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»Not all Ding schleißt,
Not Eisen reißt,
Not schafft Donner und Blitzen,
Not macht Teufel schwitzen,
Not bricht Feindes Willen –
Not, Not, wer will dich stillen?«
Volksspruch, XVII. Jahrhundert.
»Der Krieg und der Mut haben mehr große Dinge
getan als die Nächstenliebe. Nicht euer Mitleiden, sondern
eure Tapferkeit rettete bisher die Verunglückten.«
Nietzsche.
Rheinland, September – Oktober 1923.
Also zeig, was du kannst, Troßbub«, sagte Gerhard. »Wollen sehn, ob du dich auf Benzinrösser so gut verstehst wie auf Hafermotore.«
Fritz Hemmerling tauschte den Sitz mit ihm, nahm das Steuer. »Vier Räder oder vier Beine – das ist mir gleich. Mein Vater hat doch eine Werkstatt: ich bin schon mit zehn Jahren Auto gefahren.«
Gerhard lehnte sich zurück. Donnerstag heute – morgen früh würde er in Düsseldorf sein. Er zog den Bericht aus der Tasche, den Eggeling gesandt hatte, über die ›Bildung einer geschlossenen Front der rheinischen Bewegung zur Herstellung einer selbständigen Republik‹ – also hatten sich doch endlich die Obergauner geeinigt. Sonntag sollte die französische Hebamme den häßlichen Bankert zur Welt heben – Zangengeburt! So würde er zwei Tage Zeit haben, ein wenig auszuruhn. Eine Lust faßte ihn, im Bett zu liegen, zweimal rund um die Uhr zu schlafen. Das möchte ihm gut tun, dann würde er die verdammten Malariaanfälle sicher los werden.
Gegen Mittag war er von Berlin gefahren, Richtung Küstrin. Hatte Fort Gorgast besichtigt, das der Draufgänger Raphael befehligte, den seine Leute den Erzengel nannten. Der war bereit, erzbereit, wie seine Truppe.
Dann ging es nach Westen, herum um Berlin. Gerhard ließ sich erzählen – Ingenieur werden wollte der Troßbub; er habe sich schon einschreiben lassen bei der Hochschule. Später wolle sein Vater ihn nach England schicken –
Hinter Stendal machten sie Bruch, Reifenschaden, das war bald in Ordnung. Aber dann gab's was andres jede Stunde – bald war im Vergaser eine Düse verstopft, bald eine Zündkerze verrußt, bald rutschte die Kuppelung und mußte nachgestellt werden, bald stimmte was nicht mit dem Unterbrecher. Fritz arbeitete, so gut es ging, kniete oder lag auf dem Rücken, kieterte und pöterte herum.
»Paar Kilo Blech, paar Kilo Rohr – und fertig ist der Brennabor!« lachte er. Er suchte nach der Nummer des Wagens. »Aus dem Jahre 1912 stammt die Nuckelpinne! Wo haben Sie die nur her?«
»Heeresbestand«, antwortete Scholz.
Der Troßbub nickte. »Braves Schlachtroß – hat den ganzen Krieg mitgemacht. Marke: Asbach Uralt! – Wenn die's nur schafft bis zum Rhein.«
»Muß es schaffen«, sagte Gerhard, »verstehst du!«
»Befehl, Herr Oberleutnant«, erwiderte Fritz. »Werden die Museumsziege schon hinbringen. Aber dann hat sie ausgelitten.«
Hinter Paderborn war's aus mit dem Ehrgeiz, die Karre rührte sich nicht mehr. Der Troßbub öffnete die Haube. »Ich flick's schon zurecht – schlafen Sie nur!« Hübsch einsam war's auf der Landstraße; Gerhard verkroch sich in einen Heuschober.
Es war längst Tag, als Gerhard wach wurde – war Abend wieder, als sie sich Düsseldorf näherten.
In Ratingen hauchte der Wagen sein Leben aus, grade vor einem Autoschuppen. »Schluß!« sagte Gerhard. »Stell den Kasten unter – ich hab genug für heute.«
Sie hatten Glück, erwischten noch eine Straßenbahn zur Stadt, kamen zur Jägerhofstraße.
Sie trafen niemanden. »Die Damen sind im Theater«, sagte das Stubenmädchen, »der alte Herr ist in seinem Klub.«
Sie aßen ein kaltes Abendbrot, badeten dann. »Wo sollen wir den jungen Herrn unterbringen?« fragte Gerhard.
»Ich hab das Sofa im Wohnzimmer zurechtgemacht«, sagte das Mädchen. »Ich werde den Damen Bescheid sagen.«
Gerhard nickte. »Also Gutnacht, Troßbub!«
Frisch und gut ausgeschlafen wachte er auf am nächsten Morgen. Er traf seinen Vater beim Frühstück: der war sehr gut gelaunt: er habe gestern abend mit einem alten Freunde gesprochen, nun würde er bestimmt einen Posten bekommen, sowie die Franzosen aus dem Ruhrland abgezogen seien – also vermutlich in einer Woche schon –
Gerhard blickte auf. »In einer Woche? Die Franzosen ziehn ab in einer Woche?«
Der Alte nickte. »Gewiß – was sollen sie noch dort, nachdem der passive Widerstand aufgegeben ist und die neue Reichsregierung alles bewilligt hat?«
Gerhard sprang auf. »Was sagst du da? Neue Regierung? Widerstand aufgegeben?«
Sein Vater sah ihn groß an. »Ja – liest du denn keine Blätter? Das stand doch gestern schon drin.«
Gerhard lief zu dem kleinen Tisch am Fenster, wo der Vater die Zeitungen aufbewahrte. Griff sie auf, starrte hinein.
Berlin, 26. September – München, 26. September –
Große Überschriften – Reichskanzler Cuno gestürzt durch Sozialdemokratie – Stresemann Reichskanzler – Präsident Ebert verhängt den Ausnahmezustand, überträgt Seeckt die vollziehende Gewalt. – Reichskanzler Stresemann gibt den passiven Widerstand an der Ruhr auf. – Die bayerische Regierung ernennt Kahr zum Generalstaatskommissar, überträgt ihm alle Gewalt –
Er setzte sich, die Buchstaben flimmerten ihm vor den Augen. Er las die Berichte – las sie noch einmal und wieder – was bedeutete das alles?
Stresemann? Würde der den Ebert, Severing, Braun besser widerstehn können? Hatten nicht schon die Sozialdemokraten ihren Willen durchgesetzt, wenn er den Ruhrwiderstand aufgab? Dann aber – was sollte es heißen, daß man Seeckt alle Gewalt gab? Der war nun Diktator – hatte die Reichswehr und die Schwarzen dazu und alle Wehrverbände. Mit dem kleinen Finger nur brauchte er zu winken –
Bayern – was sollte diese Extratour? Mißtraute man dort Seeckt und Stresemann ebenso wie den Preußenministern? Würden Kahr und Lossow den Streich wagen, selbst wenn der Diktator den Mut nicht fand?
Das Stubenmädchen trat ein, reichte ihm ein Telegramm. Er riß es auf, las die harmlosen Worte: ›Versucht alles, Verlobung zu hindern. Kurreich.‹ Verlobung – das war das abgesprochene Wort für: Ausrufung der Rheinischen Republik. Und die Unterschrift lautete: Kur-reich – also kam die Nachricht von der Kurfürstenstraße, kam im Auftrage des Reichswehrbefehlshabers. Das aber war Seeckt!
Er atmete auf: Seeckt war mit ihnen! Es konnte nicht anders sein!
* * *
Sehr geschickt war die Aufmachung, das mußte Gerhard anerkennen. Vom frühen Morgen ab rollten die französischen Freizüge in den Bahnhof, schleppten von allen Seiten Teilnehmer heran, Männer, Frauen und Kinder. Und die Stadt Düsseldorf, die tot sein sollte an diesem sonnig warmen Sonntage nach dem Willen ihrer Bürger und Behörden, diese Stadt wurde sehr lebendig. Freilich war alles geschlossen: Geschäfte, Gasthäuser, Galerien und Museen, Theater und Lichtspiele, und vor allen Dingen die Fenster. Zuhause blieben die Düsseldorfer, Bürger und Arbeiter, so hatten es die Parteien beschlossen – alle, nur die Kommunisten nicht. Die spielten Bevölkerung für sich allein, veranstalteten ihre eigene Kundgebung gegen die Separatisten. Mut haben sie, dachte Gerhard, das ist gewiß. Aber konnten nicht einmal alle Parteien zusammenhalten? Er seufzte, nein, das war nicht möglich im Deutschland dieser Zeit: wenn sie auch hundertmal das gleiche wollten, mußten sie dennoch gegeneinander stehn.
Leicht erkannte er die Kommunistentrupps. Verbissene, fanatische Gesichter – manche trugen rote Armbinden. Außer ihnen stand hier und da ein alter Stadtsoldat an einer Straßenecke, waffenlos; selbst die vorsintflutlichen Klappersäbel hatten die französischen Behörden weggenommen. Kein Polizist, kein Feldjäger, die lagen fest in ihren Quartieren – sie könnten aufreizend wirken, hatten die Franzosen erklärt. Aber er wußte, daß sie bereit waren: sieben Wachtmeister und drei Hauptleute gehörten zu seinem Verband; Lannwitz hielt die Verbindung.
Sonst? Eine Handvoll seiner eignen Leute, die unbemerkt durch die Straßen flitzten, Beobachtungsposten, die ihm Bericht erstatten sollten. Und endlich ausländische Zeitungsleute zu Dutzenden, Engländer meist und Amerikaner: heute würde man sicherlich guten Stoff bekommen.
Im Malkastengarten hinter dem Venusteiche hatte er seinen Standort – das war Lilis Gedanke: in dem stillen verschlafenen Park des Malerklubs würde an diesem Tag sicher kein Mensch wandeln. Sie wechselten sich ab, Lannwitz, Eggeling, Lili und er, saßen je eine Stunde dort auf der Bank, nahmen die Meldungen entgegen. Auch der Troßbub war da.
Früh schon jagten separatistische Radfahrer durch die Straßen, von ihrem Hauptquartier in der Rosenstraße zum Bahnhof und zurück, brachten und nahmen Befehle. In der ganzen Stadt war der Fernsprecher gesperrt, nur die Sonderbündler hatten – auf französischem Draht – Verbindung mit ihrer ›Obersten Heeresleitung‹ in Koblenz. Dr. Dorten saß dort und blieb dort – dem war die Etappe lieber als die Front. Auch Smeets kam nicht, hatte völlig genug an dem Denkzettel, den er zur Fastnachtszeit bekam. So blieb nur einer als Spitze: Matthes, der Oberbefehlshaber aller rheinischen Truppen.
Gerhard Scholz kannte ihn gut, diesen von Sozialisten und Kommunisten hinausgeworfenen Schmutzfink, diesen großmäuligen Preßbengel der Frankfurter ›Fackel‹, diesen erpresserischen Hochstapler, dem man auf zwanzig Schritt sein schäbiges Handwerk ansah. Er hatte ihn reden gehört in Versammlungen in Bonn und in Krefeld – wüstes Geschimpf auf Berlin und Preußen und Deutschland, kriecherisches Lobgehudel für das großherzige, edle Volk an der Seine, das die rheinischen Brüder befreien würde. Heute war er der Herr, war der Führer über Tausende.
Tausende? Immer noch rollten die Regiezüge ein, spien ihren Unrat auf den Bahnhofplatz. Immer neue Meldungen kamen zum Malkastenpark: achttausend Menschen – zwölftausend – über zwanzigtausend waren es gegen Mittag. Und der Mann, den seine französischen Freunde ›Monsieur le Docteur Matthès‹ nannten, fuhr herum in seinem prächtigen belgischen Minervawagen. Er saß auf dem Rücksitz, bei ihm seine Leibwachen, Kerls mit Gewehren und Maschinenpistolen, andere auf den Trittbrettern stehend mit Handgranaten.
Die Züge stellten sich auf, zogen über die Graf-Adolf-Straße. Voran, und immer wieder dazwischen, Stoßtrupps: Rheinlandwehren. Grün-weiß-rote Binden trugen sie um den linken Arm, Waffen aller Art: Flinten, Revolver, Säbel und Granaten. Junge Burschen meist, viele halbwüchsige –
Gerhard drängte sich in einen Haufen Kommunisten, zog mit ihnen neben dem Zuge her. Schimpfworte fielen hinüber und herüber: nicht ein rheinisches Wort hörte er von drüben. Ein paarmal erkannte er stark polnischen Tonfall und wallonische Brocken; dann wieder Sächsisch; aber auch Berlinerisch, Schwäbisch, Alemannisch – aus allen Gauen stammte die Masse. Wie war das nur denkbar, daß man diese Horde zusammentreiben konnte? Entsprungene Zuchthäusler, dachte er, verfolgte Verbrecher vielleicht, Bettler und Stromer, die so verhungert sind, daß sie für Brot und Wurst und Bier jede letzte Schande ertragen.
Er begriff es nicht. Und doch marschierten sie da vor ihm, Tausende und wieder Tausende. Menschen, die für eine Fahne brüllten, von der sie nie im Leben etwas gehört hatten, für eine Sache, von der sie nichts wußten, als das Wort: ›Rheinische Republik‹. Was aber sollte das ihnen sagen – Menschen, die nie vorher den Rhein sahen?
Die Leute da kannten keine Scham, die Grün-weiß-roten! An der Ecke standen französische Offiziere – da jubelten sie, ließen sie hochleben. »Hoch Frankreich«, brüllten sie, »hoch unsre französischen Brüder!« Einer, der wohl zeigen wollte, daß er Französisch verstand, schrie durch den Mittag: »Présentez – armes! Vivent nos Messieurs Français!«
Gerhard Scholz zitterte, kalter Schweiß kroch ihm aus den Poren – unsre Herrn, unsre französischen Herrn!
Dankend legten die Offiziere die Hand an die Mützen. Einer nur, angewidert, wandte den Schreiern den Rücken.
Er ließ den Zug vorbeiziehn. Las die Schilder, die sie trugen: Frei Rheinland, Rheinischer Unabhängigkeitsbund, Rheinisch-Sozialistische Partei, Rheinische Patriotenliga –
Dann änderte sich das Bild. Frauen kamen daher, mit Kindern an der Hand, Männer mit Stöcken, alle in Sonntagsstaat. Er wußte Bescheid, wo die herkamen: von der Eifel und vom Hunsrück hatten die Regiezüge sie hergeschleppt. Das war gewiß: nicht einer von ihnen wußte, was hier vor sich ging. Man hatte sie geholt aus den letzten Bergdörfern, aus den einsamsten Waldhütten: freie Reise hin und zurück nach Düsseldorf – davon hatten sie schon gehört, das war die schönste Stadt am Rhein. Freie Verpflegung gab's, ein paar Geldscheine in die Hand. Da kamen sie gern zum ›Rheinischen Tag‹, Vater und Großvater und Frau und Kind und Kegel.
Gerhard starrte hinüber. Das Fieber hatte ihn nun, er fühlte den Puls an den Schläfen. War da denn keiner, keiner, der dieses ärmste Bauernvolk aufklären konnte? Die Landräte freilich und Staatsbeamten waren längst ausgetrieben von den Franzosen. Aber es gab doch noch Ortsvorsteher und Landjäger, gab Lehrer und Pfarrer, denen diese Lämmlein sonst aufs Wort folgten. Und keiner wagte ein Wort?
Taumelnd ging er durch die Oststraße, dann zum Malkasten; menschenleer waren die Straßen. Er saß auf der Bank in der Sonne, trank etwas, das ihm Lili reichte. Manchmal lief ein Fasan über den Weg, sprang ein Frosch in den Teich, hackte ein Specht in die Borke. Stundenlang saß er da, fiebernd, wartend, unbeweglich.
Er hörte die Meldungen – wie von fernher kamen die Stimmen. Wenn sie verklungen waren, war ihm, als habe er das schon vor Jahrhunderten gehört.
Einer sagte: an der Tonhalle habe ein Trupp zwei Stadtsoldaten überfallen. Habe sie verprügelt, ausgezogen, ihre Mützen und Uniformstücke auf Stangen gesteckt –
Käte kam. Der Vater habe es nicht mehr ausgehalten zuhause; er sei ausgegangen, sich den Zauber anzusehn. Die Separatisten seien zum Stahlhof gezogen, um den General Degoutte dort aufzusuchen –
Eggeling berichtete: am Graf-Adolf-Platz sei Matthes auf den Bergischen Löwen geklettert, habe eine Ansprache an sein Volk gehalten –
Immer neue Meldungen. Über die Königsallee zögen sie jetzt; wenn ein Fenster offen stehe, brüllten sie hinauf, man solle es schließen, sonst würde geschossen. – Von Hand zu Hand reichten sich die Bewaffneten die Schnapsflaschen, immer frecher würde ihr Benehmen; vor dem Parkhotel habe man einen Zeitungsmann niedergeschlagen, einige Stadtsoldaten verprügelt. – Nun seien sie am Hindenburgwall; auf der Freitreppe des Stadttheaters hätte ein Trupp sich eingenistet, Gewehre in Bereitschaft. – Bei der Akademie hätten sie ein Auto angehalten, die Insassen hinausgeworfen –
Dann kam Lannwitz vom Polizeikommando der Mühlenstraße. Meldungen dort alle paar Minuten über Übergriffe und immer neue Mißhandlungen, besonders der wehrlosen Stadtsoldaten. Polizeihauptmann Pfeffer lasse sagen, daß seine Leute vor Ungeduld fieberten, daß –
Gerhard fuhr auf. »Zurück, Peter«, stieß er heraus, »sofort zurück! Wenn's ihnen noch so schwer fällt: keiner darf heraus! Erst in dem Augenblick, wenn man die Rheinische Republik ausruft, dann erst, hörst du? Dann aber, dann, mit allem was sie haben – und wenn keiner mehr zurückkommt!«
Der Rittmeister nickte hastig, stürzte ab. Gerhard sank zurück auf die Banklehne; kurz, hastig ging sein Atem.
Er wartete – doch die Nachricht, die er befürchtete, kam nicht: noch gab es keine Rheinische Republik. Warteten sie auf Bébé Dorten, würde doch der Herr Präsident noch kommen, in höchsteigner Person?
Gegen vier Uhr schwand das Fieber. Er überwand die Mattigkeit, ging erst langsam, auf Eggeling gestützt, schneller dann. Sie kamen zum Hindenburgwall – aufgeregte Massen überall in der breiten Straße. Alle Denkmäler dort waren eingehüllt in mächtige grün-weiß-rote Fahnen, Redner sprachen von den Sockeln herab. Ringsherum aber, an allen Straßenecken, standen die Stoßtrupps. Sie kamen nicht weiter in dem Gewühl, wurden abgedrängt in eine Nebenstraße. Ein Herr klopfte hier an eine Tür, unterhandelte durch die Spalte – als man endlich öffnete, wurden sie beide von der nachdrückenden Menge mit hineingeschoben; gleich hinter ihnen wurde geschlossen.
»Wo sind wir eigentlich?« fragte Herbert Eggeling.
»Im Breidenbacher Hof«, sagte der Herr, »das ist ein Nebeneingang zum Hotel.«
»Da Sie schon hier sind, müssen Sie auch bleiben«, erklärte der Kellner, »hinaus darf ich keinen jetzt lassen.«
»Also Zwangsgäste«, lachte der Herr. »Kommen Sie mit auf mein Zimmer, da können wir alles sehn, ohne totgequetscht zu werden.«
Sie öffneten das Balkonfenster ein wenig, stellten sich hinter die Gardinen; grade vor ihnen hob sich das Moltkedenkmal. Nun war einer hinaufgeklettert, stand auf dem Sockel, schwenkte ein Fähnchen in der Hand. Jetzt? War das der Augenblick, in dem sie den Rhein vom Reiche reißen wollten?
Ein paar Wortfetzen flogen hinauf: »Rettung des Rheinlandes in letzter Stunde – völlige Verelendung durch Preußens Schuld – unbedingte patriotische Pflicht jedes Rheinländers gegenüber linksradikalen Revolten und rechtsradikalen Putschen – Hand in Hand mit dem frühern Feind, der heut unser bester Freund ist –«
Unten am Sockel stand ein Mann, der glaubte das nicht. Er drehte ihnen den Rücken zu; sie konnten nicht verstehn, was er rief. Aber sie sahn gut, wie er mit den Armen in der Luft fegte, mit der Faust dem Redner da oben drohte.
Nicht lange. Einer schlug ihm von hinten mit dem Stock über den Kopf, daß sich der steife, schwarze Hut tief ins Gesicht drückte. Von allen Seiten hagelte es nun: der Mob hatte sein Opfer. Hiebe, Messerstiche – auch ein Schuß fiel. Der Mann taumelte, fiel von den Steinstufen herab, über ihm schloß sich die heulende Flut. Dann schleppten sie einen Leib daher; an den Beinen zogen ihn zwei, sein Gesicht schlackerte im Staub. Und der verbeulte Melonenhut, immer noch fest auf den Kopf gezwängt, schlackerte mit.
Der Mann auf dem Denkmalsockel schrie wieder, schwenkte wieder sein Fähnchen: Los von Preußen – frei müsse das Rheinland werden – Hand in Hand mit Frankreich –
Drüben, an der Altstadtseite, standen zwei Stadtsoldaten. Sie schritten ein, verlangten die Leiche des Erschlagenen. Man lachte sie aus, im Augenblick regnete es Hiebe; blutend rannten die Beamten in die Altstadt hinunter. Triumphgeheul folgte ihnen. Dann wurde es still – überall an den Straßenecken drängten die Stoßtrupps die Massen zurück, nahmen Deckung, legten sich in Bereitschaft. Schwüle Erwartung lag über der Menge – etwas mußte geschehn.
Der Herr, dem das Zimmer gehörte, zeigte mit dem Finger auf die Straße. »Da steht der Hund Metzen!«
Sie blickten hinunter – grad unter ihrem Fenster stand der frühere Leiter der Kruppwerke, der die Düsseldorfer Separatistenbewegung in Fluß brachte. Alle seine Amtsgenossen, und mit ihnen Herr von Krupp, saßen, zu fünfzehn Jahren Zuchthaus verurteilt, in dieser selben Stadt – Herr von Metzen freute sich drüber, blickte zufrieden auf die Masse, die ihn hochtragen sollte, brannte sich eine Zigarre an.
»So etwas lebt!« knirschte Herbert.
Schüsse fielen da drüben – gleich darauf wurden im Nebenzimmer die Fenster aufgerissen, einige Herrn traten auf ihren Balkon hinaus. Eggeling folgte ihrem Beispiel: »Wenn die ihre Nasen rausstrecken, können wir's auch tun.«
»That's just grand!« rief daneben ein Yankee. »That'll make a million dollar story!«
Wie Wahnsinnige feuerten die Stoßtrupps in die tiefer gelegene Altstadt hinein – noch sah man keinen Gegner, doch kam ein Einzelfeuer von Pistolen zurück. Dann stieg es hinauf; von der Hunsrückenstraße, von der Mühlenstraße und der Bolkerstraße rückten die Schutzleute an. Man empfing sie heiß: ehe sie noch heran waren, rollte schon ein Dutzend blutbedeckt übers Pflaster. Aber die andern kamen doch hinauf –
Gerhard flüsterte: »Gut so – das ist der rechte Augen –«
Herbert preßte seinen Arm: »Sieh doch, Lannwitz führt sie!«
Vor den Schutzleuten, einen Tschako auf dem Kopf, einen blanken Säbel in der Faust, stürmte der Rittmeister. »Deutschland!« schrie er. »Es lebe der deutsche Rhein!«
Und nun gellte es aus abertausend Kehlen. Die Masse drängte und schob, das bewaffnete Gesindel mischte sich feige hinein: einhundert tapfere Beamte säuberten die Straße. Und solche Angst hatte dieses Pack, daß sie zu Tausenden in den Goldenen Weiher sprangen, der die Straße vom Hofgarten trennte. Knietief wateten sie im Schlamm, standen im Wasser, krochen hinaus am andern Ufer beim Ananasberg.
»Treat them rough«, klang es vom Nachbarbalkon, »give 'm hell! Hooray for the German Police!«
Da aber schmetterten Clairons in die Abendluft. Französische Dragoner jagten heran, hinter ihnen Gendarmen, dann Alpenjäger. Rücksichtslos brausten sie in die Massen.
Eggeling schwang sich über das Geländer, dicht an der Ecke des Balkons, suchte mit dem Fuß einen Stützpunkt.
Gerhard faßte ihn, zog ihn zurück. »Was willst du?«
»Ich kann's nicht mehr ertragen«, rief er. »Ich komm ganz gut hinunter an der Regenröhre –«
»Du bleibst!« zischte Gerhard. »Du kannst nichts helfen da unten – wirst umsonst erschlagen. Befehl – hörst du?!«
Herbert kletterte zurück. Aug in Aug standen die Männer, totenbleich.
»Du blutest«, flüsterte er, »an der Lippe.«
Gerhard fuhr mit der Hand an den Mund, wischte die Tropfen ab. Merkte jetzt erst, wie tief seine Zähne in die Lippen schlugen.
Menschenjagd unten. Und das Wild konnte sich nicht verstecken, leicht kenntlich an den grünen Uniformen. Ein Teil entkam, floh an der Kunsthalle vorbei in die winkligen Gassen der Altstadt. Die andern wurden einzeln zusammengehaun. Manche auch gegriffen und abgeführt – die hatten Glück. Andern Gefangenen nahmen die französischen Krieger die Waffen ab, gaben sie dem Mob, überließen die Gefesselten der tierischen Wut der separatistischen Banden.
In Stücke riß man sie.
»Oh, well –« seufzte der amerikanische Zeitungsmann. »Those goddam frogeaters! – Kein Mensch wird's mir glauben, wenn ich das aufschreibe.«
Aber die Massen waren auseinandergerissen. Umsonst fuhren Matthes und seine Leute in ihren Autos herum, versuchten, die Menschen zusammenzuhalten. Sie blieben stecken, kamen nicht weiter, niemand hörte auf sie. Schüsse und Blut – Rheinlandwehren, deutsche Schutzleute, französische Soldaten: kein Mensch wußte mehr, was eigentlich los war. Und das Bauernvolk aus Eifel und Hunsrück war gewiß nicht darum hierher gekommen. Von einem Festzug hatten sie geträumt, von Kirmesklimbim, Roßmühlen, Riesendamen und Bierzelten. Sie hatten genug – heim verlangten sie.
Alles strömte zum Bahnhof. Und die Züge rollten hinaus, langsam und schwerfällig, nach allen Richtungen hin. Überfüllt alle; keiner wollte der letzte sein. Viehwagen hängte man an – wie geprügeltes Vieh drängten sich drin die Menschen. Als die Nacht sich senkte, als der junge Mond neugierig über den Rhein lugte, da sah er wirklich eine tote Stadt.
An diesem Tage wurde die Rheinische Republik nicht ausgerufen. Dafür hatten die deutschen Schutzleute ihr Blut hergegeben und ihr Leben – viele Jahre Zuchthaus dazu, das die Gefangenen erwartete.
* * *
Gerhard wollte nach Berlin zurück am nächsten Abend; Käte sollte ihn mit ihrem Wagen mittags nach Elberfeld bringen; dort wollte er mit Hauenburg sprechen, dann den Nachtzug nehmen. So ging er am Morgen durch die Straßen; das Leben der Stadt hatte seinen gewohnten Gang. Ein paar zerbrochene Scheiben, Schußlöcher an Häusern – das war alles. Blutsonntag gestern? Kein Fremder, der ahnungslos heute herkam, würde es glauben.
Zuhause fand er die beiden Frauen beieinander sitzen. »Vater ist nicht heimgekommen gestern nacht«, sagte Käte, »sein Bett ist unberührt.«
»Vielleicht –« Gerhard suchte nach einer Erklärung. »Vielleicht blieb er bei dem Freunde, der ihm Stellung versprach.«
Käte schüttelte den Kopf. »Dann würde er Bescheid geschickt haben. Er ist sehr peinlich darin; das hat er bei Mutter schon so gehalten.«
»Was denkst du?« fragte er. Sie antwortete nicht, sah verstört vor sich hin.
Lili fuhr ihr streichelnd übers Haar. »Ich habe den Rittmeister ausgeschickt und Fritz Hemmerling. Sie wollen zu den Polizeiposten.«
»Da werden sie viel erfahren – heute!« meinte er achselzuckend.
»Man muß es versuchen«, beharrte sie. »Geh du auch – ich bleibe bei Käte.«
Er nahm seinen Hut, ging die Treppe hinab. Ach, der alte Herr würde schon wiederkommen! Vielleicht hatten die Herrn im Klub die Schlappe der Sonderbündler gefeiert, hatten ihn, der sonst nie mehr als ein Viertelchen trank, gezwungen, mitzuhalten – einer hatte den Trunkenen dann mit heimgenommen –
Was beunruhigte sich Käte über solche Kleinigkeit?! War denn ihr Verhältnis zu ihm so eng? Sie sorgte für ihn – nun ja, es war der Vater – das war Erziehung, war Überlieferung. Konnte sie wirklich diesem Menschen nahestehn, der nichts kannte, von nichts andrem sprach als von seiner kleinen, unendlich gleichgiltigen Arbeit, die den einen Zweck nur hatte: Geld zu verdienen?
Zum Industrieklub in die Elberfelder Straße ging er, fragte nach seinem Vater.
Nein, der sei gestern nicht dagewesen. Nur drei, vier Herrn seien oben gewesen; die seien vor elf Uhr gegangen.
Er rief die Herrn an, deren Namen der Vater stets im Munde führte – keiner hatte ihn gestern gesehn, keiner wußte, wo er sein könnte.
Im Polizeiquartier im Rathaus traf er Lannwitz. Dienst wie gewöhnlich – trotz der Toten und Verwundeten und Gefangenen. Alle taten ihre Pflicht, ob sie gleich jeden Augenblick fürchten mußten, von den Franzosen verhaftet zu werden.
Nichts sei gemeldet, niemand aufgefunden worden.
Sie fuhren herum den ganzen Nachmittag und Abend, erhielten überall den gleichen Bescheid. Sie versprachen Geld, machten genaue Beschreibung, gaben Wohnung an und Fernsprechnummer.
»Hältst du's für möglich, daß er sich was angetan hat?« fragte Lannwitz.
Gerhard schüttelte den Kopf. »Ausgeschlossen, er klebt am Leben, war grade in den letzten Tagen voll von Hoffnung, daß er nun endlich Arbeit finden würde. Am Ende sitzt er längst ruhig zuhause und schilt auf uns, daß wir zu spät zum Abendessen kommen.«
Aber er war nicht da, als sie heimkamen.
»Was macht Käte?« fragte Gerhard.
»Sie schläft«, antwortete Lili. »Es war nichts mit ihr anzufangen – sie saß da und rührte sich nicht. Mit Mühe habe ich ihr ein Glas Wein eingeflößt, Veronal hineingegeben.
Nichts in der Nacht. Früh um sieben Uhr weckte ihn das Stubenmädchen. Herr Lamberts rufe an, wolle durchaus Fräulein Käte sprechen.
Gerhard nahm das Hörrohr, nannte seinen Namen – nein, Herr Lamberts könne seine Schwester nicht sprechen. Sie könne auch nicht ins Büro kommen, sie fühle sich nicht wohl. Man habe ihr Veronal gegeben – sie schlafe fest.
Das sei gut, sagte Lamberts, man solle sie ruhen lassen. Aber er möge herauskommen zu ihm nach Kaiserswerth – Lambertsruh, gleich hinter der Kaiserpfalz, jedes Kind würde ihm Bescheid sagen. Nämlich – nun ja – wie solle er sich nur ausdrücken – es sei da ein Mann aufgefunden worden – ein Herr – angetrieben an seinem Ufergelände –
»Tot?« rief Gerhard. »Ist er tot?«
Ja, tot sei er, das müsse man sagen. Sein Gärtner hätte ihn heute früh aus dem Rhein gefischt. Er habe ihn nicht selber angeschaut – er könne nun einmal keine Leichen sehn, das sei komisch mit ihm. Man könne auch nicht viel erkennen – nun ja, die Leiche sei ziemlich demoliert und ramponiert. Kein Geld, keine Uhr – aber ein polizeilicher Ausweis in der Brieftasche – kein Zweifel: es sei der alte Herr Scholz.
»Ich komme sofort«, rief Gerhard zurück.
Er riß die Tür des Fremdenzimmers auf. »Steh auf, Peter – sie haben ihn gefunden.«
Lili kam; er erzählte ihr. Sie hörte ihn an, sagte dann: »Du wirst nicht hinfahren.«
Er machte eine heftige Bewegung – sie griff seine Hand. »Geh zum Spiegel, schau, wie du aussiehst: gleich wird dich das Fieber haben! Dort bist du unnötig – es gibt nichts, was ein andrer nicht grad so gut erledigen könnte.«
»Es ist mein Vater«, sagte er unsicher.
»Dein Vater – ja«, sagte sie. »Und doch ein Fremder. Was hattet ihr je gemeinsam, ihr beide?«
Er antwortete nicht, ließ sich abführen. Schluckte gehorsam seine Pille, streckte sich aus auf dem Ruhebett.
Sie schickte Hemmerling, das Auto zu holen, telefonierte mit Eggeling. »Er soll verbrannt werden – ich weiß von Käte, daß ihre Mutter auch verbrannt wurde. Wenn Sie also fertig sind in Kaiserswerth, fahren Sie mit der Fähre über den Rhein nach Krefeld – dort ist die Feuerhalle – die einzige am Niederrhein. Erledigen Sie alles, Doktor.«
Den ganzen Tag hatte Herbert zu tun, draußen in Kaiserswerth, dann wieder in der Stadt, mußte von einer Behörde zur andern. Erst am Dienstagnachmittag wurde der Leichnam freigegeben; der Troßbub leitete die Überführung.
Herr Lamberts schickte seinen Wagen, auch einen mächtigen Kranz. Die Damen fuhren voraus; in einem zweiten Wagen saßen Gerhard, Lannwitz und Eggeling, mit ihnen Döres Schmitz.
»Das ging schnell«, sagte der Rittmeister. »Was hat man als Todesursache angenommen?«
Herbert Eggeling zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht – Unfall vermutlich. Die Polizei hat's erledigt – den Totenschein hat der Troßbub erst heute mittag erhalten.«
Sie schwiegen; fuhren über die Rheinbrücke nach Krefeld.
Die Leiche war schon aufgebahrt in der kleinen Halle; Döres und der Troßbub trugen die Kränze hinein, schmückten den einfachen Sarg. Draußen traten alte Herrn zu Gerhard, Freunde des Vaters – Namennennen, Händeschütteln, Zylinderlüpfen. Er erschien sich sehr überflüssig – wie eine schlechte Komödie kam ihm das alles vor.
Peter Lannwitz bekümmerte sich um Käte, fertigte die fremden Herrn ab, antwortete nichtssagende Dankesworte in ihrem Namen. Gerhard stand mit Lili ein wenig abseits, als Eggeling zu ihm trat.
»Ich hab mir's überlegt«, sagte er, »es ist doch besser, wenn ich dir alles sage. Ich weiß, wie dein Vater starb.«
Gerhard wehrte ab. »Ach laß nur, Herbert! Ob ihn der Schlag rührte oder nicht, als er in den Rhein fiel – das alles ist ja so gleichgiltig.«
»Hör doch zu –« drängte Eggeling.
Er ließ ihn nicht sprechen. »Nein, ich will nicht. Wir haben Wichtigeres zu tun, als an Familienkram zu denken. Wir leben, arbeiten – für Deutschland. Der Mann aber, um den wir jetzt schwarze Florbinden tragen, der Mann da hatte nur Sinn für seine Arbeit – und das war er selbst! Ich muß fort – du weißt, Herbert, daß ich nach Berlin muß – und er stiehlt meine Zeit.«
»Der Mann da«, rief Eggeling, »der Mann da, wie du ihn nennst –« Er stockte plötzlich, erschrak über seine überlaute Stimme. Sah sich um, flüsterte hastig. »Du wirst jetzt zuhören, Gerhard, ob du magst oder nicht – sonst werde ich's allen Leuten hier ins Gesicht schrein. Friß deine eignen Worte und merk dir's: der Mann da, dein Vater, hat Deutschland genau so geliebt, wie du es tust! Dafür allein ist er gestorben!«
Er schwieg, würgte nach Worten, begann wieder. »Du hast genug Tote gesehn – da brauch ich kein Mäntelchen umzuhängen. Also die Leiche sah abscheulich aus – ein Schuß durch den Rücken, Messerstiche, Stockhiebe; zerrissen und zerfetzt Kleider wie Leib. Auch der untere Teil des Gesichts eine unförmige Masse. Aber die obere Hälfte – Nase, Augen und Stirn – völlig unverletzt – ich habe ihn im ersten Augenblick erkannt. Und dann sah ich, neben der Leiche auf der Erde, einen schwarzen, zerschlagenen Hut. Breitkrempige Melone – deines Vaters Hut. Ich fragte die Gärtner: die sagten, daß der Tote den Hut auf dem Kopf getragen habe, tief über die Nase gedrückt – sie erst hätten ihn abgenommen. Begreifst du nun, Gerhard? Der Mann, dessen Rücken wir vom Hotelfenster aus sahn, der am Sockel des Denkmals stand, hinauf schrie zu dem Redner, der Mann, den die Menge herunterriß und mordete, dessen Leiche der Mob an den Beinen durch die Straßen schleifte – der Mann war dein Vater! Wie er im Leben dachte, das weiß ich nicht – aber daß er im Augenblick seines Todes nichts andres im Kopf hatte als Deutschland, Deutschland – das weiß ich gut!«
Mit kleinen, hastigen Schritten kam der Geistliche heran. Er fragte – trat zu Gerhard, schüttelte ihm die Hand. Lili ging zu Käte hinüber, legte den Arm um sie.
Langsam schritten sie in die Halle; standen im Halbkreis um den Sarg. Die Orgel spielte – vierstimmig sang ein Männerchor. Der Geistliche faltete die Hände zu einem stummen Gebet, sprach dann –
Ein helles Schluchzen – Gerhard wandte sich halb um. Aber es war nicht Käte, die stand neben Lili, stumm, unbeweglich, starrte vor sich hin. Nein, einer der alten Herrn weinte in sein Taschentuch.
Noch ein Choral – unter Orgelklängen senkte sich der Sarg in die Tiefe. Über ihm schloß sich der Boden.
Dann waren sie draußen. Händeschütteln; er hörte Worte, sagte: »Danke! Danke!«, verbeugte sich. Der Rittmeister faßte seinen Arm, schob ihn in einen Wagen. Er ließ sich tief zurückfallen, sah zum Fenster hinaus.
Sein Vater – was hatte Herbert erzählt? Sein Vater –
Wie denn? – Konnte ein Mensch durch sein Leben laufen, ein verknöcherter Bürger, der nichts sehn und nichts hören wollte als das, was der Alltag ihm brachte, der kaum eine Stunde übrig hatte für sein Heim und selbst am Sonntag noch ins Büro lief – der nie Verlangen zeigte nach etwas, das nicht mit seiner Arbeit zusammenhing, nie auch von etwas andrem sprach – konnte aus solchem Menschen am Ende dennoch ein heißes Empfinden brechen?
Vielleicht – wie war's mit ihm selber? Das war richtig: früher, in den Kriegsjahren, redete auch er nicht viel, sagte kaum das, was durchaus nötig war. Und es mochte wohl scheinen, als ob nichts in ihm lebe als Kriegshandwerk – war das nicht auch ein Geschäft? Hatte man im Regiment ihn nicht Trappistenmönch genannt, weil er die Zähne kaum voneinander kriegen konnte, mühsam nur einen Satz ausspuckte und dann wieder schwieg? Das war anders geworden – heute konnte er sprechen, stark und überzeugend. Aber das war allmählich in ihm gewachsen – seit ihm Lili die Zunge löste. Kam beim Vater der Anstoß nach siebzig langen Jahren wie ein Blitz vom Himmel?
Er schloß die Augen – sah wieder den Redner auf dem Sockel des Denkmals stehn, sah ihn das grün-weiß-rote Fähnchen schwenken, hörte ihn die verlogenen Phrasen herausbellen. Sah unten den alten Mann auf die Stufen steigen, den Arm recken, die Faust drohend dem bezahlten Knecht da oben entgegenstrecken. Sah den Kerl hinter ihm, der seinen Stock schwang, ihm mit wuchtigem Hieb den Hut ins Gesicht trieb, sah –
Der Vater, sein Vater war es, der dem fremden Gesindel seine Verachtung ins Gesicht spie! Der sich hindurchdrängte durch die Tausende, laut hinausrief, daß er ein Deutscher sei, nichts wissen wolle von welscher Herrschaft. Der sich selber völlig vergaß, der nichts andres mehr fühlte als das nur: einer muß es sagen – und der eine bist du!
Er war das Sturmzeichen.
Man schlug ihn tot, schleppte ihn durch die Gassen. Hieb die Stadtsoldaten zusammen, die den Toten bergen wollten. Aber während man seinen armen Leib in den Rhein warf, brachen die Schutzleute aus der Altstadt: sein Tod gab ihnen das ersehnte Zeichen! Und wenn sie auch erschlagen wurden von französischen Klingen – das hatten sie doch erreicht: der rheinische Tag war zunichte und mit ihm das Ziel der Verräter – noch gehörte das Rheinland zum Reich!
Sein Vater!
Er fühlte, zum erstenmal im Leben, fühlte glühend und heiß, daß dasselbe Blut in seinen Adern fließe. Daß der Mann, den sie nun zu Asche brannten, dennoch stark lebe, in ihm lebe. Und daß er sein war, sein – sein Vater war.
Er hörte seinen Namen, blickte zur Seite – ah, Käte!
Sie hatte den Schleier zurückgeschlagen, unaufhaltsam rannen die Tränen aus ihren Augen.
»Weißt du es?« fragte er.
Sie nickte. Flüsterte: »Lili hat's mir gesagt.«
Sie zog ihren Handschuh aus, nahm seine Hand, hielt sie fest. Still, ohne ein Wort, fuhren sie nachhause.
* * *
Aufgeregte Stimmen schlugen ihm entgegen, als er die Wohnungstür öffnete. Er hörte Eggeling rufen: »– hohe Politik!« Und dann den Rittmeister: »Was? – Verrat ist's, nichts andres, ganz erbärmlicher Verrat!«
Er trat ein – Lannwitz schwenkte eine Zeitung in der Hand. Lili griff Telegramme vom Tisch auf, hielt sie ihm hin: »Da – lies das!«
Eine Depesche Hornemanns: daß er von Berlin abgefahren sei, ihn heutabend in Elberfeld sprechen müsse. Von Hauenburg: daß er nach München sei – Gerhard solle auch dorthin. Zwei Eiltelegramme aus Berlin: er solle ohne Verzug dorthin fahren – eins trug eine verstümmelte, das andre überhaupt keine Unterschrift. Ein weiteres: daß er wie bisher am Rhein arbeiten solle – das war ›Kurreich‹ unterzeichnet – also vom Wehrministerium.
»Was ist denn geschehn?« fragte er.
»Major Buchrucker ist verhaftet«, rief Lannwitz.
»Er hat in Küstrin geputscht«, sagte Herbert.
»Geputscht?« schrie der Rittmeister. »Das nennst du einen Putsch? So putschen Waisenmädchen im Waisenhaus!«
Gerhard nahm die Abendzeitung auf, las, sagte: »Ich begreife nichts von alledem.«
Eggeling lachte. »Wenn's in ganz Europa jemanden gibt, der sich einbildet, das zu begreifen, gehört er ins Irrenhaus.«
Gerhard antwortete nicht, las noch einmal die Depeschen. Endlich sagte er: »Das eine ist sicher: ich muß sofort nach Elberfeld; Hornemann wird uns mehr sagen können. Ich weiß nicht, wann ich zurück bin – nach dem Reinfall von vorgestern werden die Separatisten vermutlich Ruhe geben für eine Weile. Du bleibst hier, Lili – Lannwitz auch, ihr beide wißt am besten Bescheid; Herbert mag mit mir fahren.«
Der Troßbub saß am Steuer; sie fuhren zum Hauptbahnhof, kauften dort alle Blätter, die sie bekommen konnten. Gerhard teilte sie, gab Eggeling einen Pack. »Lies – mach dir Notizen; wir wollen später drüber sprechen. Ich nahm dich mit, weil du am klarsten denken kannst.«
»Danke«, sagte der Hamburger. »Ich wußte nicht, daß du auch mal Artigkeiten sagen kannst.«
Sie lasen, eine Zeitung um die andre. »Nun?« fragte Eggeling.
»Jetzt nicht«, erwiderte er. »Es wäre mir lieb, Herbert, wenn du von ganz etwas anderm reden möchtest.«
Eggeling fragte: »Willst du von deinem Vater sprechen? Vielleicht wird's dir gut tun, dir das vom Herzen zu reden.«
Gerhard schüttelte den Kopf. »Ich werde noch oft dran denken – muß allein damit fertig werden. Nein, sprich von etwas, das mich ablenkt. Erzähl mir von deinem Major Seagrave.«
»Oberstleutnant«, verbesserte Herbert, »seit zwei Monaten schon. Unsre Arbeit ist beendet, ich lese grade die Bürstenabzüge. Wenn das Buch fertig ist, wird's fein aussehen – Holländisch Bütten, herrlicher Druck, Pergamenteinband. Die englischen Offiziere haben zusammengelegt für die Kosten – dafür hat er's ihnen gewidmet. Die deutsche Ausgabe ist der Kölner Universität gewidmet – die wird ihn sicher zum Ehrendoktor machen; nicht deswegen, sondern weil er keine Gelegenheit versäumt, zwischen der Stadt und der Kommission zu vermitteln. Er ist wirklich den Kölnern von großem Nutzen – aber er weiß auch, warum er's tut. Er ist der geschickteste Geschäftsmann im englischen Heer, das ist gewiß – er hat's glänzend bewiesen in Sachen Lamberts.«
»Lamberts?« fragte Gerhard. »Was hat er mit dem?«
Herbert lachte. »Weißt du das nicht? Ich sollte doch alte Möbel und Bilder für ihn kaufen. Da ich nun vom Kunsthandel nicht viel verstehe, bin ich mit Seagrave zu ihm nach Kaiserswerth gefahren. Die beiden haben sich berochen, wie zwei Fixköter aus andern Straßen. Aber dann kannten sie sich gründlich, haben seither Geschäfte gemacht – auch gründlich! Seagrave hat ihn in Köln bei den Engländern eingeführt – Herr Lamberts arbeitet da heute so gut wie mit seinen Belgiern und Franzosen. Kein Offizier läuft am Rhein herum, dem er nicht einen Teckel schenkte, einen Schäferhund oder Schnauzer – die sind große Mode jetzt!«
Er erzählte, daß Herr Lamberts dafür durch Seagrave Möbel kaufe, Bilder und alle möglichen Kinkerlitzchen. Aber das Lustige sei, daß er sich nicht anschmieren lasse; ein paarmal habe er sich geweigert, minderwertige Stücke abzunehmen. Er lasse sich die Rechnungen vorlegen und schlage ein Drittel drauf – nicht mehr und nicht weniger. Natürlich trage auf diese Weise Seagrave kein Verlangen, billig einzukaufen: so sei alle Welt glücklich und zufrieden.
»Und du?« fragte Gerhard. »Du darfst zusehn dabei?«
»Er gibt mir die Hälfte ab«, antwortete Eggeling, »schließlich hat er doch durch mich das Geschäft gemacht, läßt mich auch fast alle Arbeit tun. Übrigens knöpft mir Lili von meiner Hälfte regelmäßig noch einmal die Hälfte ab – Steuer für den Reichsverband Scholz, sagt sie. Ich geb's ihr weißgott gern – wenn ich's nicht täte, würde mir's auch nichts nützen: die nimmt von Toten und Lebendigen.«
»Ich hasse diese Geschäfte«, sagte Gerhard. »Und doch muß ich das Geld nehmen, deins und manches noch.«
Der Hamburger nickte: »O ja, das wäre gescheiter, wenn dein Vater Carnegie hieße und meiner Rockefeller! Da könnten wir die ganze Rutsche selbander in Schwung bringen.«
– Sie trafen Hornemann in Hauenburgs Bude, ließen sich berichten. »Was glaubt man bei euch?« fragte Gerhard.
»Was glaubt man?« wiederholte Paul. »Alles glaubt man, nur: jeder was andres. Die Räume in der Kurfürstenstraße sind offen, aber es sitzen Reichswehroffiziere drin – die tun alle, als wüßten sie von nichts. Ich bin sicher, daß sie wirklich nichts wissen: aus den Blättern beziehn sie ihre Weisheit.«
»Man muß sich ein Bild machen«, sagte Eggeling.
Paul zuckte die Achseln: »Versuch's, wenn du kannst.«
Herbert zog die Zeitungen aus der Tasche. »Also Seeckt hat befohlen, die Schwarzen Truppen nachhause zu schicken. Buchrucker hat sich geweigert –«
»Er hat sich garnicht geweigert«, unterbrach ihn Paul. »Er ist nach Küstrin gefahren, hat sich dort verhaften lassen.«
»Zum mindesten hat er so getan, als ob –« beharrte Herbert. »Er nahm mit dem Bataillon Hertzer eine drohende Haltung ein –«
»Was heißt das, ›drohende Haltung‹?« rief Paul. »Das ist doch Zeitungsgewäsch!«
»So kommen wir nicht weiter«, sagte Gerhard, »wir müssen es anders anfassen. Präsident Ebert erklärt den Ausnahmezustand und überträgt die vollziehende Gewalt an Seeckt – zugleich setzt er durch besondere Verordnung Todesstrafe auf Hochverrat. Seeckt hat also alles in der Hand, hat auch in der Reichswehr das Mittel, seinen Willen durchzusetzen. Er befiehlt die Auflösung der Schwarzen, die er doch selber hat aufstellen helfen – warum?«
»Vielleicht war das die Bedingung, die ihm die Sozialdemokraten stellten«, meinte Eggeling, »die wissen ja schließlich auch, daß wir nicht grade marxistisch denken.«
»Dann hat er uns also verkauft?« rief Paul. »Hat sich einwickeln lassen von den Novemberhelden?«
»Unsinn!« unterbrach Gerhard. »Er hat den Haftbefehl gegen Buchrucker unterschrieben – zugleich aber mir mitteilen lassen, daß ich am Rhein bleiben und weiter arbeiten solle. Warum läßt er mich nicht verhaften?«
»Das ist doch klar«, sagte Herbert, »dich braucht er. Im Reich sind wir unbequem, da genügt ihm die Reichswehr. Für den Rheinkampf aber hat er nur dich und deine Leute.«
Hornemann pfiff, greulich falsch. Dann sagte er: »Es ist immer dasselbe: Nein und Ja und Hott und Hü und beides zu gleicher Zeit! Todesstrafe auf Hochverrat und Buchrucker verhaftet – aber am selben Tage läßt der Reichsanwalt den Roßbach aus dem Gefängnis. Wir alle sind plötzlich Hochverräter, und Roßbach ist auf einmal keiner mehr.«
»Hast du das hier gelesen, Gerhard?« fiel Eggeling ein. »Herr von Kahr hat dem Roßbach die Offiziersschule in München anvertraut – unter der Hand natürlich – und Kapitän Ehrhardt und seinen Truppen die Grenzpolizei gegen Preußen und Thüringen.«
Gerhard nickte, reichte ihm eine Zeitung hin, die er am Rand rot angestrichen hatte. »Ja – und er hat zugleich den Vollzug aller Haftbefehle für Bayern verboten! Lies doch – Seeckt, der Reichsdiktator, setzt Lossow als Befehlshaber der bayerischen Division ab, und zur selben Zeit setzt ihn Kahr als Landeskommandanten für Bayern ein und nimmt alle bayerischen Reichswehrtruppen für sein Land in Pflicht. Das sieht fast wie offener Krieg aus.«
»Poincaré wird sich die Hände reiben«, sagte Paul. »Ein klerikal-nationales Bayern gegen ein angstbürgerlich-sozialistisches Preußen – wie soll da das Rheinland beim Reiche bleiben?!«
»Wer ist außer Buchrucker verhaftet?« fragte Gerhard.
»Major Hertzer, Raphael, Senden – ein Dutzend etwa«, kam die Antwort. »Morgen früh werden's mehr sein.«
Gerhard schwieg. Noch einmal nahm er die Zeitungen auf, blätterte sie durch, faltete sie dann zusammen. »Kein Wort von Seeckt – der verachtet die Presse. Nirgends auch nur der Versuch, seine Handlungen zu erklären. Aufgebaut wurde die Schwarze Reichswehr mit Seeckts Willen und Hilfe, mit der Unterstützung der Reichsregierung, im Einverständnis mit allen Parteien, wenn wir die Kommunisten ausnehmen. Seit Stresemann Reichskanzler ist, weht ein andrer Wind; man glaubt, die Nottruppen entbehren zu können. Die Führer der Linken fürchteten wohl, die Schwarzen könnten einmal gegen sie eingesetzt werden. Sie fingen den Kanzler ein – und mit seiner Hilfe den Herrn der Reichswehr.«
»Schmeichelten seiner Eitelkeit«, sagte Eggeling, »machten ihn zum Diktator.«
»Schöner Diktator«, rief Hornemann, »Handlanger des Redepalastes am Brandenburger Tor!«
Gerhard beachtete ihn nicht. »Seeckt – wer sagt uns, daß er nicht doch mit uns ist? Vielleicht sagte er Ja und Amen zu allem, nur um die Waffe in die Hand zu bekommen. Dann aber verpatzte es Buchrucker.«
»Was verpatzte er?« fragte Paul.
»Erzähltest du nicht«, antwortete Gerhard, »daß ihm schon zwei Tage vorher vom Wehrministerium mitgeteilt wurde, daß er verhaftet werden solle? Zeigt man einem Verbrecher solche Rücksicht? Es war Absicht dabei.«
Herbert nickte. »Ein Wink mit dem Zaunpfahl: verdufte! Der Major paßte den Herrn nicht – gleichgiltig, warum.«
»Mag sein«, überlegte Gerhard. »Möglich ist auch ein andrer Grund. Wenn ich meinen Hund trete, kuscht er oder beißt. Vielleicht wollte Seeckt, daß man ihm die Zähne zeigte – da konnte er schrein: ›Mein Hund ist toll geworden, er beißt seinen eignen Herrn.‹«
Paul nahm eine Zigarre, biß die Spitze ab, spie sie aus. »0 ja«, rief er, »und konnte den Köter abknallen: Heldentat!«
»Du verstehst es nicht, Paul«, sagte Gerhard, »darauf kommt's doch nicht an. Wenn die Leute glauben, daß ein toller Hund durch die Gassen läuft, dann verkriechen sie sich in alle Ecken. Seeckts Diktatur ist jedermann völlig gleichgiltig, man glaubt sie einfach nicht. Wenn's aber mit Mörsern schießt und mit Haubitzen knallt, merkt auch der dümmste Bürger, daß es ernst ist: da kann der Diktator zeigen, daß er da ist. Er rettet das Land – und das Volk ist ihm dankbar. Er reitet – und überreitet die Herrn, die ihm, widerwillig genug, in den Sattel halfen.«
Er nahm die Zigarre, die ihm Hornemann bot, brannte sie an. »Zwei Möglichkeiten gab es für Buchrucker«, fuhr er fort, »er griff keine von beiden, kuschte nicht und biß auch nicht. Er allein stand nach außen an der Spitze der Schwarzen, erst, wenn er floh, wäre ein andrer an seine Stelle getreten – und sicher einer, der gebissen hätte. Buchrucker stand vor dem Rubikon und traute sich nicht über den Bach. Die Möglichkeit eines Bürgerkriegs – das schien ihm zu große Verantwortung. Er wußte, daß unsre Truppen zuschlagen würden – auch gegen die Reichswehr, wenn's nötig war. Das wollte er nicht: nur kein Blutvergießen unter Brüdern! Und also ging er nach Küstrin, spielte Diplomat wie ein Schuljunge, nahm mit einem Bataillon ›drohende Haltung‹ an, übergab gleich drauf seine Truppe und ließ sich verhaften. Eine Posse ist's: just in Küstrin, wo unsre Schwarzen weit in der Überzahl waren, leicht mit den Reichstruppen fertig geworden wären.«
Er blies einen Rauchkringel in die Luft, durchstieß ihn mit der Zigarre. »Auf Hochverrat steht jetzt Todesstrafe«, fuhr er fort, »das ist ein sehr vernünftiger Gedanke. Zwanzigtausend Hochverräter liefen in Düsseldorf herum – glaubt ihr, daß einem von ihnen ein Härchen gekrümmt wird? Dem Buchrucker aber werden sie den Prozeß machen – wird er erschossen, so verspritzt er sein Blut in dem Bewußtsein, daß er damit das Leben von manchem braven Jungen rettete.«
»Und ist noch stolz drauf!« schimpfte Hornemann.
Gerhard fragte: »Wieviel Mann fielen in Küstrin?«
»Zwei Tote, sieben Verwundete«, antwortete Paul, »an ihrem Blut ist der Major sicher unschuldig. Raphael kam mit seinem Trupp in Lastautos von Fort Gorgast her – sie wurden mit Maschinengewehren empfangen, gaben selber nicht einen Schuß ab, da jeder Kampfversuch zwecklos war.«
»Und das ist also das Ende«, seufzte Eggeling, »darum habt ihr geschuftet und gehungert, habt –«
»Schweig«, rief Scholz, »wer sagt dir, daß es das Ende ist? Noch sind die Schwarzen nicht aufgelöst, Seeckt kann sie jeden Tag haben, wenn er will.«
»Und wenn er nicht will?« fragte Herbert. »Wenn er sie auflöst – wirklich nur ein Handlanger ist, der seinem Herrn gehorcht, dem Herrn Präsidenten und seinen Ministern?«
»Ich will es nicht glauben«, beharrte Gerhard.
Eggeling griff seine Hand. »Und mußt doch damit rechnen. Es war heute ein bißchen viel auf einmal – dennoch mußt du handeln.«
Gerhard erwiderte den Druck, schob dann mit rascher Armbewegung die Zeitungen vom Tisch. Nahm Papier aus der Schublade, zog das Tintenfaß heran. »Wir müssen Depeschen schreiben – helft mir. Wenn Seeckt wirklich auflösen sollte – die Männer kann er nicht wegwischen. Die bleiben. Wir müssen alles versuchen, sie nach Bayern zu bringen, zu Röhm, Ehrhardt, Roßbach. Wir haben zwei Stunden Zeit – ich nehme den Einuhrzug nach Berlin. Du kommst mit, Paulchen.«
»Das wäre saublöd«, erwiderte Hornemann, »mein Haftbefehl ist ja längst heraus. Ich möchte was andres versuchen, wenn's dir recht ist.«
»Was denn?« fragte Gerhard.
»Den Styssen haben die Franzosen nach Mainz geschafft«, kam die Antwort, »dort sitzt er im Gefängnis. Der Plan ist fertig – ich möcht ihn herausholen. Du mußt mir's erlauben, Gerhard; es ist das erste Mal, daß ich dich um etwas bitte.«
»Hat das nicht Zeit?« fragte Herbert. »Was liegt schon dran, ob der etwas länger da sitzt.«
»Es hat gar keine Zeit«, rief Paul, »sterbenskrank ist der Mann. Ich hab's seiner Frau versprochen und will mein Wort halten.«
* * *
Käte kam aus dem Badezimmer, als Lili in ihren Schlafraum trat. »Schon auf?« rief sie. »Bist spät heimgekommen. Ich lag noch wach, hab dich gehört.«
Käte Scholz nickte. »Drei Uhr war's vorbei, als ich aus dem Büro kam – muß gleich wieder hin. Tippen, tippen – das Geschäft blüht.« Sie warf den Kimono ab, zog den Frisiermantel über, setzte sich vor den Spiegeltisch. »Ich hab allerhand erfahren gestern, hab's im Bett aufgeschrieben – dort auf dem Nachttisch liegt's. Keine Zeit heut früh – gib du Bericht an Gerhard.«
Lili nahm die mit Bleistift beschriebenen Seiten. Tirard, der französische Generalkommissar, und Oberstleutnant Dolfe, der belgische Bevollmächtigte, hatten in Koblenz beraten mit Dr. Dorten, Matthes und den andern. Man einigte sich auf den alten Plan: vier rheinische Republikchen: Ruhrstaat mit Düsseldorf, Nordstaat mit Aachen, Südstaat mit Mainz, endlich die Pfalz – der Nordstaat sollte belgischem Einfluß überlassen sein. Kaum aber waren die Belgier abgereist, als Tirard mit Dorten einen neuen Plan festlegte: nur eine rheinische Republik unter Dortens Präsidentschaft, rein französisch geleitet. Das gefiel den ausgeschifften Unterschiebern recht wenig – wie der Franzose den Belgier, so verkauften sie nun diesem den Franzosen, machten sofort Mitteilung nach Brüssel. Belgien dachte nicht dran, sich um seine Beute prellen zu lassen, zögerte nicht, in dem von ihm besetzten Gebiet das Spiel zu beginnen: übermorgen schon sollte in Aachen die Sonderregierung ausgerufen werden!
»Wir haben keine zwanzig Leute dort«, sagte Lili, »außer der Polizei. Man muß sie verständigen. Der Rittmeister soll hin – willst du mit ihm?«
Käte ließ ihre Haarsträhne fallen. »Ich?« Sie lachte, nahm einen Brief auf, der vor ihr lag. »Das fand ich heutnacht – von Peter Lannwitz. Lies.«
»Nicht nötig, Käte«, sagte Lili. »Er liebt dich – das weiß ich längst. Und er hat dir einen Heiratsantrag gemacht – das hat er mir gestern gesagt. Was willst du ihm antworten?«
Sie zuckte die Achseln, ließ die Hände in den Schoß fallen. Endlich fragte sie: »Was weiß er von mir?«
Lili antwortete: »Von dem Fliegerleutnant – das hat ihm Paulchen Hornemann mal erzählt. Daß du mit ihm verlobt warst – so gut wie verheiratet. Dann weiß er, was sich die ganze Stadt erzählt; hat dich ja auch selber gesehn, damals in der ›Jungmühle‹. Nur – er glaubt nichts davon.«
»Was glaubt er?« fragte Käte.
»Daß du die schönste und klügste Frau auf der Welt seist. Daß du die Wespentaillen aushorchst und sie dabei an der Nase herumführst. Daß du die große Kunst verstehst, sehr weit zu gehn – und daß doch keiner da sei, der sich deiner Gunst rühmen dürfe. Er glaubt, daß es Männer gibt, die das mitmachen, und Frauen – oder doch eine Frau – die das fertigbringt. Kurz: er liebt dich und glaubt also Unmögliches.«
Käte fuhr mit dem Kamm durch das rebellische Haar. Wandte sich um, sagte still: »Du irrst dich, Lili. Er glaubt nur Halb-Unmögliches.«
»Wie meinst du das?« fragte die Freundin.
»Ich meine«, antwortete sie, »daß ich seither, seit der Nacht, von der du sprachst – mit keinem zusammen war. Das war im Januar, und seither bin ich – wie sagt man? – ein sehr keusches und anständiges Wesen. Das war nicht sehr bequem – kein Mann will sein Gut für nichts hergeben, ob's Schmuck oder wertvolle Nachricht ist. Ich hab mich gewunden und gedreht und immer Neues erfunden, hab alles versprochen und nichts gehalten – herrgott, hab ich gelogen in dieser Zeit! Ich bilde mir nichts drauf ein, tat's nur, weil – ich weiß nicht – weil ich mußte.«
»Dann liebst du ihn?!« rief Lili.
»Wen?« kam es zurück. »Lannwitz? Ich mag ihn gern –«
»Ob du ihn liebst?« unterbrach Lili. »Du weißt recht gut, wie ich's meine.«
Käte legte den Kamm zurück, griff zur Bürste. »Lieben –« murmelte sie.
Sie schwiegen. Nach einer Weile fragte Lili: »Den Fliegerleutnant, hast du den geliebt?«
Im Spiegel trafen sich ihre Blicke. »Damals hab ich sicher geglaubt, daß das, was ich für ihn fühlte, Liebe sei. Heut weiß ich, daß es wenig damit zu tun hatte.«
»Und seitdem«, drängte Lili, »seitdem?«
»Keinen«, antwortete sie, »keinen – das weißt du doch.«
Lili trat zum Spiegel, nahm ein Bürstchen auf, malte an ihren Wimpern. Ihre Augen flackerten; aber ruhig, gleichgiltig fast, klang ihre Stimme. »Dann ist's doch so, wie ich mir's dachte. Du sagst: keinen liebst du?! – Du lügst!«
Käte fuhr auf. »Es ist die Wahrheit. Wenn ich das möglich machte, was du für unmöglich hältst – tat ich's doch gewiß nicht für Lannwitz!«
Lili lachte; ein häßliches, zerrissenes Lachen. »Das glaub ich dir. Für einen andern tatest du's – für Gerhard!« Und ehe die andre noch antworten konnte, rief sie, herb und schneidend: »Ihn liebst du – Gerhard!«
Käte sprang auf. Aug in Aug standen die zwei Frauen, drohend und scharf.
»Was sagst du da?« rief sie. »Er ist dein Geliebter, deiner! – Und ist mein Bruder.«
Aber Lili wich nicht. »Was soll das? – Hast du nie gehört, daß eine Schwester den Bruder liebt?«
Einen Augenblick stutzte die andre. Dann warf sie den Kopf zurück, schnalzte verächtlich mit den Fingern. »In jener Nacht aber – denk doch daran! – als du bei mir saßest, stundenlang, dir erzählen ließest – als ich zurückkam, von – von – kaum mehr wußte, was ich tat – da küßte ich Peter Lannwitz – du standst dabei!«
Lili nickte. »Ja – ihn küßtest du. Aber du meintest den andern – meintest Gerhard.«
Käte lachte auf. »Nie ist mir der Gedanke gekommen – nie, hörst du? Du aber – du bist eifersüchtig.«
»Leugne ich das?« sagte Lili. »Das reißt mir den Mund auf. Und wenn dir nie der Gedanke kam und nichts dir bewußt war, so weißt du's doch jetzt: du liebst ihn!«
Schwer ließ sich Käte in den Sessel fallen, heftig ging ihr Atem. Endlich sagte sie: »Ich werde mit Lannwitz nach Aachen fahren.«
Lili legte ihr die Hand auf die Locken. »Was willst du tun?«
Aber Käte schüttelte sie ab. »Rühr mich nicht an – jetzt nicht. Geh, sag ihm Bescheid.«
* * *
Grün-weiß-rot wehten die Fahnen vom Rathaus, als sie in Aachen ankamen. In der Nacht waren die Separatisten in die Stadt gezogen, hatten unter dem Schutz belgischer Gewehre alle öffentlichen Gebäude besetzt. Überall an den Mauern klebten ihre roten Plakate, die für die belgische Zone die Rheinische Republik verkündeten.
»Wer ist der Mann, der seinen Namen drunter setzte?« fragte Lannwitz. »Ich hab ihn nie nennen hören.«
»Leo Deckers?« antwortete Käte. »Ein Schnapsbrenner, ein Schwindler schlimmster Sorte, ein solcher Auswurf, daß selbst die Smeets und Matthes ihn abschüttelten. Der ist hier Führer – einen andern fanden die Belgier nicht.«
Lannwitz geleitete sie zum Hotel; ging dann zu seinen Besprechungen. Nach kaum einer Stunde kam er zurück, stürmte in ihr Zimmer, heiß vor Erregung.
Bei der Polizei war er gewesen, hatte dort ein paar Leute ihres Verbandes gesprochen. Die hatten ihn gleich mitgenommen nach einem Vorort – in einem leeren Wagenschuppen habe man sich getroffen. Feuerwehrleute, Arbeiter, Studenten der Hochschule. Die Polizei könne nicht vorgehn, weil sie sonst, wie in Düsseldorf, sofort von den belgischen Truppen zusammengeschossen würde. Also müsse die ›Bevölkerung‹ das Rathaus nehmen – dann könne die Polizei es im Namen der Stadt besetzen.
»Habt ihr Waffen?« fragte Käte.
»Gewiß«, lachte der Rittmeister, »Fäuste und Stöcke – vielleicht wird einer auch einen Hammer oder Feuerhaken haben. Freilich nichts, was knallt, was schneidet und sticht – diese Stadt hat wallonische Angst mit dem Haarseiher durchgesiebt nach Waffen. Das ist grade der Witz – so glauben die Belgier, daß mit uns wehrlosem Volk die schwerbewaffneten Sonderbündler allein fertig werden: da können sie die unparteiischen Zuschauer spielen.«
»Wie viele seid ihr?« fragte sie weiter.
»Zwei, drei Dutzend«, rief Lannwitz, »gegen ein paar hundert auf der andern Seite! Und also sind wir in zehnfacher Übermacht. Mit nassen Tüchern sollte man das Pack aus dem Lande jagen!«
Seine Augen sprühten. Er wandte sich zur Tür, blieb dann stehn. »Fräulein Käte –« begann er, kam nicht weiter.
Sie lächelte – wie ein Schulbub stand er auf einmal da. »Was ist's, Rittmeister?« fragte sie.
»Ich möchte nur wissen«, sagte er, »– ob Sie meinen Brief lasen?«
»Zeit genug, drüber zu sprechen«, gab sie zurück.
Er nickte eifrig. »O gewiß! Ich meine nur – wir sind doch hier mitten im Krieg. Unsereins mag's jeden Tag haschen – da hat man nicht Zeit, lange zu warten auf ein bißchen Glück!«
Sie sah ihn an, lachte dann auf.
Er biß auf die Unterlippe. »Verzeihung – das kommt Ihnen lächerlich vor –« Er griff die Türklinke, aber sie legte ihm die Hand auf den Arm. »Ja, das tut es. Genau dasselbe hat mir schon einmal jemand gesagt. Damals war's ein Flieger – ich nahm bitter ernst, was er sagte. Das ist nun sechs Jahre her – aber das Wort hab ich nicht vergessen.«
»Mein Pech«, brummte er. »Darf ich ein gutes Wort mitnehmen?«
Langsam sagte sie: »Sie können haben, was Sie wollen, Peter Lannwitz.«
Warm und weich fühlte er ihre Stimme. Das war einfach und sehr bestimmt – gab ihm alles. Und es klang doch etwas heraus – was war das nur? – als ob sie fern von ihm sei, viele Nebelmeilen fern.
Nur eine Sekunde freilich empfand er das. Dann verschwand es – und nur das eine erfüllte ihn: ihr reines und klares »Ja«. Er nahm ihre Hand, drückte sie an die Lippen.
»Auf Wiedersehn«, sagte sie.
* * *
Unten wartete Hans ten Brinken auf ihn, noch ein Student und drei Schmiedegesellen. Auf dem Wege zum Rathaus kamen sie an dem Geschäftsbüro der Sonderbündler vorbei; große Plakate der neuen Republik hingen an den Fenstern.
»Sollen wir mal guten Tag sagen?« fragte Lannwitz.
Eh sie's selber wußten, waren sie drinnen. Sie zerschlugen die Möbel, warfen sie durch die Scheiben auf die Gasse, jagten die Herrschaften hinaus. In fünf Minuten waren sie fertig – als sie weiterzogen, schlossen sich andre ihnen an. In festem Tritt marschierten sie, mitten auf der Straße; an jeder Straßenecke schwoll ihr Haufe.
Vor dem Rathaus trafen sie die Freunde; vereinzelt standen die Trupps, wie man's verabredet hatte. Aber es war, als ob das Volk merke, um was es gehe. Männer, die ihres Weges gingen, noch im Augenblick vorher nicht daran gedacht hatten, waren plötzlich mitten unter ihnen. Eine Straßenbahn hielt dicht bei Lannwitz' Trupp; acht Arbeiter stiegen aus, schmale rote Binden um den Arm.
Einer trat auf ihn zu, fragte: »Führen Sie?«
Lannwitz sah die Binde, antwortete: »Gehn Sie heim; wir sind nicht Kommunisten. Ich bin preußischer Rittmeister.«
Der Mann, übergoß ihn mit einem Schwall von Worten – keine Silbe verstand er.
»Was will er?« fragte er den Studenten.
Brinken lachte. »Er spricht Oech – das ist Aachenerisch, da muß man sich erst dran gewöhnen!« – Der Mann und seine Genossen wollten mitmachen, es sei ihnen ganz gleich, ob er Offizier sei – da könne es ihm auch gleich sein, ob sie Kommunisten seien; die Hauptsache sei, daß man das Lumpenpack aus der Stadt treibe.
Lannwitz streckte dem Mann die Hand hin. »Also gut! Wir sind auf das Nebentor angesetzt.«
Ein paar Schlüsselpfiffe kreischten, da kam Bewegung in die Haufen. Einer begann – plötzlich gellte es über den Platz:
»Vür sönd allemoele Oecher Jonge,
Wia jät weit, dä ka jo komme!
Heirassassasa, valleralleraa,
Hantse lange Stäcke met de wieß Quas' dra!
Ladiritschumdei,
Nojene Paß erei –
Ladiritschum, ritschum, ritschumdei!
Tschum dei!
»Was ist das für ein Indianergeheul?« fragte Lannwitz.
»Das alte Aachener Trutzlied!« antwortete der Student. »Wenn die ›öche Oecher‹, die echten Aachner, das hören, dann juckt's ihnen in den Fäusten. Hören Sie nur!«
Die Menge heulte:
»Nu rullete se met höm dörchen Sief,
Aen dat es jeschelt ajen Hotmanspief!
Heirassassasa, valleralleraa,
Hantse lange Stäcke met de wieß Quas' dra!
Ladiritschumdei,
Nojene Paß erei –
Ladiritschum, ritschum, ritschumdei!
Tschum dei!«
Sie waren schon an den Mauern, achteten nicht auf die Schüsse aus allen Fenstern. Sie hieben mit Äxten die Füllungen aus den Türen, brachen die Schlösser auf mit Stemmeisen. Aber ehe sie noch drinnen waren, drückten sich die grün-weiß-roten Helden aus dem hintern Ausgang: das leere Rathaus eroberten sie.
»Reißt die Fahnen herunter!« befahl der Rittmeister.
– Käte Scholz, in dichte Menschenmassen gekeilt, sah zu. Sie hörte das Volk schreien und jubeln, schrie mit ihm. Sie sah, wie ein paar Verwundete weggetragen wurden, wie aus einer Nebenstraße die Polizei anrückte.
Die Menge begrüßte mit lauten Rufen die Schutzleute, die nun ins Rathaus einzogen, begrüßte lauter noch und schallender die Befreier, die herauskamen: »Alaaf Oeche – und wenn et versönk!« Käte spähte aus, aber sie sah Lannwitz nicht.
Nun, er würde schon kommen. Sprach wohl noch mit den Polizeioffizieren, die jetzt das Gebäude besetzt hielten.
So ging sie zurück zum Hotel. Sie sah den Zug der Rathauskämpfer vorbeiziehn, hörte sie singen. Dann, in einer andern Straße, ein andrer Zug. Der zog still und verbissen daher, ohne Tritt. Aber alle trugen Gewehre, hatten Pistolen im Ledergurt stecken, einige auch die Säbel in der Hand.
Sonderbündler – viele hunderte.
Dann wieder zogen belgische Truppen vorbei –
Sie kam zum Hotel, fragte nach Lannwitz – nein, er war noch nicht zurück.
Sie zog sich halb aus, legte sich aufs Bett. Das hatte sie seit Jahren nun geübt: Schlaf nachzuholen. Stets überarbeitet, benutzte sie jede Stunde, wenn nichts zu tun war, konnte schlafen zu jeder Tageszeit.
– Sie wachte auf; heftig klopfte es an die Tür. Das Stubenmädchen – ein Herr warte unten in der Halle.
Sie warf ihre Kleider über, sah auf die Uhr: vier Stunden hatte sie geschlafen – der Rittmeister würde sie auslachen.
Aber es war nicht Lannwitz, der auf sie wartete. Ein Student – er stellte sich vor, sie verstand den Namen nicht recht; der Rittmeister schicke ihn.
Dann berichtete er. Lannwitz und er seien noch im Rathaus geblieben, als die andern abzogen. Plötzlich seien belgische Bataillone angerückt, hätten die Polizei aufgefordert, das Rathaus zu räumen. Unmöglich ein Widerstand – so habe man unterhandelt. Nur acht Schutzleuten habe der belgische Befehlshaber gestattet, das Rathaus zu besetzen – sie beide seien mit diesen zurückgeblieben. Alle andern mußten entwaffnet abziehn, nach hinten hinaus über den Hof. Aber in diesen hatten inzwischen die Belgier die Banden eingelassen: die fanden schnell ihren Mut unter dem sichern Schutz, feuerten sofort auf die Wehrlosen. Fünfzehn brave Männer lagen zerfetzt auf den Steinen.
Dann begann der Gegensturm. Das Rathaus abgesperrt von belgischen Truppen, sodaß die Bevölkerung nicht herankonnte. Zehn Verteidiger drinnen, bestürmt von fünfhundert und mehr.
Und doch hielten sie das Rathaus seit drei Stunden nun.
Der Rittmeister habe ihm befohlen, sich zu retten; über die Dächer sei er geklettert. Diesen Siegelring solle er ihr bringen – Grüße, Handküsse – er selber dürfe die Kameraden nicht im Stiche lassen –
Käte betrachtete den Ring – ein Blutstein mit dem Wappen der Lannwitz. Hatte sie nicht schon solchen Siegelring?! Einen Karneol mit den Buchstaben K. E. – den hatte ihr der Flieger geschenkt, als er Abschied nahm. Sicher hatte er ihn zur Einsegnung erhalten – wie Lannwitz auch. Und sicher war es das einzige, was sie besaßen, der Rittmeister, wie der Fliegerleutnant.
Sie blickte auf, fragte: »Wie heißen Sie?«
»Brinken«, antwortete er, »Hans ten Brinken. Ich habe mit dem Rittmeister an der Ruhr gearbeitet.«
»Studieren Sie hier?« forschte sie weiter.
Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin aus Bonn, studiere dort. Aber ich habe Verwandte hier, war auch ein paar Jahre hier auf der Schule. Darum hat Ihr Bruder mich hergeschickt.«
Sie nickte. »Gut – dann wissen Sie Bescheid in der Stadt. Wer vertritt hier die Interessen Brüssels – nicht die militärischen, sondern die des belgischen Staates?«
»Toul heißt der Mann«, antwortete Brinken.
Sie stand auf. »Oberst Toul? Der?! Der Vorsitzende des Comité de la Politique Nationale Belge? Gut, sehr gut – wo wohnt er? Führen Sie mich sofort zu ihm hin.«
Sie hatten Glück, der Oberst war zuhause; sie schickte ihre Karte hinein.
»Soll ich warten?« fragte der Student.
Sie besann sich einen Augenblick. »Nein – kommen Sie mit. Wenn der Belgier Sie fragt, antworten Sie das, was ich Ihnen in den Mund lege.«
Der Oberst begrüßte sie freundlich, fragte, wie es ihr gehe – wie seinem guten Freunde, Herrn Lamberts? Und was er für sie tun dürfe?
Sie sagte, was sie wußte. Daß die Schutzleute im Rathaus eingeschlossen seien – in kurzer Frist würden sie von den Sonderbündlern überwältigt sein. Sicher würde es ihnen so ergehn wie ihren Kameraden, die man niedergeschossen habe. Nun aber habe sie dabei einen Vetter –
»Ich verstehe«, sagte der Oberst, »Sie möchten ihn retten.« Sein Blick fiel auf den Studenten. »Und wozu haben Sie den jungen Herrn mitgebracht?«
»Er ist sein Bruder«, sagte sie schnell, »ist auch mein Vetter. Er ist überall herumgelaufen – aber natürlich nicht vorgelassen worden – kein Wunder in diesen Stunden. Ich brachte ihn mit, falls Sie Fragen stellen wollen.«
»Nicht nötig«, sagte Oberst Toul. »Ich bin ja gut unterrichtet.« Er wies mit der Hand auf das Telefon.
»Dann fleh ich Sie an, Oberst«, rief sie, »tun Sie für meinen Verwandten, was möglich ist. Sie dürfen ihn nicht in die Hand der Mordbuben fallen lassen.«
»Mordbuben?!« wiederholte der Belgier. »Unsre lieben Verbündeten? Nun, Sie mögen recht haben – aber was wollen Sie, wir müssen das Gesindel benutzen. Politik – Politik! Wenn's einmal soweit ist – glauben Sie mir, Mademoiselle – werden wir sie alle zum Teufel jagen.«
»Also helfen Sie mir!« drängte Käte. »Was liegt Ihnen an diesen paar Schutzleuten, die nur ihre Pflicht tun? Was nützt es Ihrem Lande, daß man sie abschlachtet? Genügt es nicht für Ihre Zwecke, wenn Ihre Soldaten sie festsetzen?«
»Dazu haben wir leider keinen Rechtsgrund«, sagte er.
»So lassen Sie sie laufen, Oberst!« rief sie. »Die Stadt wird Ihnen dankbar sein.«
Er kniff die Augen zusammen, blickte sie an. »Sonst niemand?« fragte er.
Klebrig waren seine Finger; sie erwiderte doch den Druck seiner Hand. Zwang sich zu einem Lächeln, flüsterte: »Doch – ich auch. – Ich muß nach Düsseldorf zurück, heutnacht – aber Sie werden ja wohl einmal hinkommen –«
Er warf einen gehässigen Blick auf den Studenten. »Ja – nächste Woche schon. Ich habe dringend mit Herrn Lamberts zu sprechen. Immer noch dieselbe Geheimnummer?«
»Dieselbe«, nickte sie. »Sie wird nur von Herrn Lamberts benutzt und – von mir.«
Er ließ die Hand fahren, nahm das Höhrrohr auf, legte es doch gleich wieder hin, überlegte. »Es ist besser – daß ich selber hinfahre.« Er schellte, befahl sein Auto.
Käte sah ihm nach, als der Wagen abrollte. »Hoffentlich kommt er noch zur Zeit«, sagte sie.
»Ich glaube schon«, meinte der Student. »Sie halten den dritten Stock, und die Separatisten plündern unten.«
Sie traten zu ihrem Auto. »Wo soll ich Sie absetzen?« fragte sie.
Brinken öffnete ihr den Schlag. »Danke – ich möchte zu Fuß gehn.« Sehr abweisend klang es, fast beleidigend.
Sie hörte es gut. »Soll das heißen – daß Sie nicht mit mir fahren wollen?«
Er hielt ihren Blick. »Ja, Fräulein. Sie haben den Rittmeister gerettet – und die andern im Rathaus – das ist wahr! Und Sie sind – Gerhard Scholz' Schwester. Aber Sie haben, Verzeihung, ich möchte Sie nicht beleidigen. Aber ich bin weder blind noch taub! Sagen Sie mir, Fräulein – wozu haben Sie mich eigentlich mit hinaufgenommen?«
Sie stieg in den Wagen; sehr bitter war ihr Lächeln. »Da Sie so klug sind, Herr Student, hätten Sie das auch merken müssen. Wenn ich allein war – hätte der Oberst seinen Preis ganz sicher zuvor haben wollen; viel gute Zeit wäre da verloren gegangen, neun Menschenleben dazu. Darum nahm ich Sie mit – verstehn Sie nun?«
Sie ließ ihn stehn, fuhr zum Hotel.
* * *
Spät erst kam Lannwitz zurück. Er schickte das Stubenmädchen, ließ sagen, daß er gleich kommen würde, sich nur ein wenig in Ordnung bringen müsse. Käte nickte; sie lasse ihn bitten, mit ihr zu nachtmahlen.
Die Suppe war schon aufgetragen, als er eintrat.
Sie sah, daß er unter dem Ärmel den rechten Arm verbunden hatte, bis zum Handgelenk herunter; auch klebte ein häßliches Pflaster über der Stirn. »Verwundet?« fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Ach garnichts – der Arzt war in zehn Minuten damit fertig.«
Sie ließ ihn erzählen, füllte sein Glas, legte ihm vor. Bei den Früchten fragte er: »War das Studentchen bei Ihnen? Ein netter Junge!«
Sie antwortete: »– sehr nett. Frei und offen – sagt grad heraus, was er denkt. Er brachte mir Ihren Siegelring.«
Lannwitz nickte. »Zu der Zeit sah's aus, als ob wir zu Ende seien. Wenn sich das Gesindel nicht aufs Plündern gelegt hätte, hätten wir uns keine Viertelstunde mehr halten können. Längst waren unsre Patronen verschossen; auch die Nachbardächer waren nun besetzt. Aus Stühlen und Bänken hatten wir uns oben ein Verhau gebaut, warteten dahinter mit ein paar Äxten – soweit wir noch fähig waren, die zu schwingen. Es ist ein Wunder, daß ich hier sitze, Fräulein Käte.«
»Ja – ein Wunder«, wiederholte sie. Sie erschrak, so eisig klang ihre Stimme.
Er merkte es nicht. Er stieß mit ihr an; sie leerte ihr Glas.
Es klopfte an der Tür – niemand kam auf ihr Herein. Doch hörte sie, wie jemand an der Klinke drückte.
»Ich werde aufmachen«, sagte der Rittmeister.
Eine plötzliche Angst faßte sie, sie sprang auf, legte ihm die Hand auf die Schulter. »Nein, nein – bleiben Sie sitzen. Sie sind müde, haben einen schweren Tag hinter sich.« Sie lief zur Tür – gottseidank, daß sie in seinem Rücken lag.
Sie öffnete – ein belgischer Soldat hielt einen Busch glühroter Rosen in der Hand. Sie drängte ihn auf den Gang, schloß die Tür hinter sich. Mürrisch reichte er ihr einen Brief.
Von Oberst Toul. Hoffentlich sei der Herr Vetter heil und gesund. Ein paar Blumen schicke er. Er würde drahten – er freue sich darauf, sie in Düsseldorf wiederzusehn.
»Er soll nur kommen«, zischte sie.
Ihr Herz klopfte, als sie zurückkam ins Zimmer – sehr ruhig war doch ihre Stimme. »Der Gärtnerbursch war's – ich hatte Rosen bestellt, Rittmeister.« – Lügen, immer lügen, dachte sie.
Sie nahm eine Vase vom Schrank, füllte sie mit Wasser, gab die Blumen hinein. Stellte sie dicht vor ihn hin.
Lannwitz fuhr mit der flachen Hand drüber, griff dann ihren Arm – blickte zu ihr auf mit strahlendem Blick. »Käte«, begann er, »Sie – Sie –«
Er kam nicht weiter. Sie legte, über den Tisch hin, ihre Hand auf die seine, sagte: »Sie? – Sie? Mein Bruder und Lili und Doktor Eggeling und Hornemann und Sie auch – ihr alle sagt Du zueinander. Meinen Sie nicht, Peter Lannwitz, daß auch wir beide –«
Er sprang auf. »Ja – wir wollen Brüderschaft trinken.« Er schlang seinen Arm durch den ihren; dann tranken sie. Er setzte die Gläser zurück auf den Tisch, sagte stotternd: »Nun – müssen wir uns wohl einen Kuß geben –«
Sie nickte. »Ja, das müssen wir wohl. – Hab ich dich nicht schon einmal geküßt?«
Sie bot ihm die Lippen, ließ sich küssen. Und sie fühlte: Brüderschaft, Kuß – falsch ist das alles, nichtssagend und versteinert.
Sie ließ sich küssen – empfand doch nicht den Druck seiner Lippen. Sie griff an die Brust – ein rascher Schmerz – was krallte sich da in ihr Herz?
Schreien möchte sie, schreien. – Gerhard!
Sie schloß die Lippen. Nahm seine Hand, führte ihn zurück zu seinem Stuhl. Füllte die Gläser, trank mit ihm, trank.
Sie ließ ihn sprechen, hörte seine Stimme. Sie rückte zu ihm hin, ließ ihm ihre Arme. Schmal und sehnig waren seine Hände – schöne Hände.
Warum fühlte sie denn die Berührung nicht? Wenn er sie streichelte, zärtlich, weich – warum denn lief es nicht weiter?
Sie schloß die Augen. Fühlte: Nun würde er sie küssen. Wieder und noch einmal. Viele Male. Würde ihr Kleid lösen an der Schulter – würde leise, sehr vorsichtig – tasten nach ihren Brüsten –
Oh, ungeschickt würde er sein – und sie müßte ihm helfen. Ihr Kleid würde fallen –
Vielleicht würde er das Licht löschen. Hand in Hand würden sie hinübergehn in das Schlafzimmer – oder würde er sie tragen? Würde vor ihrem Bett knien, ihr die Schuhe ausziehn und die Strümpfe –
Und dann – Ah – er, er würde glücklich sein. Würde heiß glauben – an sie und an sein Glück!
Und sie fühlte doch, wußte, daß alles nur Lüge war.
Mußte doch so sein. So und nicht anders!
Vielleicht – mit der Zeit – mochte es geschehn, daß sie ihn liebgewann. Liebte – wie er's verdiente.
Dann würde sie das vergessen, was sie doch nie haben durfte – würde frei wieder sein. Frei.
Es mußte so sein – Lili hatte recht. Das – oder der Tod: ein Drittes gab es nicht. Und sie mußte leben – für Gerhard und sein Werk.
Sie stand auf, nahm ihm das Glas aus der Hand, das er füllen wollte. »Nein«, sagte sie, »wir haben genug getrunken.«
Sie ging zum Fenster, öffnete es weit, atmete tief die kühle Nachtluft. Kam wieder zurück, ging zum Schlafzimmer. In der Tür blieb sie stehn, streifte ihr Kleid herab.