; sie sei seine Base. Der Diener nickte, gab ihr denselben Bescheid: warten müsse sie.

Wer die beiden Damen seien? fragte sie. Er gab ihr Auskunft: die ältere, weißhaarige, sei die Marchesa di Roccagiovine, die junge sei ihre Tochter; die sei mit Giunta verheiratet, dem Präsidenten des Abgeordnetenhauses.

Lili nickte. Giunta – auch den Namen hatte sie oft genug heutabend in den Blättern gelesen: der wisse recht gut, wer den Mord Mateottis befohlen habe!

Die blonde Schöne da war seine Frau? Da waren sie ja Schwestern – Frauen von Männern, die die Presse anspie als Mörder!

Drei große Doppeltüren führten in den Saal; nun öffnete sich die mittlere, dann auch die andern. Aber sie sah wenig; schwere Samtvorhänge versperrten hinter den Türen die Aussicht. Laute Stimmen hörte sie, einige Herrn kamen heraus.

»Pause!« raunte ihr der alte Diener zu. »Schauen Sie hinein, Signora, es ist der Saal del Mappamondo.« Er schlug die Vorhänge zurück. »Sehen Sie dort, das ist General Balbo, der Flieger. Neben ihm – der Kleine, Schmächtige, der mit der Brille, das ist Michelino, Michelino Bianchi –«

Erregte Gruppen – alle trugen Schwarzhemden, ein paar auch die Uniform der faschistischen Miliz.

Dann sah sie Farinacci; er stand bei dem großen Marmorkamin mit den Früchtegirlanden, starrte ins Feuer. Drei Herrn traten auf ihn zu, redeten heftig auf ihn ein. Aber er schüttelte unwillig den Kopf; wandte sich ab, rief den Dienern zu: »Bringt Zigaretten! Kaffee! Eilt euch!«

Die Diener rannten die Treppe hinab. Dann kam ein Herr, schlank und sehr groß, ernst das glatte Gesicht, hart und entschlossen, drei scharfe Stirnfalten senkrecht über der Nase – er trat zu den beiden Damen.

Also das war Giunta. Sie fing ein paar Brocken des Gesprächs – noch sei nichts entschieden – nicht ein Wort habe der Duce bisher gesprochen. Es könne noch lange dauern – sie möchten nachhause fahren. Nein, er könne nicht sagen, wie es ausgehn werde, für sofortigen Rücktritt sei die Mehrheit.

Die Diener kamen zurück; man umdrängte sie, trank hastig, brannte Zigaretten an.

Dann schrillte eine Schelle. Herrn, die draußen waren, rannten hinein, Diener heraus. Jetzt mußte sie Farinacci sprechen, wenn's nur für einen Augenblick war. Sie ging hinüber, sah, wie sich Giunta verabschiedete, wie seine Damen sich zum Gehn wandten. Rasch öffnete sie die Seitentür, schlüpfte hinein.

Zu spät; sie hörte eine Stimme, die alle an ihre Plätze rief. Hinter ihr schloß ein Diener die Tür. Vorsichtig faßte sie den Vorhang, spähte hindurch. Die Herrn setzten sich um den langen Tisch; einige dreißig mochten es sein. Und da in der Mitte, beide Arme schwer aufgestützt, den Kopf geneigt – das war Mussolini. Er führte den Vorsitz.

»Paria Oviglio«, rief er.

Oviglio – auch den Namen hatte sie in der Zeitung gelesen. Oviglio, der Justizminister, ein breitschultriger Mann mit vollem Gesicht und starkem Doppelkinn. Er stand auf, sprach. Jeder kenne seine Hingabe für den faschistischen Gedanken; er habe nicht nötig, auf die Wunden hinzuweisen, die er für den Duce empfangen, als ihn im Gemeinderat von Bologna Kommunisten niederschossen. Viel stärker aber als diese Wunden blute heute sein Herz, da er den Rat geben müsse, zurückzutreten. Die Belastungsprobe sei zu stark, keine Regierung der Welt ertrüge sie. Alle Parteien seien heute geeint gegen den Faschismus, es sei Wahnsinn, mit dem Kopf durch die Mauer zu wollen. Man müsse abwarten – vielleicht gebe sich wieder eine Gelegenheit –

»Nie!« schrie Farinacci. Aber die andern stimmten dem Justizminister bei; es war keine Frage, daß die Mehrzahl seine Ansicht teilte: zurücktreten.

»Paria Giunta«, sagte Mussolini.

Giunta erhob sich. Lili fühlte, wie er sich zurückhielt, wie er sich Mühe gab, dem Widerstand, der grade gegen ihn hier wehte, nicht zuviel Reibungsfläche zu geben. Er sei bereit, für seine Person alle Folgen zu tragen; er leugne nicht, mit einigen der Täter gut befreundet zu sein. Man möge ihn absetzen, alle Würden ihm nehmen: wenn schon ein Opfer fallen müsse, wolle er es sein. Aber er begreife nicht, warum der Justizminister so wenig Wert auf die Gutachten der Ärzte lege. Neun Professoren hätten die Leiche Mateottis untersucht, und nicht ein einziger davon sei Faschist. Alle neun aber hätten erklärt, daß an der Leiche kein Anzeichen eines gewaltsamen Todes zu finden sei, keine Wunden, kein Würgmal. Sie hätten Herzschlag festgestellt; dazu habe der Hausarzt Mateottis angegeben, daß dieser an einem schweren Herzfehler gelitten habe. Das aber decke sich völlig mit den Aussagen der Täter: Mateotti sei ihnen unter den Händen gestorben, infolge des Schreckens. Keine Rede von einem Mord! Bestrafen möge man die Täter mit aller Schärfe – aber man dürfe darüber nicht den faschistischen Gedanken zerschlagen, dürfe nicht –

Ein andrer sprach. Wer denn das glauben würde? Und wenn fünf Dutzend Ärzte es feststellten, würde man in Italien und in der ganzen Welt dennoch annehmen, daß diese Gutachten bestellte Arbeit seien.

Noch einer sprach und wieder einer. Immer dasselbe: verloren sei das Spiel! Das Rumpfkabinett auf dem Montecitorio sei so machtlos wie die Regierung; die überwältigende Mehrheit der Erwählten des Volkes tage auf dem Aventin: man dürfe sich der Flut nicht entgegenstemmen –

»Parla Farinacci«, sagte Mussolini.

Am andern Ende des Tisches sprang der Cremoner auf, redete ohne Besinnen, mit leidenschaftlicher Schärfe. Zurücktreten – nur um die beschmutzte Fahne des parlamentarischen Gedankens hochzuhalten? Kindisch sei das, lächerlich! Er pfeife auf das Parlament, pfeife auf die Mehrheit! Habe der Faschismus das Ruder ergriffen, getragen von einer Mehrheit? Eine kleine Minderheit seien sie gewesen – das ganze Volk zu ihren Gedanken zu bekehren, das eben sei die Aufgabe des Faschismus. Mit Gewalt habe man die Regierung an sich gerissen – nun wohl, so wolle man auch nur der Gewalt weichen! Er hob die Stimme, reckte sich hoch. »Du bist der Führer, du darfst nicht nachgeben! Du bist nicht nur dir selber verantwortlich – auch all unsern Toten. Auch Crispi, der Faschist war, so gut wie wir, auch Cavour, der das Wort sprach: ›Mag mein Name, mein Ruf untergehn, wenn nur Italien eine Nation wird!‹ Das Volk hat einen Blankowechsel ausgestellt – du mußt ihn einlösen!«

Giunta rief ihm zu, fünf, sechs andre noch. Aber die übrigen schwiegen. Mussolini blickte auf – ob sich niemand mehr zum Wort melde?

Keiner meldete sich. Man möge abstimmen, rief einer; vier Uhr sei vorbei, die Parlamentssitzung beginne um elf.

Mussolini rührte sich nicht. Saß da, wie er gesessen hatte all die Zeit über, beide Arme schwer aufgestützt, den Kopf vornübergeneigt.

»Parli il Duce!« rief Farinacci.

Mussolini fuhr auf, sah zu ihm hinüber. Plötzlich, mit einem heftigen Ruck, stand er auf.

Wenige Worte nur sprach er. Wenn die liberalen Minister abtreten wollten – er hindre sie nicht. Wer gehn wolle aus dem Großen Faschistenrate – der möge gehn. Niemanden halte er. Er allein übernehme von Stund an alle Verantwortung. »Kleinste Furchen gruben wir bisher, säten nur wenig Saat. Zeit will ich – so gebt mir Zeit! Nicht für den flüchtigen Augenblick arbeiten wir, nur für die Zukunft – was wir schaffen, wird erst unsern Kindern zugute kommen. In wenig Stunden werde ich vor Feinden und Freunden stehn, werde ihnen sagen: ›Die Stunde der Entscheidung ist gekommen, ihr müßt für mich sein oder gegen mich!‹ Und so frage ich euch, Kameraden, wollt ihr mir folgen?«

»Evviva il Duce!« schrie Giunta. Und sie nahmen es auf – alle! Er hatte sie wieder in der Hand: nicht mit den paar Worten – sein Wille siegte, die Entschlossenheit, die von ihm ausstrahlte in diesem Augenblicke, den er wählte. Sie waren sein – die, die zu ihm standen, wie auch die Wankelmütigen, ob sie gleich wußten, daß der Führer ihnen ihre Schwäche nie verzeihn würde. Sie sprangen auf, umringten ihn – alle. Schrien: »Evviva il Duce! Evviva il Duce!«

Lili wartete; jetzt würde ihre Gelegenheit kommen. Sie sah, wie sich Gruppen bildeten, sah, wie sie alle hinausdrängten. Sie faßte die Klinke; verschlossen war die Tür. Da lief sie durch den Saal und hinaus zur Mitteltür. Farinacci stand an der Treppe, ein Diener half ihm in den Mantel. Sie versuchte sich durchzuwinden, wurde aufgehalten, eilte die Treppe hinunter – vor ihren Augen fuhr das Auto ab.

Aber im Hotel fand sie einen Brief von ihm. Sehr liebenswürdig – er bedaure, sie verfehlt zu haben. Er lege eine Karte für die Parlamentssitzung zu morgen bei – da würde er Zeit haben, mit ihr zu sprechen.

– Montecitorio. Schlag elf Uhr begann der Duce seine Rede.

Atemlos saß sie auf der Tribüne, lauschte. Was er zu sagen habe, solle kein Mensch als eine parlamentarische Erklärung bezeichnen, er denke auch nicht daran, es darüber zu einer Abstimmung kommen zu lassen. Ernst sei die Lage, sehr ernst, auf des Messers Schneide stehe die Regierung, er gedenke zu handeln. Nein, er sei nicht willens, auf den Fall Mateotti einzugehn: wer ihn für einen solchen Idioten halte, daß er seine Hand da im Spiele gehabt habe, möge das tun. Weit genug sei er gegangen, werde auch die Täter rücksichtslos strafen – aber nicht als Mörder, das seien sie sowenig, wie er ein Mörder sei. Er lehne es ab, den Parteien Rechenschaft zu geben; nur seinem Volke sei er die schuldig: das möge urteilen, wenn er sein Werk vollendet habe, nicht heute. Frieden brauche Italien, Ruhe und Arbeit, und das werde er dem Lande geben – in Güte, aber auch mit Gewalt, wenn es nötig sei. Und so übernehme er allein heute alle Ministerien und damit alle Verantwortung –

Das Haus tobte und schrie. Ein Wille war da, und dieser Wille drang glühheiß in Herzen und Hirne.

Jemand berührte ihre Schulter. Sie wandte sich, ein Diener bat sie, ihm zu folgen; der Generalsekretär erwarte sie. Er führte sie in ein Empfangszimmer; gleich darauf trat Farinacci ein, streckte ihr beide Hände entgegen.

»Haben Sie ihn gehört?« fragte er.

»Ja«, sagte sie, »ja!« Sie legte die Antwort in ihren Händedruck. »Werden Sie auch sprechen?«

Er nickte. »Später. Jetzt spricht del Bono, der Polizeiminister. Da konnte ich mich ein paar Minuten herausstehlen.« Er setzte sich neben sie, erkundigte sich nach ihren Freunden. »Bei euch sieht's schlimm aus«, fuhr er fort. »Was ist's eigentlich mit diesen Fememorden?«

Sie berichtete. Wie mit dem Mateottifall sei es, schloß sie, und doch wieder ganz anders. Denn hier in Rom würde der faschistische Adler sich nur höher schwingen –

Farinacci lächelte. Sie stutzte – den Satz hatte Mussolini vorhin gesprochen. Aber sie faßte sich gleich: ja, so sei es, der Duce habe recht! In Berlin aber habe man den Adler und all seine Brut in feste Käfige gesteckt. Darum sei sie hier, darum erflehe sie seine Hilfe.

Sehr ernst wurde der Generalsekretär, sagte dann langsam: »Das ist unmöglich.«

Lili sprang auf, schrie: »Nein! Nein! Sie dürfen mich so nicht weggehn lassen.«

Er griff ihre Hände, zog sie zurück auf den Sessel. »Ich fürchte, ich muß es tun«, sagte er. »Seit drei Jahren sind wir in Rom – und nie war unsre Lage gefährlicher. Wenn wir aber verlangen, daß unsre Nachbarn uns gewähren lassen, wie dürfen wir da uns in ihre Geschäfte mischen? Wir können nichts tun, garnichts. Das klingt trostlos, Signorina – klingt ganz anders, als wir's damals ansahn, vor drei Jahren. Damals glaubten wir, Sie und Ihre Freunde – und ich mit euch – daß die Welt nach wenigen Monaten wieder ein nationales Deutschland sehn würde, daß ihr's schaffen würdet, wie wir's in Italien geschafft haben. Wir irrten uns. Aber glauben Sie mir: bolschewistisch wird die Welt werden oder faschistisch – ein Drittes gibt's nicht.«

Sie erwiderte: »Und bis dahin werden sie Gerhard Scholz längst den Kopf heruntergeschlagen haben.«

Farinacci zuckte die Achseln. »Ihm vielleicht und manchem noch – so viel Märtyrer mehr. Andre werden kommen, werden –«

Er unterbrach sich, sah sie an. »Gerhard Scholz – lieben Sie ihn, Signorina?«

Sie senkte den Kopf, nickte.

»Armes Kind«, sagte er leise, »armes Kind!«

Eine Glocke bellte; gleich darauf öffnete ein Diener die Tür. Farinacci sprang auf. »Man ruft mich – Sie müssen mich entschuldigen.« Er drückte ihre Hände, eilte hinaus.

Langsam ging sie aus dem Zimmer, langsam die Treppe hinunter. Die Sonne strahlte auf den Straßen, blendete sie; wie eine Blinde tappte sie mit schleppenden Schritten.

»Helfen muß ich«, dachte sie, »muß ihm helfen. Muß nach Tirol zu Major Pabst, muß nach Ungarn zu –«

* * *

Der Gefängniswärter war gut gelaunt heute. »Wat denn, wat denn«, sagte er, »nu kiekense sich bloß mal den Kübel an, Scholz! Vorigte Woche war et een Jahr, det Se bei uns uf Staatskosten verflejt wern, da solltense doch nu endlich jelernt haben, wie blank det der Rand sein muß! Aber wat nich is, kann noch wern, wat, Scholz? Det hättense sich bei die Hohe Feme ooch nich träumen lassen, det Se noch mal so 'n netten, friedlichen Zeitvertreib hätten! Man wird so alt wie ne Kuh un lernt immer noch wat dazu – det kennense doch, Scholz?«

– Ein Jahr saß er hier? Schon ein Jahr – erst ein Jahr – man kam im Gefängnis sehr durcheinander mit der Zeit.

Oh, es gab schon Abwechslung! Es ist komisch, womit man die Leute im Gefängnis quälen kann, das begreift keiner, der nicht selber einmal drin saß. Die gewöhnlichen Insassen, richtige Verbrecher, die natürlich nicht – warum auch sollte man denen das Leben sauer machen? Aber die Gebildeten, die mit Kinderstube und ein wenig Kultur, die, die Nerven haben – die kann man piesacken, denen kann man's zeigen.

Zellenwechsel – das ist so ein Mittelchen. Was denn, eine ist wie die andre, was ist da schon für ein Unterschied? Der Gefangene kennt ihn: fremd ist die neue Zelle, es ist, als ob er zum erstenmal ins Gefängnis einziehe: eine Woche dauert es, eh er sich eingelebt hat, eh er das alles nicht mehr sieht, was um ihn herum steht. Immer wieder steckte man Gerhard in eine neue Zelle.

Oder Haussuchung. Zwei Beamte erschienen, warfen die Decken von der Pritsche, rissen seine Habseligkeiten auseinander, untersuchten bis zur Zahnbürste. Schmissen dann alles auf einen Haufen in die Mitte; führten ihn ab in einen Waschraum. Dort mußte er sich ausziehn: sie untersuchten seine Kleider, seinen nackten Leib, jede Öffnung –

Sie fanden nichts, wußten, daß sie nichts finden würden, wollten auch garnichts finden. Aber sie kamen doch wieder am nächsten Morgen und am übernächsten, wochenlang –

Oder man gab ihm einen Zellengenossen. Einen kleinen Dieb oder Landstreicher, einen der stank, furzte oder spie. Der ihn zu verleiten suchte, Kassiber durchzuschmuggeln, der ihn ausfragte Tag und Nacht. Oder einen halbirren Trottel, der wirr lallte und die Nächte durch weinte und betete. Oder einen Epileptiker – der ging noch an, war tagelang ganz zutunlich, wenn ihm nichts fehlte. Aber dann begann er zu reden, sprach, sprach, besoff sich an seinen eignen Worten, schrie endlich, brüllte, schlug um sich, brach zusammen in gräßlichem Anfall.

Man nahm die Leute weg, wenn er sich beschwerte. Setzte ihm einen andern Genossen in die Zelle, einen der –

Revision – man ließ sich Zeit damit beim Reichsgericht. Endlich kam doch der Spruch: das Urteil des Schwurgerichts wurde aufgehoben. So konnte die Sache von vorn wieder anfangen; er war nicht mehr freigesprochen, aber auch die Kameraden nicht mehr zum Tode verurteilt. Gute Nachricht dünkte ihn das.

Wieder begannen die Verhöre, zogen sich hin durch die Monate.

Im Spätsommer änderte sich das Bild. Wieder einmal saß er beim Untersuchungsrichter; der ließ sich, gegen seine Gewohnheit, vom Rhein erzählen und von der Pfalz. Wie es denn gewesen sei damals mit dem Präsidenten der Republik Pfalz, dem Franz Josef Heinz aus Orbis?

Gerhard berichtete; nur Namen nannte er nicht – der Landgerichtsrat fragte auch nicht darnach. Er nickte nur – recht geschehn sei dem Lumpenhund!

Und in Oberschlesien? Damals, kurz vor dem Sturm auf den Annaberg? Als man den Kerl beseitigt habe, der für die Polen arbeitete – wie hieß er doch noch? Peters, nicht wahr, Karl Friedrich Peters?

Gerhard nickte. Ja, er habe den Befehl gegeben – sehr gegen sein Empfinden übrigens; er habe den jungen Burschen gern gehabt, hätte ihm nie eine solche Schufterei zugetraut. Aber die Beweise seien unumstößlich gewesen; ein Oberst der englischen Kommission, Seagrave – damals sei er noch Major gewesen – habe den Namen aufgeschrieben: Freikorps, Kompanie, alles.

Wem er den Befehl gegeben habe?

Gerhard zuckte die Achseln.

»Nun, so werde ich Ihnen den Mann nennen«, sagte der Untersuchungsrichter. »Es handelt sich um den jetzigen Reichstagsabgeordneten Hornemann.« Er suchte in den Akten, nahm vier Zeitschriftnummern heraus, die ›Grünen Hefte‹, die ihm damals Paul zeigte, am Tage nach Hindenburgs Wahl. »Hier ist ja der Fall dargestellt. Hornemann nahm zwei Leute mit, einen Wachtmeister Kramer, der sich später nach Kanada in Sicherheit brachte, und einen gewissen Wilcke. Die drei fuhren mit ihrem Opfer durch die Nacht, unter dem Vorwande, vergrabene Maschinengewehre zu besorgen. Sie ließen das Auto auf der Landstraße stehn, Wilcke blieb zur Bewachung zurück. Die andern gingen in den Wald; dort wurde der junge Peters beseitigt – stimmt's?«

»Vielleicht«, antwortete Gerhard. »Mein Befehl war sehr eindeutig; er lautete klipp und klar: umlegen. Nicht: beseitigen; wir haben uns nie gescheut, die Dinge beim rechten Namen zu nennen. Ich war Kompanieführer, auf mir allein also ruht die Verantwortung. Über die Ausführung der Tat kann ich Ihnen nichts sagen: ich wußte, daß ich mich auf Hornemann verlassen konnte. Wir hatten damals wichtigere Sorgen: deutsches Land vom Feinde zu säubern.«

»Dann ist Ihnen auch nicht bekannt«, fragte der Untersuchungsrichter, »wo Peters getötet wurde? Ich kann es Ihnen verraten: im Walde von Lubnitz. Wissen Sie, wo der ist?«

»Nee«, sagte Gerhard, »ist mir auch völlig gleichgiltig.«

»Vielleicht doch nicht«, meinte der Landgerichtsrat. Er entfaltete eine Generalstabskarte auf dem Tisch. »Sehn Sie, da liegt der Wald. Auf dieser Landstraße hielt das Auto, an diesem Gehöft vorbei gingen die drei in das Dickicht. Und hier läuft die Demarkationslinie des Oberschlesischen Abstimmungsgebietes.«

»Wenn schon«, sagte Gerhard. Er beugte sich über die Karte, im Augenblick vertieft in Erinnerung. »Da ist Gogolin«, rief er, »da der Krappitzer Brückenkopf – den hielt der tolle Heydebreck mit seinem einen Arm und sieben Mann gegen Hunderte von Polen! Da sind die Sprentschützer Höhen, die hab ich erstürmt; dann ging es weiter über Nieder-Ellguth. Und am 21. Mai nahmen die Freikorps den Annaberg: Oberland, Hauenburg, das Fähnlein Gogolin, ganze tausend Mann gegen zehnfachen Feind. Keine Ruh, unaufhaltsam ging's weiter, bis Kandrzin, bis Ujest – wir hätten ganz Schlesien befreit, wenn uns die Franzosen nicht den Strich durch die Rechnung machten, die – und Berlin! Ich sage Ihnen: nie hätte die Botschafterkonferenz das Land den Polen gegeben, wenn man uns freie Hand gelassen hätte!«

Der Untersuchungsrichter lächelte. »Von dem allem ist hier nicht die Rede; Sie werden verstehn, daß ich weder Zeit noch Lust habe, mit Ihnen politisch-historische Gespräche zu führen. Um diese Grenzlinie handelt es sich, um nichts weiter: was südlich dieser Linie geschah, unterliegt dem Gnadenerlaß über Oberschlesien vom 30. Juni 1921. Ein Blick auf die Karte wird Ihnen zeigen, daß die von Ihnen befohlene Tat nicht davon betroffen ist – also Sühne heischt.«

Gerhard blickte auf. »Soll das heißen –?«

Der Landgerichtsrat nickte. »Ja, das soll heißen, daß ich Sie heute wegen des von Ihnen eingestandenermaßen befohlenen Fememordes an dem Freiwilligen Peters verantwortlich vernehme.«

* * *

Nun ging es schnell – einfach genug lag dieser Fall. Die Staatsanwaltschaft beantragte die Aufhebung der Unverletzbarkeit des Reichstagsabgeordneten Hornemann; nach Beratung mit seinen Anwälten legte Paul seinen Sitz nieder. Er wurde in Haft genommen, dann gegen Stellung einer sehr hohen Sicherheit auf freiem Fuß gelassen. Auch für Gerhard wurde die gleiche Summe geboten – vergeblich. Ende Oktober sollte die Verhandlung stattfinden. Sie mußte verschoben werden, da Gerhard erkrankte: Skorbut.

Er lag in der Krankenabteilung, erholte sich allmählich; die Blutungen ließen etwas nach. Auch jetzt erlaubte man ihm keinen Besuch außer dem seines Anwalts, doch durfte ihm Essen geschickt werden, Obst und frisches Gemüse, alles, was C-Vitamine enthalte, erklärte der Gefängnisarzt.

* * *

»Ich werde Seeckt als Zeugen laden«, sagte der Anwalt.

Gerhard zuckte die Achseln. »Er wird nicht kommen. Und wenn er kommt, wird ihm die Regierung die Erlaubnis zur Aussage verweigern.«

Professor Grimm schüttelte den Kopf. »Nein, das kann sie nicht – Seeckt ist entlassen seit ein paar Wochen.«

Gerhard blickte auf. »So hat auch er seinen Fußtritt? Und einmal hatte er alle Macht in der Hand! Einmal hätte er –«

Er unterbrach sich, seufzte. »Sie sollen ihn doch nicht laden, ihn nicht und keinen von der Reichswehr. Die Reichswehr hat uns im letzten Prozeß verleugnet, hat uns immer verleugnet, all die Jahre über. Sie wird es wieder tun – muß es tun, darf sich nicht belasten. Laden Sie keinen, Herr Professor: ich will der Reichswehr nicht schaden, dieser letzten Waffe des deutschen Volkes.«

* * *

Dann kam eine Überraschung: sein Anwalt brachte die Nachricht, daß Wachtmeister Kramer in Berlin eingetroffen sei, vier Zellen von ihm entfernt sitze. Die deutsche Regierung hatte glaubhaft gemacht, daß er wegen Mordes verfolgt würde; so hatte Kanada ihn ausgeliefert.

Sehr schwach war Gerhard, als man ihn zum Gericht brachte, ein Beamter mußte ihn stützen, als er aus dem Gefängnisauto kletterte. Hornemann saß schon da, als man ihn in die Anklagebank schob. »Tag, Paulchen«, begrüßte er ihn, »Dank für alles, was du für mich getan hast.«

Das Sprechen tat ihm weh, sein Zahnfleisch blutete.

Dann wurde der Wachtmeister hereingeführt; er grüßte soldatisch, die beiden streckten ihm die Hände entgegen. Sofort wurde es rege am Pressetisch, alles hob sich, um besser sehn zu können. Das war ein Fressen – dieser riesige Urwaldmensch mit den langen Affenarmen, mit dem Maul und den hängenden Lefzen, die fast von einem zum andern Ohr klafterten. Dieses stiernackige, halslose Ungetüm mit den gewaltigen Pratzen, die so aussahn, als ob sie einen Gewehrlauf überm Knie brechen könnten! Das war das rechte Urbild des Femehenkers, viehisch und roh – so und nicht anders träumten es die Massen.

»Dem möcht ich nicht nachts begegnen!« lachte ein Zeitungsmann. Sein Nachbar nickte, »tags auch nicht!«

Bleistifte arbeiteten und Füllfedern. Welche Überschriften: ›So sieht er aus – der Hund von Baskerville‹ – und dann sein Bild über die ganze Seite! Oder: ›Das wahre Gesicht der Feme!‹ Oder witzig: ›Dies Kind, kein Englein ist so rein: Wachtmeister Kramer, der Fememörder!‹

Gerhard blickte umher – ein wenig zur Seite saßen die Frauen, Ellen, Lili, Käte, alle verschleiert, nur Schwester Pia zeigte ihr Gesicht. Neben ihr saß Detlev Hinrichsen.

Ein andrer Vorsitzender, sachlich und knapp. Sie wurden vernommen, alle drei erklärten sich für nichtschuldig. Gerhard erzählte, wie er den Befehl gegeben habe; Paul Hornemann bestätigte das. Er habe den Wachtmeister und den Zeugen Wilcke verständigt, schließlich habe man Peters geholt. Sie seien losgefahren; auf der Landstraße habe er das Auto mit Wilcke stehn lassen. Sie seien eine Viertelstunde auf einem Waldwege gegangen; dann sei er über eine Wurzel gestrauchelt, habe sich den Fuß verstaucht – unmöglich, weiterzugehn. Nicht weit davon habe ein Gehöft gelegen, dessen Fenster noch erleuchtet waren – also eine denkbar ungeeignete Stelle. So habe er Kramer befohlen, ihn liegen zu lassen, ihn dann auf dem Rückwege abzuholen. Der Verräter Peters sei mit dem Wachtmeister weitergegangen.

Gerhard blickte auf – zum erstenmal hörte er diese Einzelheiten, die augenscheinlich auch dem Richter und dem Staatsanwalt neu waren. Er stutzte – einen Augenblick nur: wenn Paul das sagte, so war's gewiß wahr. ›Dann warst du nicht dabei‹, dachte er, ›du bist ein Glückspilz, mein Junge!‹

Eine halbe Stunde habe er so gelegen, fuhr Hornemann fort, dann sei ein Mann aus dem Hof gekommen. Er habe versucht, sich zu verstecken, sei ein wenig in den Wald gekrochen; aber der Mann habe ihn doch gesehn, habe hilfreich zugegriffen, sich erboten, ihn in sein Haus zu nehmen – er habe nicht abschlagen dürfen, um nicht Aufsehn zu erregen. Dort hätte der Mann ihn gepflegt, auch seine Frau – auch sein Knecht und die Mägde.

»Wie heißen denn diese Leute?« fragte der Vorsitzende.

Pauls Anwalt nannte die Namen. »Sie sind von mir geladen und haben sich beim Zeugenaufruf gemeldet.«

Der Hund von Baskerville wurde vernommen; sehr einsilbig war seine Aussage. Er sei allein mit dem Peters weitergegangen. Er sei zwanzig Jahre lang Soldat gewesen; er habe einen Befehl bekommen und diesen Befehl ausgeführt, wie alle Befehle seiner Vorgesetzten. Auf dem Rückwege habe er sich verirrt, bei hellem Tage erst habe er das Gehöft gefunden und darin seinen Leutnant.

Der Vorsitzende drang in ihn, sich über die Tat zu äußern; der Wachtmeister schüttelte den Kopf. Erst auf Zureden seines Verteidigers entschloß er sich, ein paar Worte zu sagen: »Ich hab ihn erschossen – der Verräter hat's nicht mal gemerkt, so schnell ging's.« Der Pressetisch horchte auf, die Stifte flogen übers Papier. Das klang wirklich so, als ob es ihm leid täte, daß er ihn nicht in Stücke gerissen hatte.

Die Zeugen wurden vernommen, zuerst Wilcke; sichtlich zurückhaltend klang seine Aussage. Leutnant Hornemann habe ihm befohlen, das Auto zu fahren, das habe er getan. Er habe stundenlang gewartet, sei schließlich allein zurückgefahren.

Während seiner Vernehmung öffnete sich leise die Saaltür, ein Gerichtsdiener führte zwei Herrn herein. »Da kommt Herbert Eggeling«, flüsterte Gerhard.

Paul blickte hin. »Der andre ist sein Freund Seagrave.«

»Hast du ihn geladen?« fragte Gerhard.

Paul verneinte. »Sie waren nicht aufzufinden – waren in Spanien oder sonstwo. Eggeling hat's wohl in den Blättern gelesen, ist von selbst gekommen.«

Die beiden traten zum Richtertisch; der Vorsitzende stellte die Namen fest, ließ sie wieder aus dem Saale führen.

Der schlesische Bauer wurde vernommen, dann seine Frau und das Gesinde. Der Angeklagte habe auf dem Waldwege gelegen; man habe ihn ins Haus geschafft, habe den linken Stiefel herunterschneiden müssen, da der Fuß unförmig geschwollen gewesen sei. Umschläge mit kaltem Wasser und essigsaurer Tonerde; am andern Morgen sei es schon besser geworden. Dann habe ihn Kramer abgeholt –

Die alte Magd hatte einen Lacherfolg. Sie habe dem Wachtmeister die Tür geöffnet – habe nicht anders geglaubt, als daß der leibhaftige Gottseibeiuns dort stände. Bekreuzigt habe sie sich, habe laut geschrien –

Sie habe oft von dem Kerl träumen müssen – im letzten Jahr sei das besser geworden, aber nun werde es wohl wieder losgehn, wo sie wisse, daß er ein richtiger Fememörder sei.

Ob sie wisse, was das sei, ein Fememörder? fragte Dr. Sack.

Es stellte sich heraus, daß sie nur sehr unklare Vorstellungen davon hatte. Aber der Herr brauche ja nur in den Zeitungen nachzulesen, meinte sie, da stehe es drin. Der Knecht lese jede Woche seine Zeitung, der habe ihr erzählt.

Was denn wohl schlimmer sei, fuhr der Anwalt fort, ein Raubmörder, ein Lustmörder oder ein Fememörder?

Ein Fememörder, sagte sie überzeugt. Die Zuhörer klatschten; der Vorsitzende verbot jede Kundgebung.

Pastor Peters wurde aufgerufen. Karl Friedrich sei das jüngste Kind gewesen und sein einziger Sohn, siebzehn Jahre sei er damals alt gewesen. Er und seine Familie seien von den Polen von Haus und Hof vertrieben worden; der Junge habe nicht eher Ruhe gegeben, bis er selber mit ihm nach Neiße gegangen sei, wo sich das Freikorps Hauenburg bildete. Im Anfange habe er zwei Briefe von seinem Sohn bekommen, voll Begeisterung, dann habe er nichts mehr gehört. Erst später habe er ein Schreiben des Freikorps erhalten, von Oberleutnant Scholz unterzeichnet; sein Sohn werde seit Ende Mai vermißt, man nehme an, daß er beim Sturm auf die Sprentschützer Höhen gefallen sei. Er habe das Schreiben als wahr hingenommen – erst in den letzten Monaten habe er durch Zeitungen, die ihm Bekannte brachten, dann durch das Gericht den wirklichen Sachverhalt erfahren. Er sei ein streng konservativer Mann und lese eine rechtsstehende Zeitung – dort sei die Sache so dargestellt worden, als ob sein Sohn den Polen gegen Geld Nachrichten übermittelt habe und darum erschossen worden sei. Er könne sich das nicht denken: sein armer Junge habe geglüht von Vaterlandsliebe. Und dennoch müsse er als ehrlicher Mann zugeben, daß er auch die Erklärung der andern Blätter nicht verstehn könne, daß nämlich die Angeklagten, alte preußische Offiziere, aus reiner Lust am Morde seinen unschuldigen Sohn hingeschlachtet hätten. Vor einem entsetzlichen Rätsel stehe er –

Leumundszeugen marschierten auf, von der Verteidigung geladen. Sie sagten ihr Sprüchlein zugunsten der Angeklagten; kein Mensch hörte hin. Die Zeichner am Pressetisch machten immer neue Blätter vom Hund von Baskerville –

Fritz Hemmerling brachte ein wenig Abwechslung. Wachtmeister Kramer sei genau das Gegenteil von dem, was sein Äußeres zeige. Er sei der beste, gutmütigste, weichste Mensch, den man sich denken könne. Man lachte am Pressetisch; einer zeichnete den Zeugen, dazu oben in der rechten Ecke den Kopf des Wachtmeisters. Schrieb darunter: ›Dieser sanfte Jüngling hält den Bluthund der Feme für ein unschuldvolles Waisenmädchen.‹

Aber der Troßbub ließ sich nicht beirren. Wachtmeister Kramer habe ihn beim Sturm des Annabergs aus dem Maschinengewehrfeuer herausgeholt, habe ihn mit seinem eignen Leibe gedeckt. Habe ihn dann gepflegt; keine barmherzige Schwester, keine Mutter hätte ihn so sorgsam, so aufopfernd hüten können. Er habe später wieder unter ihm gedient, in Spandau in der Schwarzen Reichswehr: der Wachtmeister habe strengste Pflichterfüllung verlangt, andrerseits aber alle Freiwilligen als seine Kinder betrachtet, jeden letzten Bissen Brot mit ihnen geteilt.

Ob ihm von der Beteiligung des Angeklagten an den Fememorden etwas bekannt sei, fragte der Staatsanwalt.

Nein, davon sei ihm nichts bekannt.

Ob, wenn er davon gewußt hätte, er dennoch dieselben freundschaftlichen Gefühle zu dem Angeklagten haben würde?

»Unbedingt«, rief Fritz Hemmerling.

»Danke«, sagte der Staatsanwalt, »das genügt mir.«

Herbert Eggeling wurde aufgerufen. Er gab an, daß in Oberschlesien zweifellos Verrätereien vorgekommen seien. Stellungen seien dem Feind verraten, Verbindungsposten abgeschossen worden – mit fast unheimlicher Sicherheit. Oberleutnant Scholz habe ihn nach Oppeln geschickt, dem Sitz der Interalliierten Kommission; er habe dort einen Freund gehabt, Oberst Seagrave, den er aus dem Gefangenenlager in England gekannt habe. Die Stimmung der englischen Offiziere sei unbedingt auf Seiten der deutschen Freikorps gewesen – so habe ihm Seagrave den Verräter genannt: Karl Friedrich Peters. Er habe ihm den Namen selber aufgeschrieben, dazu das Freikorps: Hauenburg und die Kompanie: Scholz. Diesen Zettel habe er zurückgebracht – daraufhin habe Oberleutnant Scholz den Befehl erteilt.

Ein tiefes Schluchzen kam von der Zeugenbank. Pastor Peters erhob sich, setzte sich wieder, preßte die Hände zusammen.

»Erbarmen«, stöhnte er, »mein Junge!«

Käte stand auf, setzte sich neben ihn, streichelte die durchfurchten Hände.

Herbert Eggeling wandte sich um, sagte: »Es tut mir leid, Herr Pastor – aber ich muß die Wahrheit sagen: es war wirklich Ihr Sohn.«

Der alte Pastor nickte, schwere Tränen liefen ihm über die Wangen.

Oberst Seagrave wurde hereingerufen; er erklärte, keines Dolmetschers zu bedürfen. Er bestätigte Eggelings Aussage, fügte hinzu, daß er den Verräter selber bei dem französischen Konsul in Oppeln, Monsieur Ponsot, gesehn habe, daß dieser über die Eigenschaft des Peters keinen Zweifel gelassen, ihm sogar dessen Ausweis gezeigt habe. Auf seine Vorstellung habe er geantwortet: »Que voulez-vous – à la guerre, comme à la guerre!« Die Polen seien Frankreichs Freunde, und es sei seine Pflicht, sie in jeder Weise zu unterstützen. Er aber glaube an ›fair play‹ – so habe er sich gefreut, seinem jungen Freunde den Namen des Verräters mitteilen zu können.

Dann kam der große Augenblick des Tages. Der Oberst erklärte plötzlich in aller Ruhe, daß er diesen ganzen Prozeß nicht recht verstehe: wenn es sich um Mord handle, müsse vor allen Dingen doch ein Ermordeter dasein.

Der Saal horchte auf. Der Vorsitzende sah ihn erstaunt an, fragte dann, wie er das meine? Man habe zwar trotz eifrigster Nachforschung die Leiche des Ermordeten bisher nicht finden können, aber, daß er erschossen worden sei, werde ja von den Angeklagten selber zugegeben.

Der Engländer schüttelte den Kopf. Das habe er nicht gehört, er sei erst später, bei der Zeugenvernehmung, für ein paar Minuten in den Gerichtssaal gekommen. Aber grade, als er eingetreten sei, sei der Peters vernommen worden: wenn der hier als Zeuge auftrete, frisch und gesund, könne man doch nicht gut behaupten, daß er ermordet sei?!

Ein Schweigen lag über dem Saal. Dann fragte der Vorsitzende: »Bitte, Herr Oberst – wer wurde vernommen, als Sie eintraten?«

»Der Zeuge Peters«, beharrte der Engländer, »Karl Friedrich Peters, der im Sommer 1921 in Oberschlesien war, Freikorps Hauenburg, Kompanie Scholz. Ich hab ein sehr gutes Gedächtnis für Gesichter – es war derselbe Mann, den ich beim französischen Konsul traf.«

So still war es, daß man das Kratzen der Stifte am Pressetisch hören konnte, das Knistern der Bogen unter den Händen des Vorsitzenden, des Staatsanwalts, der Verteidiger, die die Zeugenlisten durchblätterten.

Dann hörte man einen lauten Aufschrei: »Gerechter Gott!«

Gerhard blickte hinüber – zwischen Lili und Schwester Pia erhob sich Hinrichsen, trat vor den Richtertisch. »Ich bitte, mich als Zeugen vernehmen zu wollen«, sagte er mühsam, »ich kann das aufklären.«

»Wer sind Sie?« fragte der Vorsitzende.

»Detlev Hinrichsen«, antwortete der Holsteiner, »Arzt, Dr. med. Ich war damals beim Freikorps Oberland. Ich war sehr – sehr befreundet mit Peters, mit dem Ermordeten –«

Der Vorsitzende unterbrach ihn. »Sie sprechen von dem ›Ermordeten‹ – dann lebt der Peters also nicht mehr, ist nicht hier im Saale, wie der Oberst meint?«

Hinrichsen schüttelte heftig den Kopf, bebend vor Erregung. »Nein, nein, er ist tot.« Er wies mit der Hand auf die Anklagebank. »Aber nicht die sind seine Mörder, die nicht! Auf dem Gewissen hat ihn der – der Hund – der –« Er würgte nach Worten, schluckte –

»Ich bitte, sich zu beruhigen«, sagte der Vorsitzende.

Der lange Hinrichsen nahm vom Anwaltstisch ein Glas Wasser, leerte es. »Verzeihung«, begann er, »das kam ein bißchen plötzlich –« Fester wurde seine Stimme, entschlossener. »Peters, mein Freund – war verschwunden. Das konnte geschehn, kurz vor Annaberg waren wir, jeden Tag hatten wir Verluste. Ich war in einem andern Freikorps, war beim Oberland, Sturmabteilung Teja – bei Hauenburg war der Junge. Ich erkundigte mich – keiner konnte mir Auskunft geben. Ich fragte den Wachtmeister, er wies mich schroff ab. Ich sprach mit Leutnant Hornemann, hatte nicht mehr Glück. Ich hatte keine Ruhe mehr; sooft ich eine Stunde frei hatte, war ich drüben bei den Hauenburgern, fragte jeden Mann aus der Kompanie –«

Der Vorsitzende unterbrach ihn. »Zeuge Hinrichsen – nach alledem zeigten Sie eine auffallende Anteilnahme an dem Geschick des Verschollenen. Wollen Sie uns sagen, worauf sich diese Besorgnis, dieser tätige Eifer gründet?«

Der lange Holsteiner starrte ihn an, antwortete nicht.

»Um deutlicher zu werden«, sagte der Staatsanwalt, »standen Sie zu dem Ermordeten vielleicht in – na, sagen wir: unerlaubten Beziehungen?«

Sofort sprang Hornemanns Anwalt auf: »Ich beanstande diese Frage.«

»Sie brauchen sie nicht zu beantworten«, bemerkte der Vorsitzende, »wenn Sie sich damit eines Vergehens gegen das Strafgesetzbuch bezichtigen würden.«

»Ich will sie beantworten«, sagte Hinrichsen fest. »Ich habe nichts mit ihm gehabt, garnichts. Was ich für ihn empfand – dessen ist sich der Junge wohl nie bewußt geworden. Aber – aber –« Seine Stimme sank, doch verstand man sein Flüstern im ganzen Saale: »Ich habe – ihn geliebt.«

»Ich danke Ihnen«, sagte der Vorsitzende rasch, »das erklärt Ihre Schritte. Wollen Sie fortfahren.«

Der Essener Anwalt erhob sich. »Herr Vorsitzender, nach der mehr als deutlichen Fragestellung des Herrn Staatsanwalts bitte ich Sie, an die Herrn von der Presse die Mahnung zu richten, diese freimütige Äußerung des Zeugen nicht zu erwähnen. Sonst werden wir morgen die Überschriften lesen: ›Schwule Helden der Freikorps‹.«

»Sie scheinen wenig Vertrauen zu der Berliner Presse zu haben, Herr Doktor!« meinte der Vorsitzende.

»Gar keins!« entgegnete der Anwalt.

Der Vorsitzende wandte sich an den Pressetisch. »Sie haben gehört, was der Herr Verteidiger sagte – ich darf Sie wohl bitten, meine Herrn, in diesem Sinne Rücksicht üben zu wollen, auf den Zeugen sowohl wie auf den Toten.«

Ein kleiner bebrillter Herr erhob sich am Pressetisch. »Im Namen der Gerichtsberichterstatter verwahre ich mich gegen die Zumutung des Vorsitzenden. Die Presse hat die heilige Pflicht, die Öffentlichkeit wahrheitsgemäß zu unterrichten – das gilt vorzüglich bei den Prozessen gegen die Fememörderbande. Es muß uns überlassen bleiben, was wir zur Wertung von Zeugenaussagen für wichtig halten. Ganz besonders aber möchte ich betonen, daß es einer der Verteidiger war, der das Wort ›Schwule Helden der Freikorps‹ aussprach – der Herr darf sich also nicht wundern, wenn er morgen diesen Ausdruck in den Zeitungen wiederfindet!«

Er blieb stehn, schaute sich frohlockend um. Unruhe entstand im Saale, einige klatschten, während von andern gezischt wurde. Ein paar Leute verließen den Saal, krachten hinter sich die Tür zu.

Hornemann summte vor sich hin: »Als ich noch klein war, mein Herz noch rein war –«

»Sieh da«, flüsterte Gerhard, »das hab ich seit Oberschlesien nicht von dir gehört!«

»Hatt's ganz vergessen«, sagte Paul, »ist mir eben erst wieder eingefallen. Paßt ausgezeichnet, was?«

»Passen tut's nie«, murmelte Gerhard, »und richtig singen kannst du's heute noch nicht.« Er zog das Taschentuch heraus, sein Zahnfleisch begann zu bluten.

Der Vorsitzende hatte Mühe, die Ordnung im Saale wieder herzustellen. Er verhandelte mit den Herrn von der Presse und den Verteidigern, brachte schließlich eine Art Vergleich zustande: ein andrer Anwalt gab die Erklärung ab, daß er volles Zutrauen zur Presse habe, worauf der Herr mit der Brille meinte, daß er sich bei seinen Kollegen dafür einsetzen wolle, nach Möglichkeit der Bitte der Verteidiger zu willfahren – versprechen könne er natürlich nichts.

Dr. Hinrichsen wurde aufgefordert, fortzufahren in seiner Aussage. Ob er sich auch an den Angeklagten Scholz gewandt habe. Und was der ihm geantwortet habe.

Ja, er habe Gerhard Scholz nach dem Verbleiben des jungen Peters gefragt. Der habe ihm gesagt, daß er nichts wisse, daß er annehme, der Freiwillige habe sich gedrückt, sei vielleicht zurück zu seinen Eltern – doch sei auch möglich, daß er bei Sprentschütz gefallen sei.

»Dann hat er Sie also belogen?« fragte der Staatsanwalt.

»Er mußte seine Untergebenen decken«, entgegnete Hinrichsen. »Jeder Offizier hätte ebenso gehandelt.« Er wandte sich an den Vorsitzenden. »Darf ich ergebenst bitten, für eine Zeitlang nicht unterbrochen zu werden?«

Der Vorsitzende nickte.

»Ich habe den Jungen im Herzen nie für schuldig gehalten«, rief Hinrichsen, »selbst später nicht, als mir mein Verstand sagen mußte, daß er es doch war. Ich wandte mich an Wilcke; der machte geheimnisvolle Andeutungen, ließ durchblicken, daß Peters Spionage getrieben habe und deshalb habe verschwinden müssen.«

»Und damit haben Sie sich beruhigt?« fragte der Vorsitzende.

»Nicht gleich«, erwiderte der Arzt, »ich setzte meine Nachforschungen fort – erfolglos. Dann war es aus in Oberschlesien, die Freikorps wurden in alle Winde zerstreut. Erst später, beim Ruhrkampfe, erzählte mir Doktor Eggeling, daß er den Namen Peters durch seinen englischen Freund erfahren habe. Da mußte ich ja wohl von der Schuld überzeugt sein – war es bis heute.« Er seufzte, ein Stöhnen kam aus seiner mächtigen Brust. »Jetzt ist natürlich alles klar!«

»Was ist denn eigentlich klar?« fragte der Richter.

Paul Hornemann sprang auf, schrie in den Saal: »Jetzt versteh ich's! Der Lump ist's gewesen – der Hund, der Erpresser – der Wilcke!«

»Ich ersuche den Angeklagten, sich ruhig zu verhalten«, mahnte der Vorsitzende.

Der Holsteiner fuhr fort. »So ist's! Hornemann hat recht! Wilcke war der Verräter – und er bediente sich des Ausweises meines armen Freundes: Karl Friedrich Peters. Wilcke brachte den Feinden die Nachrichten – zwei Mann meiner Sturmabteilung fielen durch ihn, als wir noch vor Krappitz lagen. Ich weiß nicht, wieviel bei den Hauenburgern. Und dieser selbe Wilcke saß dann am Steuer, fuhr den unschuldigen Jungen in den sichern Tod. Dieser Wilcke, der –«

Der Vorsitzende unterbrach ihn. »Wilcke«, rief er heftig, »Zeuge Wilcke!«

Niemand antwortete.

»Wo ist der Zeuge Wilcke?« wiederholte er.

Ein Zuschauer meldete sich, machte die Mitteilung, daß der Zeuge während des Streites zwischen Presse und Verteidigung den Saal verlassen habe. Der Vorsitzende schickte Gerichtsdiener hinaus; sie kamen bald wieder zurück: im ganzen Gebäude sei er nicht zu finden.

Aufregung im Saale, Tuscheln und Reden. Der Vorsitzende setzte sein Barett auf, vertagte die Verhandlung; der Staatsanwalt versprach, den Zeugen zur Stelle zu schaffen.

Detlev Hinrichsen trat zur Bank der Angeklagten; niemand achtete es. Da kamen auch die Frauen herüber. Lili griff Gerhards Hand, hielt sie fest – das war das erste Mal nun seit achtzehn Monaten. »Gerhard«, murmelte sie, »Gerhard –«

Sie sprachen nicht viel – was konnte man schon sagen in diesen kurzen Sekunden? Schweigend stand Käte, blickte ihn an, nur Frau Ellen sagte ein paar Worte. Schwester Pia zog Apfelsinen aus ihrer Handtasche, reichte sie Gerhard. »Gleich essen – je mehr, je besser. Antiskorbutische C-Vitamine!«

Einsam stand der Metzgerhund zur Seite – dann faßte der Troßbub seine mächtige Tatze. »Wachtmeister«, flüsterte er, »lieber, alter Wachtmeister.«

Schwester Pia hörte es, trat zum Verteidigertisch. »Eine Zigarre, bitte!« verlangte sie.

Dr. Sack zog seine Dose aus der Tasche, wollte eine herausnehmen; aber sie nahm sie alle, sieben Stück. Trat zurück zur Anklagebank, reichte sie Kramer. »Nehmen Sie!«

Der Hund von Baskerville steckte die Zigarren in die Tasche. »Danke schön, Schwester Pia.«

* * *

Mit mehrstündiger Verspätung begann die Verhandlung am andern Tage; der Staatsanwalt erklärte, daß der Zeuge Wilcke nicht in seine Wohnung zurückgekehrt sei, die Polizei suche ihn in ganz Berlin.

Die Verteidigung ließ Dr. Hinrichsen noch einmal vernehmen. Er legte den von Wilcke unterschriebenen Schein vor, schilderte die Erpressungen. Ein paar Beamte sagten aus, daß er als Zuhälter bekannt sei.

Der Schriftleiter der ›Grünen Hefte‹ wurde vernommen. Er schreibe sich das Verdienst zu, sagte er, durch seine Veröffentlichungen den Stein ins Rollen gebracht zu haben, diesen Stein, der nun zur Lawine geworden sei, welche die Verbände der Fememörder unter sich begraben würde. Er selber habe die Aufsätze verfaßt; die Angaben habe ihm Wilcke geliefert. Er wundre sich nicht, daß dieser Mann nun als Zuhälter und Erpresser entlarvt sei, so etwas habe ja trefflich gepaßt in diese Banden von Räubern und Mördern.

Wilcke sei eines Tages zu ihm gekommen; er habe damals aufrichtig bereut, jemals Mitglied der Freikorpsbanden gewesen zu sein. Den Stoff, den ihm Wilcke geliefert, habe er bezahlt; habe die zum Teil recht vagen Angaben dann seinerseits schriftstellerisch bearbeitet – mit welchem Erfolge, das wisse heute die Welt. Dienst am deutschen Volke nenne er das!

Einige Zeugen wurden verhört, die im Ruhrabwehrkampf mitgewirkt hatten. Sie sagten aus, daß sie damals schon Wilcke in Verdacht gehabt hätten – während sie selber hungerten, habe er immer die Taschen voll Geld gehabt. Später habe sich dann mehr und mehr Belastendes herausgestellt; heute seien sie überzeugt, daß er auch an der Ruhr den Franzosen Spitzeldienste geleistet habe.

Am späten Nachmittage wurde Käte aufgerufen; sie erzählte von dem Briefe, in den ihr Chef, der Inhaber des Düsseldorfer Hauses Hanau, Lamberts & Co., durch Vermittlung eines Angestellten des französischen Bezirksamts Einsicht genommen habe. In diesem Briefe habe ein gewisser K. F. Peters ihren Bruder den Franzosen angezeigt – der sei daraufhin verhaftet worden. Dieser angebliche Peters aber sei nach Beschreibung des Bezirksamtssekretärs niemand anders gewesen als Wilcke.

Noch einige Kriminalbeamte wurden vernommen: man sei dem Wilcke auf der Spur, habe ihn bis jetzt nicht fassen können. Man hoffe, morgen –

Der Vorsitzende schloß die Sitzung.

* * *

Dritter Verhandlungstag – Zeuge Wilcke erschien nicht. Der Staatsanwalt begann seine Anklagerede. Er überreichte den Richtern und Geschworenen einen ganzen Stoß von Zeitungen: die Ausbeute von gestern und heute früh. Jedermann wisse, erklärte er, wie die Presse heutzutage von Mitleid triefe, wie sie auch für überführte Verbrecher eintrete, sich bemühe, in jedem noch so tief Gesunkenen doch noch den Menschen zu sehn, menschlicher Teilnahme wert.

Und nun sehe man sich einmal diese Blätter an! Nichts von Mitleid, nichts von mildem Verständnis für die begangenen Verbrechen. Mit ganz verschwindenden Ausnahmen verlange die Presse schärfstes Zugreifen, fordere rücksichtsloses Vorgehn gegen die Angeklagten. Warum? Weil hier Mitleid nicht am Platze sei, weil es gelte, diese Pestbeulen auszubrennen, die Fememörderbanden mit Stumpf und Stiel auszurotten!

Man müsse sich klar werden über die Umwelt, aus der heraus diese Verbrechen geboren seien: aus dem faulen Dunstkreis der Freikorps. Überall seien diese Banden gewesen, wo immer sie glaubten, im Trüben fischen zu können, bei dem baltischen Abenteuer, beim Kapp-Putsch wie beim Hitler-Putsch und bei der Schwarzen Reichswehr. Verwilderte Kriegshorden, die jede bürgerliche Arbeit haßten, verabschiedete Offiziere, verlaufene Landsknechte. Gewiß seien darunter auch einige harmlose, verführte Jünglinge gewesen, wie eben der Sohn des Pastor Peters, das arme Opfer dieser scheußlichen Tat. Ausnahmen! In der Hauptsache hätten sich die Banden zusammengesetzt aus gewissenlosen Verbrechern, wie die Angeklagten; aus geschlechtlich aus dem Geleise geworfenen Männern, wie der Zeuge Hinrichsen; aus Spitzeln, Dieben und Erpressern, wie dieser Wilcke. Was habe schon in solchen Kreisen ein Menschenleben gegolten!?

Das sei zugegeben, daß durch die Entlarvung dieses Wilcke sich die Sachlage verschoben habe – aber ganz gewiß nicht zugunsten der Angeklagten. Die Staatsanwaltschaft rücke weit ab von diesem falschen Kronzeugen; sie stütze sich allein auf das Geständnis der Mörder. Ein Gutes aber habe der Zwischenfall Wilcke doch gezeitigt: klipp und klar sei nun bewiesen, daß das arme Opfer nicht, wie es die Angeklagten bisher darstellten, ein elender Verräter war, sondern im Gegenteil ein braver Junge voll heißer, wenn auch wohl unreifer und mißverstandener Vaterlandsliebe.

Alle Angeklagten hätten zugegeben, daß sie dem jungen Peters eine verräterische Tätigkeit nicht zugetraut hätten. Ein Fetzchen Papier aber, auf dem sein Name gestanden habe, habe sie im Augenblick umgestimmt: sofort habe Scholz seinen widerlich rohen Befehl gegeben: 'Umlegen!' – Wenige Stunden darauf sei der Junge niedergeschossen und wie ein räudiger Hund im Walde verscharrt worden. Einem Zufall nur sei es zu danken, daß dieser nächtliche Fememord gesühnt werden könne, dem Umstande nämlich, daß grade die Landstraße, von der aus die Mörder in den Wald gezogen seien, die Grenzlinie des Abstimmungsgebietes gebildet habe – aber in diesem lächerlichen Zufall könne man den Fingerzeig des allmächtigen Gottes oder des unbestechbaren Schicksals sehn.

Er wolle sich kurz fassen. Der Angeklagte Scholz habe den Mord befohlen, der Angeklagte Kramer habe ihn ausgeführt: gegen beide beantrage er Todesstrafe. Den Angeklagten Hornemann habe ein gütiges Geschick davor bewahrt, selber zum Mörder zu werden, doch stehe seine Beihilfe außer Frage: gegen ihn beantrage er zehn Jahre Zuchthaus.

Die Verteidiger erwiderten; sie hatten die Rollen verteilt. Dr. Sack erläuterte das Wesen der Freikorps. Aus den Selbstschutzverbänden der Grenzbevölkerung seien sie entstanden, überall dort, wo nach dem verlorenen Kriege feindliche Truppen, fast stets plündernde Banden, ins Land gebrochen seien. Die deutsche Regierung habe selbst die Freikorps gerufen, und zwar gerade die sozialdemokratischen Machthaber Ebert, Noske, Wissel; man hätte diese Truppen überall dort eingesetzt, wo es besonders gefährlich gewesen sei, im Baltenlande, bei der Eroberung Münchens, bei den Ruhrkämpfen – überall im deutschen Bürgerkriege. Niemals wäre die Regierung der Spartakisten Herr geworden, wenn sie die Freikorps nicht gehabt hätte. Ihrem Opfermut allein sei es zu danken, daß Südkärnten heute deutsch sei, wie auch der dem Reiche verbliebene Teil von Oberschlesien. Daß die Abtrennung des Rheinlandes vereitelt, das Treiben der separatistischen Banden rechtzeitig niedergeschlagen worden sei – auch das sei zum großen Teil das Verdienst von Freikorpsleuten. Die Freischaren allein hätten –

Professor Grimm sprach über die Fememorde – oder das, was die Staatsanwaltschaft so zu nennen beliebe. Man habe den Zeugen Hans Hauenburg gehört, den Mann, in dessen Freikorps die Angeklagten damals gedient hätten. Hauenburg sei aber zu gleicher Zeit Chef der sogenannten Spezialpolizei gewesen, im Auftrage und im Solde der Reichsregierung. Als solcher habe er, und hätten seine Kameraden, sowohl in Oberschlesien wie im Ruhrabwehrkampf eine ganze Anzahl von Verrätern zum Tode verurteilt und erschossen: nur so habe man sich des schleichenden Verrates erwehren können. Warum wage man denn nicht gegen Hauenburg vorzugehn, der sich doch genau so offen zu all dem bekenne, was er getan, wie die Angeklagten? Man habe ihn nicht weniger als siebzehnmal verhaftet und immer wieder, ohne ein Verfahren zu eröffnen, freilassen müssen – eben weil er ja immer mit dem Willen der Regierung gehandelt habe –

Kramers Verteidiger verbreitete sich über die Demarkationslinie. Alles, was südlich von dieser geschehen sei, falle unter die Amnestie vom 30. Juni 1921. Die genaue Stelle der Erschießung des Peters kenne man nicht, habe die Leiche nicht auffinden können – wie könne man feststellen, daß diese Stelle grade außerhalb der Linie gelegen habe? Aber selbst wenn das der Fall wäre – die Absicht der Amnestie sei doch zweifellos die gewesen, für alle Straftaten in Oberschlesien Gnade zu geben. Man müsse jedes Gesetz und erst recht jeden Gnadenerlaß nach Treu und Glauben dem Sinne nach auslegen, dürfe nicht, wie das der Staatsanwalt mache, Gott oder das Schicksal – je nach der religiösen Einstellung der einzelnen Zuhörer! – dafür lobpreisen, daß diese Linie nicht einen Steinwurf weiter südlich liege. Wenn hundert andre gleichgelagerte Taten in Oberschlesien straffrei seien, dann sei es unerhört, grade in diesem Falle –

Der Staatsanwalt antwortete –

Die Verteidiger erwiderten –

Der Vorsitzende erteilte den Angeklagten das letzte Wort; nur Gerhard machte davon Gebrauch.

»Ich bedaure aufs tiefste«, sagte er, »daß wir einen tapfern Jungen, der weißgott ein besseres Schicksal verdient hatte, töteten. Wir mußten annehmen, daß er uns an die Polen verkaufte – alles sprach dafür. So mußte ich handeln, wie ich gehandelt habe – hatte keine andre Wahl. Ich übernehme die volle Verantwortung: ich gab den Befehl; meine Freunde mußten als Soldaten diesem Befehle gehorchen. Sie sind auf jeden Fall schuldlos: wenn einer schuldig ist, bin ich's allein.«

Das Gericht stand auf, sich zur Beratung zurückzuziehn; da trat der alte Pastor an den Richtertisch, sprach leise.

Der Vorsitzende nickte, setzte sich wieder. »Der Herr Pastor bittet, an den Angeklagten Kramer ein paar Worte richten zu dürfen. Wenn die Vertreter der Anklage und der Verteidigung damit einverstanden sind –«

Er wartete; von beiden Seiten nickte man. Er fuhr fort: »– so eröffne ich noch einmal die Verhandlung. Bitte, Herr Pastor.«

Der alte Mann wandte sich zur Anklagebank, er gab sich sichtlich Mühe, gefaßt zu sprechen. »Herr Wachtmeister«, sagte er, »wir wissen nun alle, daß mein armer Junge unschuldig war. Ich trage Ihnen und Ihren Kameraden nichts nach, Sie glaubten, daß er ein Verräter war, mußten das glauben. Sie haben Ihre harte Pflicht erfüllt – das ist Ihnen gewiß nicht leicht geworden. Ich –«

Der Vorsitzende unterbrach ihn. »Ich muß Sie darauf aufmerksam machen, Herr Pastor, daß ich es nicht zulassen darf, daß Sie über Schuld oder Nichtschuld der Angeklagten Ihre Meinung äußern.«

»Verzeihung«, antwortete der Pastor. »Ich habe eine Bitte an Sie, Herr Wachtmeister. Ich möchte meinen Sohn gern christlich bestatten. Wollen Sie mir sagen, wo – wo er liegt? Und – wie er starb?«

Schwerfällig erhob sich der Hund von Baskerville, starrte den Pastor an.

»Nun, Kramer!« ermunterte ihn der Vorsitzende.

Ungeschickt kamen die Worte, hart herausgestoßen. »Wenn ich dort bin, glaub ich, daß ich die Stelle wiederfinde. Eine verkrüppelte Föhre stand da, eine, die zur Seite wuchs. Ich sagte, hier lägen die Maschinengewehre, hier müßten wir graben. Der Mond schien, wir konnten gut sehn. Wir nahmen die Spaten, gruben. Wir wurden warm, zogen die Jacken aus, hängten sie über die Föhre. Sein Mauser fiel ihm aus dem Gürtel, er trat darauf. Ich sagte ihm, daß er vorsichtig sein solle, so ein Ding ginge leicht los. Wir gruben weiter. ›Vielleicht sind wir am falschen Platze‹, meinte er. Ich sagte: ›Es ist schon richtig.‹ Wir gruben weiter. Dann sprang er in das Loch, stieß den Spaten ein. ›Hier sind sie‹, sagte er, ›das klingt metallisch.‹ Er stieß wohl auf einen Stein. Er bückte sich, kniete, suchte mit den Händen. Da hab ich geschossen. Er brach zusammen – fuhr wieder hoch auf die Knie – fiel nach hinten. ›Wachtmeister‹, rief er, ›das Maschinengewehr –‹ Mehr hat er nicht gesagt. Er hat wohl geglaubt, daß da eins liege und daß das losgegangen sei.«

Er schwieg, setzte sich hin. Der Pastor trat auf ihn zu. »Dann hat er nicht gewußt, daß – daß – Dann hat er geglaubt, daß es ein Unfall sei?«

Der Wachtmeister nickte. »Ja, so war's. Viel hat er nicht mehr geglaubt – das ging so schnell. Damals tat mir's fast leid, daß ich ihm nicht vorher Bescheid sagte – das hätte ein Verräter verdient. Heut – bin ich froh drum.« Er richtete sich wieder auf, stellte sich stramm hin. »Herr Pastor – Herr Pastor, wollen Sie mir –«

Er kam nicht weiter, ließ sich schwer auf die Bank fallen.

Das Gericht zog sich zurück; die Angeklagten wurden abgeführt.

Lange dauerte die Beratung, bis tief in die Nacht hinein. Dann schrillten die Glocken, dann füllte sich wieder der Gerichtssaal: Richter, Geschworene, Staatsanwalt und Verteidiger. Angeklagte, Zuhörer.

Der Vorsitzende verkündete das Urteil. Freigesprochen wurde Paul Hornemann. Gerhard Scholz und der Wachtmeister wurden zum Tode verurteilt.

 


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