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III

»In einem Lande, das um sein Leben kämpft, darf es keine sechsunddreißig Meinungen geben – es darf nur eine einzige geben!«

G. Clémenceau.

 

»Ich glaube und bekenne, daß ein Volk nichts höher zu achten hat als die Würde und Freiheit seines Daseins;

daß es diese bis zum letzten Blutstropfen verteidigen soll, keine heiligere Pflicht zu erfüllen, keinem höheren Gesetz zu gehorchen;

daß der Schandfleck einer feigen Unterwerfung nie zu verwischen ist, daß dieser Gifttropfen in dem Blute eines Volkes in die Nachkommenschaft übergehen und die Kraft späterer Geschlechter lähmen und untergraben wird;

daß selbst der Untergang dieser Freiheit nach einem blutigen und ehrenvollen Kampf die Wiedergeburt des Volkes sichert und der Kern des Lebens ist, aus dem einst ein neuer Baum die sichere Wurzel schlägt.

Ich erkläre und beteure der Welt und Nachwelt, daß ich die falsche Klugheit, die sich der Gefahr entziehn will, für das Verderblichste halte, was Furcht und Angst einflößen können.«

K. v. Clausewitz.

 

Mainz – Düsseldorf,
November 1922 bis Januar 1923.

Gerhard Scholz lief an diesem Abende auf und nieder auf dem Mainzer Bahnhof; es nieselte, ihn fror in seinem dünnen Gummimantel. Wenn er zu den Wartesälen kam, blickte er jedesmal auf die große Uhr, die unbeweglich mit zerbrochenem Glas in ihrem Kasten hing. Kein Mensch dachte daran, sie in Ordnung zu bringen – wozu auch? Ein Wahrzeichen dieses Bahnhofs, dieser Stadt und aller Lande am Rhein. Wenn die frei waren, würde auch die Uhr wieder gehn.

Verdreckt und versaut alles ringsum; muffige Gesichter der Beamten, die gezwungen waren, bei der Bahnregie der Rheinland-Kommission Dienst zu tun. Französische Wachsoldaten lungerten herum, langweilten sich unsäglich; französische Inschriften belehrten die wenigen Reisenden, wie man in dieser Zeit Bahnsteig und Schalter, Eingang und Ausgang, Männer und Frauen benennen müsse.

Der Zug, den Scholz erwartete, hatte Verspätung, wie jeder Zug. Eine halbe Stunde, dreiviertel Stunden – wer wußte das? Der wachhabende Unteroffizier hatte ihn schon ein paarmal näher betrachtet, einmal auch angesprochen: was er hier mache? Gerhard hatte ihn groß angesehn, mit dem Kopf geschüttelt – nichts verstehe er. Er überlegte, ob es nicht doch besser sei, sich zu drücken, auf dem Platz vor dem Bahnhof zu warten. Aber die Beleuchtung draußen war erbärmlich; er mochte Eggeling verfehlen –

Endlich lief der Zug ein; Gerhard hielt sich im Hintergrunde. Er erkannte Eggeling sofort – sah der schick aus, wie aus dem Ei gepellt! Er schritt sofort auf den Unteroffizier zu, redete ihn, sehr von oben herab, auf Englisch an. Der Franzose verstand kein Wort, stand aber stramm; er hielt ihn augenscheinlich für einen englischen Offizier, wagte nicht, nach seinem Paß zu fragen. Scholz folgte ihm; legte ihm erst, als sie durch die Sperre waren, die Hand auf die Schulter. Sie liefen über die Nebelgassen; Gerhard war sehr einsilbig.

»Was ist dir?« verlangte Eggeling.

»Kalt bin ich«, erwiderte er, »über eine Stunde wartete ich auf den verdammten Zug.«

Der Hamburger zuckte die Achseln. »Warum nehmen wir kein Taxi?« Aber Scholz antwortete ihm nicht.

Sie gingen durch die Stadt zum Rhein hinüber; Gerhard führte ihn in einen Torweg, öffnete eine alte Tür zur Linken. Schmutzige, ausgetretene Treppen hinauf; dann standen sie in einem kleinen Raum. Scholz steckte eine Kerze an – ein Bett, dicht dabei ein Sofa. Schrank, Stuhl, drei Koffer, auf einem stand ein Waschbecken. Nichts sonst.

»Wasch dich!« forderte Scholz. »Aber eil dich, wir haben viel zu besprechen.«

Eggeling besah das Becken. »Ein Bad wär mir lieber«, meinte er.

Scholz nickte. »Vermutlich würdest du auch ein Hotelzimmer vorziehn. Aber da hausen die Herrn Franzosen. Wir sind froh, daß wir dies Zimmer haben. Du bekommst das Bett – das Sofa werden wir auslosen, Hornemann und ich. Kurz oder lang – hoffentlich muß er auf dem Boden schlafen.«

Herbert Eggeling zog Mantel und Rock aus, auch den Kragen; wusch sich, so gut es gehn wollte.

»Wanzen?« fragte er.

»Ich denke nicht«, gab Scholz zurück. »Wir haben erst gestern große Treibjagd abgehalten. Mach dir nichts draus – es ist nur für diese Nacht. Morgen mußt du nach Köln.« Er warf ihm ein Handtuch zu, goß das Schmutzwasser in den Eimer. »Bist du fertig? Dann komm!«

Durch ein paar alte Gassen, am Dom vorbei. Eine kleine Wirtschaft; Bürger und Handwerker saßen bei ihren Schoppen; hinten in der Ecke, ein wenig verdeckt durch den Schanktisch, war ein Tisch frei.

»Gibt's nichts Besseres in Mainz?« fragte Eggeling.

»Setz dich nur«, sagte Gerhard. »Hier sind wir sicher. Ich weiß nicht, ob wir beobachtet werden; Hornemann schwört drauf. Immerhin ist's gescheiter, sich vorzusehn – darum zog ich's auch vor, zu Fuß zu gehn.«

Sie setzten sich, machten der Kellnerin ihre Bestellungen. Gerhard sah auf die Uhr. »Eben zehn vorbei – wir haben noch Zeit. Die andern werden kaum vor elf Uhr hier sein.«

»Welche andern?« fragte der Hamburger.

Scholz schenkte ein. »Trink! Die andern – nun, Paul Hornemann und eine Dame. Kennst sie von Oberschlesien her – Schwester Martha.« Sie stießen an. »Wir haben dich schon vor acht Tagen erwartet.«

Eggeling nickte. »Ich wäre gleich gekommen – hatte noch was Wichtiges zu erledigen.« Er zog seine Brieftasche heraus, reichte dem Freunde seine Besuchskarte. »Bitte!«

Scholz las: Dr. phil. Herbert B. Eggeling. »Doktor? – Glückwünsche! Das ging ja schnell – seit wann denn?«

»Vorgestern«, antwortete der Hamburger. »Schnell – da hast du recht. Mußte schnell gehn. Mein Alter hat nämlich Pleite gemacht – das Geld ist beim Teufel; da mußte ich pumpen bei Freunden und Bekannten. Die Universität macht's einem jetzt leicht, rechnet Kriegssemester und Zwischensemester – das Examen war eine Kinderunterhaltung. Jetzt such ich Stellung – weißt du nichts?«

»Hab Dutzende zu vergeben«, spottete Scholz, »bin die beste Stellenvermittlung für Kunstgelehrte. Aber im Ernst – ich schick dich zu einem Mann, den ich zwar nicht kenne, der dir aber vielleicht nützen kann. Ein alter Freund von dir, sitzt jetzt in Köln bei der Hohen Interalliierten Rheinlandkommission: Seagrave heißt er.«

Eggeling blickte auf. »Major Seagrave«, überlegte er, »der ist jetzt in Köln? Hat die richtige Nase, wie man's machen soll! Arm wie ein Buschnigger war er, hat sich durchgehungert durchs Studium. Keine Vettern und Gönner – und in England ist schwer anzukommen in unserm Beruf. Er hat mir oft sein Leid geklagt – was er nur machen solle, wenn der Krieg aus sei? Sitzt nun fein in Deutschland, spielt den Krösus mit seiner Pfundlöhnung, wird bei uns bleiben, solang die Besetzung gilt – ein Jahrzehnt und mehr. Wird dabei Oberst oder General, läßt sich pensionieren und bekommt eine hohe Stellung. Ich seh ihn schon: Leiter des Britischen Museums, Sir Roger Seagrave.«

»Warum nicht gleich Lord?« meinte Scholz. »Ist doch ein Aufwaschen. Inzwischen wird er wohl ein paar Arbeiten veröffentlichen, über seine keltische Göttin – wie heißt sie doch? – und ihre Spuren am Rhein. Kann sie bei uns drucken lassen, fein ausgestattet, das kostet ihn nichts in dieser Zeit – so was ebnet den Weg. Also fehlt nichts als einer, der ihm seinen Blödsinn zurechtschustert – und der Mann bist du!«

Der Hamburger schob seinen Suppenteller zurück. »Unsinn! Der druidische Kult ist niemals zum Rhein vorgedrungen, nicht einmal zur Maas.«

»Tut mir leid«, sagte Scholz. »Dann denk dir was andres aus – du hast den Kram studiert, nicht ich. Aber eins ist gewiß: arbeiten mußt du mit dem alten Kelten!«

»Warum?« erwiderte Eggeling. »Mein Gebiet ist ein ganz andres, ich beschäf–«

Scholz schnitt ihm das Wort ab. »Einerlei, womit du dich beschäftigst. Du mußt ein paar Monate täglich mit ihm zusammen sein. Mußt sein Vertrauen erwerben, alles herausfinden, was wir wissen wollen. Du hast natürlich keine Ahnung, wie es hier aussieht am Rhein, was?«

»Ich weiß, was man so in den Zeitungen liest«, erwiderte der Hamburger. »Außerdem hab ich, seit ich deinen Brief bekam, mich theoretisch mit der Sache beschäftigt.«

Scholz sah ihn groß an. »Theoretisch? Wie hast du das gemacht?«

Eggeling lachte. »Hab mir zusammengesucht, was die Geschichte über den Fall weiß: Franzosen am Rhein. Das ist nicht sehr erfreulich – besonders, was die Deutschen dabei angeht. Man kann aus der Vergangenheit so allerhand schließen auf die Gegenwart.«

»Und was lehrt die Vergangenheit?« forschte Gerhard.

»Vielleicht essen wir erst«, schlug Eggeling vor, »ich halte nicht gern Vorträge mit vollen Backen.«

Sie aßen; Scholz bestellte eine Flasche Schweicher Königsberger, füllte die Gläser. »Nun?« fragte er.

Eggeling begann: »Ist eigentlich Schuljungenweisheit; jeder Tertianer sollte darum wissen. – Köln: da war mal ein Erzbischof und Kurfürst, Maximilian Heinrich hieß er, Mitte des siebzehnten Jahrhunderts, der hätte damals schon die Franzosen gern am Rhein gesehn. Sein treuer Schüler und Weihbischof, Franz Egon von Fürstenberg, tat den ersten Streich; er wurde Bischof von Straßburg, spielte diese urdeutsche und lutherische Stadt, die Stadt Meister Erwins, Sebastian Brants und Gottfrieds, des Tristansängers, dem Franzmann in die Hände – mit ihr das Elsaß. Über die Reichsacht, der er verfiel, wird er nicht schlecht gelacht haben! So wie sein Bruder, Wilhelm Egon, über das Todesurteil, das wegen Hochverrats über ihn verhängt wurde. Dieser edle Herr hätte als Kardinal und Verwalter des Kölner Erzbistums gerne mit Köln gemacht, was sein Bruder mit Straßburg machte. Der Kaiser wachte – da floh der saubre Pfaff nach Frankreich, erhielt vom vierzehnten Ludwig ein paar fette Abteien.

»Und das Spiel, das Bischof Franz Egon mit Straßburg spielte, das sein Bruder mit Köln versuchte, das spielte hundert Jahre später ein andrer geistlicher Herr in dieser Stadt: Karl Theodor von Dalberg, Kurfürst und Fürstbischof von Mainz, Erbkanzler des Deutschen Reiches. Dieser Hund war dem Kaiser Napoleon so widerlich, daß er ihn mit Fußtritten behandelte – die bischöfliche Lakaienseele bedankte sich untertänigst und winselte weiter. So wurde er von Napoleons Gnaden: Fürstprimas, Kurerzkanzler, Vorsitzender der Rheinbundversammlung, Großherzog von Frankfurt – der Sturm der Freiheitskriege fegte ihn weg. Aber noch auf dem Wiener Kongreß bewies er der Welt, daß es durchaus nicht das Genie des großen Kaisers war, das ihn bannte, nein, nur seine hündische Liebe zu allem Französischen: nun arbeitete er für die Bourbonen, tat sein Bestes, daß das Elsaß bei Frankreich blieb. Als später Bismarck das verlorene Land wieder deutsch machte, war's wieder ein Pfäfflein, das nach der Seine schielte: Abbé Wetterle. Auch er wurde wegen Hochverrats zum Tode verurteilt, auch er lachte in Paris über die deutschen Richter. – Sag mal, Gerhard, sind heute auch wieder geistliche Herrn dabei?«

Scholz zuckte die Achseln. »Wenige nur. Die alte Hyäne Wetterle schleicht noch herum, wühlt in der Pfalz. Einige Pfarrer, Kastert, Dr. Cremers, kleinere Kirchenlichter – keiner von diesen führt. An der Spitze der Bewegung stehn ein paar Gauner – du wirst ihre Namen schon kennenlernen. Man munkelt von einflußreichen Leuten in Amt und Würden, die hinter den Kulissen arbeiten. Wir kennen auch deren Namen, aber noch wissen wir nicht, was Klatsch ist und was Wahrheit. Diese Leute bleiben im Dunkeln, werden erst hervortreten, wenn der große Schlag geglückt ist. Gelingt es uns, den abzuwenden, so bleiben sie, wo sie sind, waschen ihre Schmutzpfoten in Unschuld und Vaterlandsliebe.«

Er zog eine große Landkarte aus der Tasche, breitete sie aus auf dem Tisch. »Da schau her«, fuhr er fort, »in fünf Minuten wirst du die Lage verstehn. Die rote Linie da geht nordwärts von Mainz, nimmt Nassau, das ganze Rheinland, dann den Ruhrbezirk und folgt schließlich der Ems bis Emden – sperrt uns also von Holland ab. Nach Süden behält sie den Rhein als Grenze, nimmt die Pfalz und gibt ihr mit Mannheim einen neuen rechtsrheinischen Brückenkopf.«

Eggeling beugte sich über die Karte. »Nun – und was soll sie, deine rote Linie?«

»Was sie soll?« rief Scholz. »Das ist die neue Grenze Deutschlands. Das ist nicht die kindische Ausgeburt närrischer Schwarzseher, wir haben das aus dem Hause des ›Bureau Mixte‹ des famosen Doktor Dorten in Wiesbaden; die Linie ist von den Generälen Degoutte, Mangin und de Metz gemeinsam mit den Separatistenführern ausgearbeitet worden. Paris wird sie billigen, sowie das Land erst besetzt ist.«

Eggeling fuhr auf: »Unmöglich – mitten im Frieden!«

»Mitten im Frieden?« höhnte Scholz. »Man sieht, daß du weit vom Schuß warst. Mitten im Frieden – hier merkt man nichts davon. Ich sage dir: in sechs, spätestens acht Wochen rückt ein französisches Heer ins Ruhrgebiet.«

»Und aus welchem Grunde?« rief der Hamburger. »Mit welchem Funken von Recht?«

Gerhard lachte. »Du Narr, wer fragt nach Recht in dieser Zeit? Paris hat die Macht! Man wird behaupten, Deutschland sei seinen Tributverpflichtungen nicht nachgekommen, habe zweihundert Ziegelsteine oder dreißig Telegraphenstangen zu wenig abgeführt. Das Land wird besetzt, glaub es mir. Dann aber reißt das Separatistengesindel das Maul auf, brüllt für französisches Geld ›Los von Preußen‹, verkündet die Rheinische Republik. Das genügt für's nächste Jahr.«

Aber sie hätten die Pläne, wüßten von jeder kleinsten Bewegung, er, Gerhard Scholz, und seine Leute: Hans Hauenburg, Leo Schlageter und die andern. Berlin? Die Regierung wolle nichts hören, schwöre immer noch auf Recht und verbriefte Verträge, habe noch nicht genug an Oberschlesien, das die Polen raubten, an dem Memelland, das die Litauer in die Tasche steckten. Jedes Wort von Paris habe große Geltung, wie auch jede beruhigende Phrase der Oberbonzen aus klerikalem und sozialistischem Lager. Sie aber, Scholz und seine Freunde, betrachte man als Unruhestifter, die im Trüben fischen möchten – ihr Wort sei ein Dreck! Nein, nein, keine Hoffnung auf Berlin, man stehe wieder einmal auf sich allein, gegen den Feind und gegen Berlin dazu.

Das Schlimmste aber sei die Finanzwirtschaft: man lasse, um die innern Schulden loszuwerden, die Reichsmark zerfallen. Sei es da ein Wunder, daß man mit einer Handvoll Franken genug Hungerleider kaufen könne, die für einen Laib Brot ihre Seele verkauften? Es sei unglaublich, wie wenig Frankreich diese Bearbeitung des Rheinlandes koste: in vier Jahren nicht den zehnten Teil dessen, was Deutschland tagtäglich an Tributgeldern zahlen müsse.

Er fuhr mit den Fingerspitzen über die Landkarte, als ob er sie streicheln und liebkosen wolle, die Lande am Rhein.

Das würde nun alles losgerissen vom Reich, wenn der große Wurf gelänge – das nächste Jahr müsse entscheiden! Keine ›Rheinische Republik‹ würde man schaffen – fünf Gebiete vielmehr, fünf Bissen, die man einzeln leichter verspeisen könne. Das Saarland zunächst, dann vier Republikchen: der Ruhrstaat von Düsseldorf bis zur Mündung der Ems, der Weststaat mit Aachen und Köln, der Südstaat mit Koblenz und Mainz – endlich die Pfalz. Vier Präsidentchen seien auch schon da, die Matthes, Deckers, Smeets und Heinz-Orbis – über ihnen als Oberbundespräsident Herr Dr. Adam Dorten. Zunächst würde es heißen: rheinische Freistaaten im Rahmen des Reichs, das sei der Köder, den man der Bevölkerung hinwerfe. Später: selbständige Republiken, autonome Pufferstaaten; nach einem Weilchen würden aus diesen: Lehnstaaten, abhängig von Paris. Und endlich: französische Provinz!

Gerhard faltete die Karte zusammen, schob sie in die Tasche. »Die Franzosen werden marschieren«, wiederholte er, »kein Mensch wird sie daran hindern. Der Acker ist bestellt für die blutige Aussaat der Sonderbündler: schon sind hunderttausend gute Deutsche aus dem Lande gejagt – übers Jahr werden's doppelt soviel sein. Beamte zumeist, Leute, von denen man annimmt, daß sie Widerstand leisten würden. Dazu hagelt's Geldstrafen, die Gefängnisse sind überfüllt; mit allen Mitteln wird der Rheinländer mürbe gemacht. Sind aber die separatistischen Verbrecherbanden erst fest am Ruder, dann wird die Bevölkerung, waffenlos, führerlos, geldlos und vom Reiche jämmerlich verlassen, dann wird sie Paris kniefällig anflehn, das Land einzuverleiben, nur um diese Pest loszuwerden. Und das großmütige Frankreich wird sein Herz weit auftun und solchen Bitten gütigst willfahren. Wird der Welt kundtun, daß es die Not der gequälten Bevölkerung nicht länger mit ansehn könne. Den Mordbrennern wird dann die gute Freundschaft gekündigt, sie werden zum Teufel gejagt – welsch wird der deutsche Rhein.«

»Nette Aussichten!« pfiff Eggeling.

»Oh, es kommt noch schöner«, rief Scholz. »Denk nur ein wenig nach! – Glaubst du, daß der Pole ruhig zusehn wird, wenn sein Freund von der Seine den deutschen Hammel verspeist? Die rheinischen Republikchen werden noch nicht vierzehn Tage bestehn – und der Pole hat schon Ostpreußen im Sack, Danzig und Schlesien bis Breslau! – Wir müssen das Deutschlandlied umdichten – von der Maas und der Memel, von der Etsch und dem Belt ist schon längst keine Rede mehr, an den Wassern haben sich Belgier und Litauer, Italiener und Dänen häuslich eingerichtet. Wir werden in Zukunft singen müssen: ›Von der Ems bis an die Stolpe, von der Eider bis zum Inn‹ – mach einen Reim drauf, Bruder!«

Eggeling hielt sich die Ohren zu. »Genug«, rief er, »genug! Hör endlich auf.«

»Noch ist's nicht so weit«, fuhr Scholz fort, »noch nicht. Wie der Satan springt der französische Hengst, nimmt ein Hindernis nach dem andern, Hürden, Graben und Wall. Aber eins ist noch da, versteckt und getarnt – das kennt er nicht. Aus dem Boden gewachsen wird's plötzlich dastehn – möglich, daß der Gaul dann scheut, daß kein Reiter der Welt ihn hinüberbringt. Wir sind dabei, dies Hindernis zu bauen – du auch, Herbert Eggeling.«

Der Hamburger lehnte sich zurück. »Nimm mir's nicht übel, Gerhard – ich finde, daß du sehr schnell verfügst über Menschen. Hast nicht einmal gefragt, ob ich will.«

Scholz sah ihn voll an. »Seit fünfviertel Jahren hast du nichts von uns gehört. Dann brachte dir die Post meinen Brief – und du kamst. Was ist da zu fragen? Wärst du hier, wenn du nicht wolltest?«

Eggeling streckte ihm die Hand hin. »Also gut«, nickte er. »Übrigens kann ich nicht von der Luft leben –«

Gerhard unterbrach ihn. »Am besten wär's schon, wenn du wirklich bei deinem Major Seagrave ankommen könntest. Sonst mußt du versuchen, deine Hamburger Freunde noch weiter in Anspruch zu nehmen. Wenn's garnicht anders geht, erhältst du von uns soviel, wie du nötig hast.«

Er sprang auf; ging Lili und Hornemann entgegen, die eben durch die Tür kamen.

»Sauwetter!« rief Hornemann, schüttelte den nassen Schnee ab, hängte den alten Pelz an den Haken. Dann half er Lili aus Mantel und Gummistiefeln; sie trug Rock und Bluse, während er in einem abgewetzten Smoking stak.

Gerhard betrachtete sie. »So bist du zu dem feierlichen Abend gegangen?«

Sie nickte. »Allerdings! Alle Frauen waren in großer Toilette. Es hat sich gelohnt für mich: ich fiel natürlich auf und bin – entdeckt worden. Als Künstlerin nämlich. Aber nun gib uns was zur Leibesstärkung; wir sind verhungert und verfroren – an das prächtige Büfett des Herrn Generals war Paulchen nicht heranzubringen.«

Gerhard griff die Flasche, aber Hornemann wehrte ab. »Nein, nein, wir müssen erst einen heißen Grog haben.« Er winkte die Kellnerin heran. »Was zu essen, Fanny!«

»Kommt sofort«, sagte sie, »ist schon angerichtet.«

»Kluges Kind sorgt vor!« nickte Paul Hornemann. Er griff des Hamburgers Hand. »Tag, Eggeling, gut, daß du doch kommst – wir hatten die Hoffnung fast drangegeben.«

»Setzt euch, Kinder«, rief Gerhard. »Ich muß vorstellen: Herr Doktor Eggeling, nicht mehr Student – Fräulein Lili Ignota, nicht mehr Schwester Martha.«

Eggeling verbeugte sich. »Sehr erfreut, Sie wiederzusehn. Ich bin der Hauenburger, der im Dorfkrug zu –«

Sie unterbrach ihn. »Ich weiß – der Herr Kunstgelehrte, der in der schwarzen Muttergottes von Tschenstochau eine ägyptische Isis entdeckte. Willkommen am Rhein.« Sie reichte ihm die Hand, öffnete dann ihre Handtasche, nahm ein Skizzenbuch heraus, schlug es auf. »Also bitte, meine Herrschaften, hier ist zu sehn der Vortragende des Abends, Monsieur Maurice Barrès. Er redet gut und ist garnicht dumm – gesteh nur, Paulchen, daß du die Hälfte nicht verstanden hast. Er sprach über ›Le Génie du Rhin‹, pries Goethe – de Francfort – in alle Himmel: der sei der vorbildliche Franke. Franken des Rheins, Franken der Seine – Brüder seien sie; leider seien die Rheinfranken ein wenig zurückgeblieben. Das mache der unheilvolle Einfluß des Ostens – dieser kulturlosen, preußischen Horden. Je weiter man nach Osten komme, umso breiter mache sich die Herrschaft roher Barbaren – ich möchte nur wissen, wie er sich eigentlich uns Balten vorstellt. Vielleicht glaubt er, daß wir vom Gebrauch des Feuers noch nichts wissen, uns das Fleisch unterm Sattel mürbe reiten. – Aber wenn die Leute am Rhein den Fingerzeig der Stunde verständen, sagte er, wenn sie endlich begreifen wollten, daß für alle Franken Frankreich die liebende Mutter sei –«

»Schweig doch«, rief Hornemann. »Ich hab mehr als genug von dem Zeug verstanden, hab keine Lust, es auf Deutsch noch einmal zu hören.«

Lili lachte. »Ihr hättet sehn müssen, wie den Dichter Barrès das Publikum beklatschte! Nicht nur die französischen Offiziere und ihre Damen – mehr noch die Deutschen!« Sie blätterte in ihrem Skizzenbuche, reichte es Scholz hinüber. »Schau her, Gerhard, so sieht er aus! Und da dein besondrer Liebling, der Doktor – nein, der nicht, das ist unser Gastgeber, der General Mangin! Schlag um – so, das ist er: Doktor Dorten, preußischer Offizier und Staatsanwalt, ein hübscher Mann, das ist nicht zu leugnen. Daneben seine Frau, viel älter als er, mächtig aufgedonnert, kein Fetzchen, das nicht aus Paris stammt. Die Franzosen nennen sie ›deutsche Kuh‹ – sie tut, als ob sie's nicht höre, fühlt sich heute schon als Frau Präsidentin. Die Handschuh platzten ihr, so hat sie geklatscht. Und ihr Mann – Bébé nennt sie den Süßen, Bébé chéri! – bravote sich die Kehle heiser.«

Paul tat einen tiefen Zug. »Mehr Rum, Fanny«, rief er der Kellnerin zu. »Gerhard, sie will die Zeichnungen verkaufen – den Franzosen! Du darfst es nicht dulden, du –«

»Will?« unterbrach ihn Lili. »Sie hat sie verkauft! In der Pause kam der Redakteur der ›Revue Rhénane‹ zu mir – weißt du, der französischen Zeitschrift, die in hoher Kultur und zarter Verbrüderung macht. Er wird natürlich einen langen Aufsatz über den Vortrag des Monsieur Barrès bringen – war entzückt von meinen Blättern und kaufte sie mir ab. Ich soll sie ihm morgen bringen und mein Geld holen – er zahlt in Franken, genug, daß ich monatelang davon leben kann. Dann zeigte er mir noch ein Paar Größen, die ich ihm für sein Blatt zeichnen solle – schaut sie euch an, Kinder, da sind sie in ihrer ganzen Schönheit. Hier der Herr der Rheinlandkommission Monsieur Tirard, daneben Herr von Metzen, früher Direktor bei Krupp, jetzt Landesverräter von Beruf.«

»Zerreiß das Zeug«, beharrte Hornemann. »Mir wurde schlecht, wie du dir die Unterschriften geben ließest und mit jedem von dem Pack süße Worte wechseltest.«

»Und was wechselst du mit dem Pack?« gab sie zurück. »Mit dem schwarzäugigen Tippfräulein aus Dortens ›Bureau Mixte‹ drüben in Wiesbaden? Oder hier mit dem molligen Kinderfräulein bei Generals?«

Paul entrüstete sich. »Das ist doch ganz was andres! Wir müssen wissen, was bei den Brüdern vorgeht – zum Henker, ich hab von der Bonne die Pläne der Rheinlandteilung erhalten, dabei bin ich die langweilige Nudel schon seit Wochen leid! Und Dortens Tippmamsell wird jeden Tag teurer – jetzt will sie wieder eine neue Handtasche haben.«

Scholz klappte das Skizzenbuch zu. »Sei vernünftig, Paulchen! Warum sollen die Bilder nicht in der ›Revue Rhénane‹ erscheinen? Mich dünkt's recht gut, daß die Lumpengalerie so verewigt wird; je mehr, je besser: da mag alle Welt sehn, wie das Gesindel ausschaut, das Deutschland verkauft.«

* * *

Klar war der Tag im Januar, kein Lüftchen wehte und die Sonne schien; sehr still war es im Malkastengarten zu Düsseldorf um diese Zeit, zwei Uhr nachmittags. Fasanen liefen über die Wege, Eichhörnchen jagten sich in dürren Zweigen.

Kein Wort sprach Lili, kein Wort Gerhard Scholz. Nur sein Vater redete leise, so vor sich hin, ohne eine Antwort zu erwarten. Immer dasselbe: er habe den getroffen und jenen; noch sei nichts abgeschlossen, doch habe man ihm Hoffnung gemacht – wenn nur erst die Franzosen aus der Stadt seien. Immer wieder blieb Gerhard ein paar Schritte zurück – immer wieder wartete der Vater, bis er heran war. Endlich nahm Lili des Alten Arm, erklärte, daß sie allein mit ihm weiter wolle; Gerhard möge seinen Geschäften nachgehn. Dankbar sah er sie an, eilte über die Düsselbrücke.

Merkwürdig, wie sehr ihn der Vater reizte. Nun war er schon vierzehn Tage zu Hause – von nichts anderm hatte der alte Herr gesprochen. Arbeit suchte er, Arbeit, gleich was, gleich wo – daran allein dachte er, nur davon sprach er. Und war doch über siebzig nun, hatte sein schönes Heim, in dem ihm gewiß nichts abging. Die Käte –

Er ging am Jägerhof vorbei, dem alten Jagdschlößchen; dann durch den Hofgarten. Dort, in der Jägerhofstraße, hauste der Kommandant; die Trikolore wehte herab; französische Soldaten bewachten die Einfahrt. An der andern Ecke der Straße das Verwaltungsgebäude – wieder Fahnen und himmelblaue Schildwachen. Und zwischen beiden, fast in der Mitte, das Haus, in dem Vater und Schwester wohnten, und in dem sie nun zu Besuch waren, Lili und er.

Er ging durch den Park zum Rhein; die Brücke war besetzt von belgischen Soldaten. In der Mitte arbeiteten Pioniere, höhlten einen Pfeiler aus. Er verstand gut, was die wollten: Ekrasit bis zum Rand – so konnte man, wenn's not tat, in zwei Minuten die Brücke in die Luft sprengen. Er ging zurück, an der Akademie vorbei, durch die Lindenallee – da parkten ein paar Dutzend Tanks und viele leichte Geschütze. Spanische Reiter drum herum. Soldaten überall – dreißigtausend mochten in und bei der Stadt liegen. Und alle zum Abmarsch bereit – nach Osten, ins Ruhrgebiet.

Er bog in die Altstadt ein, lief durch die engen Gassen; immer wieder sah er auf die Uhr. Nein, noch war es nicht Zeit, erst um vier Uhr hatte er Döres bestellt, und die Käte konnte bestenfalls eine Stunde später mit ihrem Auto zurück sein. Er kam zum Karlsplatz – Minenwerfer, Panzerwagen, Truppen – meingott, mußten sie denn überall sein? Rasch ging er weiter, kam zum Schwanenmarkt, setzte sich auf eine Bank. Hier war es friedlich, nur Kinder spielten herum. Er zog ein Telegramm heraus, las es durch, zerriß es dann in kleine Fetzen. Besser immerhin, obgleich die Worte harmlos genug klangen: »Unfall. Auto benötigt ein Uhr Karthause.« Das war heute morgen angekommen.

Um den Lannwitz ging's. Der war seit Wochen in Koblenz; hatte gut dort gearbeitet, in aller Stille eine Menge junger Leute zusammengebracht, fest seinen Haufen geschweißt – Technische Nothilfe nannte man das jetzt. Dann hatte man doch Wind bekommen; auf Befehl des französischen Oberbefehlshabers hatten die Amerikaner, ungern genug, einen Steckbrief hinter ihm erlassen, ihn dann eingesperrt in dem alten Fort, der Karthause. Sie behandelten ihn gut; aber nun würden sie abziehn, würden ihren Gefangnen den Franzosen überlassen – dann gnade ihm Gott! Also: man mußte ihn vorher herausholen. Es würde schon klappen, Lannwitz war ja nicht der erste, den man befreite.

Da kam das Telegramm. Unfall – das hieß: das Auto war beim Teufel – und woher sollte man ein andres nehmen in diesen Tagen, in denen jeder Wagen im Rheinland beschlagnahmt war? Da erklärte Käte: »Ich hole ihn.« Ein Uhr – bei der Karthause vor Koblenz – das würde sie schaffen. Zurück durch Köln, da konnte sie von Eggeling Nachricht holen; dann sollte sie Lannwitz herbringen. Hier würde ihn Döres Schmitz in Empfang nehmen, der nun endlich seine Stina geheiratet hatte, würde ihn mit hinausnehmen nach Himmelgeist – da war er einstweilen sicher.

Gerhard horchte auf: sieben, acht kleine Mädchen spielten hinter seiner Bank. Sie standen in einer Reihe, eine blonde, dicke vor ihnen, die Augen verbunden. Die rief, so laut sie konnte: » Wer von euch hat meine Seele gefressen?« Alle liefen weg; die Dicke riß ihr Tuch ab, rannte hinterdrein. Er folgte ihnen; aber sie jagten um den Brunnen herum – schade, das Spiel von der gefressenen Seele hätte er gern ergründet. Am Brunnenrand saßen eine Menge Jungen, schöpften mit beiden Händen, schlürften das eiskalte Wasser.

»Habt ihr solchen Durst?« fragte er.

»Jar keine!« lachte einer. »Mer wolle Feuerwehr spiele.«

Sie boten sich an, Rad zu schlagen, Düsseldorfer Überlieferung getreu. Er gab ihnen Geld, und sie zeigten ihre Kunst.

Dann zählten sie, gaben ihre Reichtümer einem Dünnen mit pfiffigem Gesicht. »Lauf an dä Eck, Köbes«, rief der Längste, »kauf Röggelches un Korinthestütches – wat de kriejen kanns. Laß dich nich anschmiere un friß nix auf unterwegs. Äwer eil dich: sons is et Jeld nix mehr wert!«

»Also nun Feuerwehr«, verlangte Scholz, »wie geht das?« Der Bengel schüttelte den Kopf: »Mer han noch kein Haus; warte Se nur, et wird schon eins komme.«

Gerhard ging zu der Bank zurück; nun sprangen die Mädchen einen Ringelreihn – eine stand in der Mitte. Dazu sangen sie mit tiefstem Ernst:

»In Hannover, an der Leine,
In der Grabengasse Nummer acht,
Wohnt der Massenmörder Haarmann,
Der aus Menschen Hackfleisch macht.
Warte, warte, nur ein Weilchen,
Bald kommt Haarmann auch zu dir,
Kommt mit seinem Hackehackebeilchen
Und macht Schabefleisch aus dir.«

Alle liefen zur Mitte, taten, als ob sie Hackebeilchen in den Händen hätten und ihr Opfer hübsch kleinhacken wollten. Dies Spiel schien ihnen sehr zu gefallen; immer wieder wurde das Opfer ausgewechselt, während die Mördermädchen mit wahrer Begeisterung ihren Vers sangen.

Eine helle Stimme klang vom Brunnen her: »Da kömmt dat Schängelche – dä kennt et noch nich! Komm mal her, Dotz, willste mit uns Feuerwehr spiele?«

Ein kleiner, kaum vierjähriger Junge lief über den Platz. »Wat muß ich da donn?« fragte er. Man belehrte ihn rasch: er sei das brennende Haus, solle sich an den Baum stellen und »Feuer!« schreien. Das begriff das Schängelche schnell genug, er ging an den Baum, brüllte aus Leibeskräften: »Es brennt! Feuer! Feuer!« Mittlerweile hatten sich die Jungen am andern Ende aufgestellt; einer war Hauptmann, der gab Befehle, verteilte die Rollen: Pferde, Wagen, Feuerwehrleute. »Los!« rief er endlich – da raste die Bande auf das brennende Haus zu. Sie fackelten nicht lange – sie rissen die Höschen auf, löschten nach Herzenslust. Das brennende Haus war so verdutzt und verdattert, daß es sich nicht zu rühren wagte, nicht einmal heulte, alles geduldig über sich ergehn ließ.

Ein halbwüchsiger Metzgerbursch ging über den Platz, die Fleischermulde auf der Schulter, einen Zigarettenstummel im Mundwinkel. Er kam an dem Baum vorbei, sah sich die Bescherung an. Schüttelte den Kopf, sagte vorwurfsvoll: »Böh! Sidd ihr Säu!« Aber dann entschloß er sich doch, spie die Zigarette aus, stellte sich zurecht, löschte über die Köpfe der Jungen hinweg. Nun lösten sich die Reihn; helle Tropfen liefen dem kleinen Kerl über die Backen, vielleicht waren auch Tränen dabei. Scholz lachte; gar zu kläglich schaute das Schängelche drein. Der Reine Tor hatte seine Lehre; der würde nie wieder brennendes Haus spielen – das nächste Mal machte er gewiß bei der Feuerwehr mit.

Sieh doch, da standen die Mädchen – die hatten ihren Singsang unterbrochen. Sperrten Augen und Mäuler auf – wie ein Bedauern leuchtete es auf ihren Gesichtern, daß sie nicht mitmachen konnten bei dem schönen Feuerwehrspiel. Waren ja nur Mädchen. Aber nun sangen sie wieder.

»Unsre Oma hat 'n Bandwurm,
Der gibt 's Pfötchen –«

Gerhard stand auf von seiner Bank, schlenderte durch die Hohe Straße; ein bittrer Geschmack lag ihm auf der Zunge. Nette Kinderspiele, nette Liedchen, dachte er. Als er ein Bub war – so um die Jahrhundertwende – was hatten sie damals gespielt? Indianer natürlich, Räuber und Gendarm – nein, in der Feuerwehrlinie lief keins ihrer Spiele. Und die Mädchen sangen ihren Reihn: »Ringelringel Rosenkranz – ich tanz mit meiner Frau – wir tanzen um den Rosenbusch – klingklang, Gloribusch – ich dreh mich wie ein Pfau.« Das war beliebt damals bei jung und alt. Sanfter war's schon, als die Liedchen vom Massenmörder Haarmann und von dem pfötchengebenden Bandwurm der Großmutter – sanfter, friedlicher und gewiß viel anständiger. Solche Spiele – nein, die hätten zu seiner Zeit kein langes Leben gehabt, Eltern und Schule hätten sie schnell unterbunden. Dennoch – Witz hatten sie, diese Gassenkinder, Witz genug. Er überlegte – das war es nicht, was ihn erschrecken ließ. Ein andres – ja das war es: wie sahn diese Kinder aus?! Eine Dicke war dabei, ungesund, aufgeschwemmt, fahl war ihr Gesicht, müd die Augen. Und die andern, Jungen wie Mädel? Schmal, unterernährt alle, rachitisch oder schwindsüchtig – Krieg und Hungerblockade, Rüben, Rüben und keinen Tropfen Milch!

Gerhard biß in die Unterlippe. Wie hatte Clémenceau gesagt? Zwanzig Millionen Deutsche zuviel! Oh, sie würden's schon schaffen, die Herrn Franzosen!

* * *

Er las das Wirtshausschild: ›Zum Ürigen Willem‹. Hier hatte ihn Schmitz IX herbestellt. Mit einer Frau saß er da – das war gewiß seine Frau, war die Stina. Er sprang auf, ging ihm entgegen: »Tag, Herr Oberleutnant!«

Scholz fuhr ihn an: »Halt 's Maul, Mensch! Wie oft hab ich dir gesagt, daß du mich nicht ›Oberleutnant‹ anreden sollst!«

»Et is ja kein Oos da«, maulte Döres. »Un ich kann et mich so schwer abjewöhne.« Er half ihm den Mantel ausziehn, führte ihn an den Tisch. »Also dat is die Stina – wie jefällt se Ihne?«

Gerhard sah die junge Frau an, der wenigstens merkte man nichts an von den Hungerjahren. Prall und rund – ja, wenn man ein Bauerngut hat, eine Schlachterei dazu! »Glückwunsch, Döres«, rief er, »viel zu gut für dich!« Er streckte ihr seine Hand hin, die sie kräftig drückte.

»Ich bin mitgekommen«, sagte sie. »Ich wollte Sie doch mal sehn und muß viel mit Ihnen sprechen. Also erstens –«

Sie stockte. »Nun?« ermunterte er sie.

Stina nahm einen Anlauf. »Erstens – erstens möchten Sie bei uns Gevatter stehn –«

Gerhard Scholz nickte: »Ist's denn schon so weit?«

Döres lachte. »Noch nit janz – aber bald. Dat Stina hat ja immer so jedrängelt, da hammer ä biske zu früh anjefange.«

Sie stieß ihn an. »Halt din Schnüß«, rief sie. »Jetzt will ich rede. Geh ins Schankzimmer und hol uns Bier, hörst du?«

Döres brummte, aber stand gleich auf.

Wieder griff die junge Frau Gerhards Rechte, drückte sie mit beiden Händen. »Zweitens muß ich mich bei Ihnen bedanken – der Herumtreiber hätt mich ja nie geheiratet, wenn Sie ihm nicht ins Gewissen geredet hätten. Jetzt fängt er langsam an, auch auf mich ein bißchen zu hören – aber Sie sind doch der einzige Mensch, von dem er sich wirklich was sagen läßt.« Sie ließ seine Hand nicht los, sah ihn an mit zwei guten Augen. »Der Döres ist gewiß ein braver Jung – aber er ist zu lang bei den Soldaten gewesen, hat sich all die Zeit in der Weltgeschichte herumgetrieben.«

Döres hustete laut, setzte das Brett auf den Tisch: drei Gläser obergäriges Bier und drei große Schnäpse. Er grinste übers ganze Gesicht. »Da kuck sich einer dat Stina an! Dat jefällt mich! Nie hat se ne Mann anjesehn – un nu kann se auf einmal schöntun un karessiere!«

Die junge Frau zog ihre Hände zurück. »Prost allerseits«, sagte sie. »Das nächste Mal kannst du ein bißchen lauter hereinkommen, wenn man ernste Gespräche hat. Und außerdem: sprich nich so jemein Düsseldorfsch!«

Döres lachte laut. »Wat? Ich? – Die müssen Se mal Himmeljeistisch rede höre – das' noch viel jemeiner!«

Scholz nahm sein Glas. »Prost Frau Schmitz –« Aber Döres fiel ihm ins Wort. »Nee, dat jeht nich – alles wat recht is. Zu mein Stina müsse Sie Stina sage!«

»Also prost Stina!« rief Gerhard.

Sie stießen an. »Und nun drittens –« begann die junge Frau wieder, »wir können den Herrn nicht nehmen, den Sie uns schicken wollten. Sie werden's selbst einsehn. Das ist auch ein Grund, weshalb ich mitgekommen bin – mein Mann hätt sich nicht getraut, es Ihnen zu sagen –«

»Ich hätt et doch jesagt!« unterbrach sie Döres.

»Du hätts et nich jesagt«, beharrte sie. »Sie wissen ja, daß wir Einquartierung haben, vier Stück von die jelbe Deuwels, Anamiten oder wie sie heißen, mit ihre Motorräder. Das hätt nichts gemacht – aber nun haben wir seit gestern auch noch zwei Soldaten, die Deutsch verstehn.«

»Elsässer?« fragte Scholz.

Schmitz IX nickte. »Jewiß dat! So ne richtije Wackesse. Mit die werd ich schon fertig – in acht bis vierzehn Däg krieg ich se schon so weit, dat se jenug habe von ihre Uniform – dann büxe se aus. Aber so rasch jeht dat nich. Un wenn wir heut den Rittmeister erausbringe – dann melde se et stantepeh.« Er suckelte an seinem Schnaps herum. »Natürlich, wenn Sie et so habe wolle, dann nehme mer en eben doch. Nur –«

Scholz goß sein Bier hinunter. »Nein, nein, deine Frau hat recht«, sagte er. »Wir müssen ihn anderswo unterbringen.«

Sie schwiegen; Gerhard überlegte, fuhr dann fort: »Das wäre: drittens. Sonst noch was, Frau Stina?«

Sie nickte eifrig. »Ja – noch was. Aber erst müssen Sie uns sagen, ob Sie einverstanden sind, daß wir Ihnen was zum Essen schicken –«

»Jetz biste aber fies ereinjefalle, Stina«, unterbrach sie Döres, »wenn de dem wat schenke wills, kriejste et widder zurück! Weil dä meint, ich hätt et doch bloß – besorjt!«

»Garnichts kriegt sie zurück«, rief Scholz. »Schicken Sie nur, Stina, es wird uns sehr gut schmecken.«

Stina strahlte. »Danke schön, Herr Scholz. – Und nun das letzte: der Döres erzählt mir die halbe Nacht davon, daß es bald wieder losginge, und daß er dann mitmüsse.« Sie vergaß plötzlich ihr Hochdeutsch, fuhr fort: »Das' doch en Jemeinheit – minge Mann kann sich doch nich sein janz Lewe üwer mit so ne Kriejssachen abjewe! Tun Se mich doch bloß dä einzijste Jefalle – befehle Se ihm ein für alle Mal, daß er nu die Finger davon lasse und von jetz an bei mich zu Haus bleiwe müßt.«

Scholz fühlte, wie ein Knie sich heftig an das seine rieb – aber es war nicht das Stinas. Er verstand diese Kniesprache gut: diesmal brauchte Schmitz IX seine Hilfe. Der stöhnte auf, rang beide Hände. »Höre Se sich dat an! Jar nix red ich de halbe Nacht: sie red't! Verspreche soll ich ihr un heilije Ehrenwörter jewe! Wenn et losjeht – da soll ich nich mit? Sagen Se ihr doch selbst, Herr Oberleutnant, dat dat nich jeht un partuh nich jeht!«

»Frau Stina«, sagte er, »Sie müssen vernünftig sein. Wir brauchen ihn wirklich – dies Jahr noch. Auch nicht immer – nur ab und zu mal, wenn grad er der richtige Mann ist. Später soll er bei Ihnen bleiben, für gut und für immer.«

»Wenn ihm nu wat passiert?« maulte sie.

»Wat soll mich schon passiere?!« trompetete Döres.

»Dat se dich totschlage oder einsperre oder aufhänge!« heulte sie. »Verdient hättste et längs – wenn et nach mich jing!« Sie riß sich zusammen, wandte sich wieder an Scholz. »Soll dat jelte, dat et nur für dies eine Jahr is?«

»Sie können sich drauf verlassen, Stina«, antwortete er.

»Wenn ich en bloß nich eso jern hätt«, seufzte sie.

»Ich han dich ja auch jern, Stina«, tröstete er. »Und darauf lasse mer unsre Schabau trinke!«

Der kurze, helle Ruf einer Sirenenhupe klang durchs Fenster. »Das ist meine Schwester«, rief Gerhard. Er sprang auf, zog Geld aus der Tasche. Aber Döres hielt seinen Arm fest. »Nee, Herr Oberleutnant, dat dürfe Se uns nich antun – heut bezahle mir!«

Scholz nickte, griff nach Hut und Mantel. Die beiden sahen ihm nach.

»Dat is ene feine Mann!« meinte Stina bewundernd.

Döres lachte, blickte sie listig an. »Da haste recht, Stina! Un nu will ich dich mal jet sage: dä Scholz is jrad so ne Bruder, wie ich eine bin – jrad un akkerat jenau so! Dä hat auch kein Ruh – solang de Franzose noch im Land sind. Aber et scheint mich, dat du jrad für so ne Rumtreiber viel übrig has – wat Stina?«

* * *

Vor dem ›Ürigen Willem‹ hielt der schmucke Voisin. Gerhard mochte ihn nicht: ein französischer Wagen; das blauweißrote Fähnlein am roten Kühler gefiel ihm noch weniger. Freilich, das Auto war ein Geschenk ihres Chefs, und der dreifarbene Lappen hatte sicher heut gute Dienste getan.

Käte saß am Steuer, Lannwitz neben ihr. »Wohin mit ihm?« fragte sie. »Wo steckt dein Freund Schmitz?«

Gerhard schüttelte den Kopf. »Es geht nicht – Schmitzens haben Einquartierung, Elsässer, das ist zu gefährlich. Steig aus, Lannwitz, ich weiß noch nicht, wo ich dich unterbringe.«

»Der Rittmeister mag zu uns kommen«, entschied Käte, »da ist er sicher. Er kann Lilis Zimmer bekommen; sie muß dann bei mir schlafen.«

Peter von Lannwitz nickte vergnügt; der Vorschlag schien ihm nicht unwillkommen. »Danke schön!« rief er, kletterte aus dem Wagen.

Käte griff das Steuer. »Gut denn, ich fahr nach Haus; wenn ihr kommt, ist alles in Ordnung. Nichts hat er mitgebracht, da werd ich von dir nehmen, was nötig ist, Gerhard. Ich vergaß: wir sahn Doktor Eggeling in Köln; Herr von Lannwitz wird dir berichten.« Sie nickte einen kurzen Gruß; fast geräuschlos fuhr der Wagen an.

Der Rittmeister sah ihr nach. »Donnerwetter«, sagte er, »ein Prachtkerl, deine Schwester!«

»Findest du?« gab Gerhard zurück. Er war derselben Ansicht – dennoch, etwas stimmte nicht mit der Käte.

Sie gingen zurück in die Wirtschaft; tranken noch ein Glas Bier mit Schmitzens. Döres strahlte. Das war ein Festtag für ihn: wie ein Zirkuspferd paradierte er vor seiner Stina.

Als sie gingen, lief ihnen Döres nach. »Eine Momang nur, Herr Ober –, Herr Scholz. Da is doch dä Joseph Smeets in Köln – so ne kleine Kerl mit Joldzähn im Maul und enem janz jelbe Jesicht – kenne Se den?«

»Der Separatistenhäuptling?« sagte Gerhard. »Hab nicht das Vergnügen. Einer der größten Lumpen am Rhein!«

»Janz recht«, nickte Schmitz IX, »dä Rabau! Un ich han noch en extra Nüßke mit ihm zu knacke. Wie wir mit dem Rejiment zurückkäme nach Köln, mußte mer erst in de Kaserne bleibe, durfte nich ausjehn, bis mer abjemustert ware. Na, ich jing natürlich doch aus, jleich am ersten Abend. Da bejejnet mich dä Smeets – dä war damals Soldatenrat – und mit ihm war so 'n Dutzend von die verdammte verkleidete Matrose – die Lotterbuwe han ich nie verknuse könne. Da halte se mich auf, und dat Schienoos, dä Smeets, reißt mich mit sin dreckelije Finger dat Eiserne Kreuz erunter. Ich tupp ihm eine in die Visasch – da hätte Se die Matröskes sehn solle! Die han mich traktiert, als ob ich ene Fußball wär – drei Woche lang han ich in Lazarett lieje dürfe.«

»Sieh doch an«, lachte der Rittmeister, »da ist dir's also auch mal schlecht gegangen.«

Döres nickte. »Sehr schlecht sojar; nu werde Se bejreife, dat ich dä Smeets nich so besonders jut leide kann. Weil et nu doch losjehn soll – un weil dä Smeets sich dicktut, wie ne Karnevalspräsident, möcht ich bei Jelejenheit mit dem emal e Wörtche rede, wenn jrad niemand dabei is.«

»Meinen Segen hast du«, rief Gerhard.

Er ging mit Lannwitz hinaus, während Döres zu seiner Stina zurückkehrte, ihr große Geschichten erzählte von seinen Freunden. Noch am nächsten Tage sagte er ihr: »Jetz wirste et mich wohl jlaube, dat ich mich im Krieg immer in beste Jesellschaft bewejt han!« Stina nickte und glaubte es, und er selber glaubte es beinahe auch.

* * *

Die beiden Männer gingen durch die abendlichen Straßen. Lannwitz berichtete. Alles hätte geklappt – bloß sei nichts mehr nötig gewesen, da er schon eine Stunde früher draußen gewesen sei – einen längst Freien hätten die Freunde befreit. Schon beim Morgenspaziergang hätten sich zwei amerikanische Offiziere ihm angeschlossen, seien plaudernd mit ihm auf und ab gelaufen. Als der Sergeant ihn dann in seine Zelle zurückbrachte, habe der zum erstenmal mit ihm Deutsch gesprochen – Pennsylvaniadötsch freilich, von dem er kaum was begriffen habe. Recht augenfällig habe der Mann sich an dem alten Kettenschloß zu schaffen gemacht, habe ein richtiges Konzert mit seinem Schlüsselbund aufgeführt. Das habe er verstanden, die Tür gleich untersucht – sie war nicht verschlossen. Auf der Pritsche habe er, hübsch verschnürt, ein Paket gefunden: der Inhalt seiner Taschen, den man ihm bei der Verhaftung abgenommen hatte. Also sei er losgegangen, vorsichtig erst und langsam. Überall die Yankees im Aufbruch – man habe ihm sehr absichtlich den Rücken zugedreht, ein paarmal hinter ihm hergelacht. Am äußern Tor habe ein Leutnant den Wachen Befehle erteilt; er sei nicht vier Schritt weit an ihnen vorbeigeschlendert. Draußen vor der Karthause habe er die Kameraden gefunden – sehr verblüfft, daß sie nun ihr hübsches Befreiungsplänchen nicht hätten ausführen können. Ganz zweifellos hätten ihn die Yankees absichtlich entwischen lassen, um ihn beim Abzug nicht den Franzosen ausliefern zu müssen. Dann sei Käte Scholz gekommen – wie der Satan sei sie mit ihm losgefahren.

»Seid ihr angehalten worden?« fragte Gerhard.

»Oft genug«, erwiderte Lannwitz. »Aber der Wisch, den deine Schwester vorwies, schien Wunder zu tun.«

Scholz nickte. Er kannte dieses Papier: ein ›Laissez-Passer‹ – pour Mlle. Cathérine Scholz et les personnes qui l'accompagnent – von General Degoutte höchst eigenhändig unterzeichnet. Ein sehr nützliches Papier – Käte hatte sich erboten, noch drei oder vier zu besorgen für ihn und seine Freunde. Wenn es nur gelingen wollte – der Himmel mochte wissen, wie sie das anstellen würde.

Sie kamen nach Hause; das Mädchen gab ihm einen Zettel. Er las laut: »Das Zimmer ist fertig. Abendessen bereit. Vater ist zum Industrieklub; ich gehe mit Lili in die Oper. Wir erwarten euch gegen elf Uhr in der ›Jungmühle‹.«

»Was ist denn das – Jungmühle?« fragte Lannwitz.

»Weiß nicht«, sagte Gerhard. »Werden's schon finden.«

Beim Nachtmahl fragte er nach Eggeling; der Rittmeister erzählte. Sie hätten ihn in Köln im Café Wien getroffen. Es sei ganz gewiß, daß die Tommies nicht mitziehn würden ins Ruhrland, der englische Kronrat werde den Einmarsch für einen Rechtsbruch erklären. London würde in Paris seine Bedenken äußern, sonst aber keine Schwierigkeiten machen. Italien werde keine Truppen schicken, nur einige hundert Ingenieure – um den Franzosen ein wenig auf die Finger zu sehn. Der englische Befehlshaber in Köln rechne damit, daß der Vormarsch in drei Tagen beginnen würde.

Gerhard nickte. »Sollen nur marschieren – sie werden eine Hölle finden!«

Später gingen sie aus, fragten sich zurecht. Fanden endlich die ›Jungmühle‹ – einen Barbetrieb mit Jazzband und Kabarettkünstlern. Scholz wählte einen Tisch dicht am Ausgang; sie hatten kaum Platz genommen, als die Damen kamen – in Abendkleidung, Arm in Arm.

Gerhard war sehr einsilbig. Als der Rittmeister aufstand, mit Käte zu tanzen, fragte Lili: »Wach auf – was ist's denn?«

Er ließ die Augen umherschweifen. »Wozu hat sie uns hierher bestellt? Jedes Kind sieht dem Lannwitz den Offizier an – mir wohl auch. Wir müssen hier auffallen.«

»Käte weiß, was sie will«, antwortete sie, »wird schon ihren Grund haben. Wie gut sie tanzen – ist ein Vergnügen, den beiden zuzusehn.«

Scholz blickte hin – soviel verstand er auch von Toiletten, um zu sehn, daß ihr Kleid nie und nimmer zu dieser Zeit in Düsseldorf gewachsen war. »Paris?« fragte er.

Lili nickte. »Natürlich. Prachtvoll steht es ihr.«

Die zwei bewegten sich, als ob sie seit Jahr und Tag miteinander eingetanzt seien. Käte trug den Kopf hoch und ein wenig zurückgebeugt – stahlblau glänzten ihre Augen unter dem braunen, reichgelockten Haar. Die Lippen waren ein wenig geöffnet, zeigten ein frohes Lächeln. Man sah ihr an: sie genoß diesen Tanz, ließ sich von ihm führen, schmiegte sich weich in jede seiner Bewegungen.

Lili lachte. »Peter Lannwitz brennt!« sagte sie. »Und ich glaube – die Käte auch.«

Sie kamen zurück an den Tisch – des Rittmeisters klares Auge strahlte. Aber über dem Gesicht seiner Tänzerin hing wieder – verwandelt im Augenblick – eine stumme Maske: ein wenig stechend war der Blick, fast erfroren das Lächeln.

Sie brennt? überlegte Gerhard. Brennt? Er seufzte leicht; es quälte ihn, daß er nichts begriff von dieser Frau, die doch seine Schwester war.

Lachend und lärmend kam eine Gesellschaft in den Saal, ging quer hindurch, kletterte auf die hohen Stühle vor der Bar – vier, fünf Herrn im Frack. Käte bemerkte sie gleich, ein Mißfallen huschte über ihre Lippen. »Sie kommen früh«, stellte sie fest.

»Wer?« fragte Gerhard.

Sie wies mit dem Blick hinüber. »Die Herrn – mit denen ich verabredet bin. Französische Offiziere; der blonde ist ein Belgier. Und der große, dicke, mit den Perlenknöpfen im Hemd – das ist Herr Lamberts, mein Chef.«

Sie erhob sich. »Ich muß zu ihnen. Wartet nicht auf mich – geht nachhaus und zubett. Ich komme, sobald es geht.«

Gerhard fuhr auf, beherrschte sich rasch. Flüsterte: »Was soll das, Käte?«

Sie sah ihn ruhig an, lächelte. »Brauchst du nicht die Passierscheine? Glaubst du, daß ich sie auf der Straße finde?«

Sie ging hinüber. Die Offiziere sprangen herab von ihren Pyramidenstühlen, begrüßten sie, standen um sie herum. Herr Lamberts küßte ihr artig, etwas zu großartig, die Hand.

Der Lautenspieler klimperte, sang mit versoffener Stimme: »Ein rheinisches Mädchen – beim rheinischen Wein –«

Fünf Strophen riß er ab, Herr Lamberts grölte den Kehrreim mit, dann auch die Offiziere: »Ein rheinisches Mädchen –«

Nein, rheinischen Wein tranken sie nicht – Ayala schäumte in den Schalen, die die Barmädchen füllten.

Herr Lamberts schob sein Glas auf die Marmorplatte. »Wieder mal viel zu kalt!« bellte er. »Kein Eis, das verdirbt den Geschmack, merkt's euch. Nur kellerkalt.« Er schmetterte es heraus – mochte doch die ganze Stadt wissen, daß er, Lamberts, von Hanau, Lamberts und Cie., was Besseres war als seine barbarischen Landsleute.

Gerhard Scholz starrte zu der Bar hinüber, seine Finger krampften sich an den Tisch. Lili legte ihm leicht die Hand auf den Arm. »Komm, wir wollen aufbrechen.«

Sie gingen durch den Hofgarten; keines sprach ein Wort. Als sie oben in der Wohnung waren, sagte sie: »Ich will euch Kaffee kochen – wollen Sie mir helfen, Rittmeister?« Sie gingen in die Küche; Lili ließ sich von ihm erzählen, tat ihr Bestes, die schwüle Stimmung, die von Gerhard auf ihn übergesprungen war, zu zerstreuen. Als sie ins Wohnzimmer zurückkamen, saß er am Schreibtisch; er winkte ihnen zu, ihn nicht zu stören. Endlich stand er auf, überreichte Lili die Bogen. »Willst du das für mich erledigen?« bat er.

Sie warf einen Blick darauf, murmelte: »Hauenburg – Buchrucker – Schlageter – Hornemann – gleich morgen früh.« Sie füllte seine Tasse, gab Zucker hinein.

Die Wolke schien verflogen. Gerhard sprach von seiner Arbeit, setzte dem Rittmeister auseinander, was jetzt geschehn sollte. In zwei Tagen müsse er nach Berlin, dann nach München – in spätestens einer Woche sei er wieder zurück. Lannwitz solle hier mit Lili die Verbindung mit den Kameraden aufrechterhalten, die schon im Ruhrgebiete seien. Hornemann würde von Mainz kommen, aus der Pfalz erwarte er –

Der Rittmeister lauschte, äußerte Bedenken, machte Vorschläge. Ein Plan nach dem andern wurde durchgesprochen – was hier und was dort geschehn sollte – durchgefeilt und zurechtgeknetet. Sie merkten kaum, wie die Zeit verstrich.

»Drei Uhr vorbei«, rief Lili, »wollt ihr nicht schlafen gehn?« Sie trat ans Fenster, öffnete es weit, ließ frische Luft in das verqualmte Zimmer.

Ein Taxi fuhr durch die Straße, hielt vor dem Hause. Lili blickte hinunter, sah Käte Scholz aussteigen. »Da kommt deine Schwester«, sagte sie.

Ein Schatten flog über Gerhards Gesicht. Er ging hinaus, öffnete die Flurtür, kam zurück. Man hörte ihre Schritte auf der Treppe; dann ging die Tür, dann trat sie ins Zimmer.

»Noch auf?« fragte sie, warf ihren Pelz über den Stuhl. Zerwühlt waren ihre Locken, ihr Kleid voller Flecken. Ein paar Druckknöpfe an der Schulter standen offen.

Gerhard starrte sie an – sie fühlte seinen Blick. Unwillkürlich griff sie zum Pelz. Aber sie ließ die Hand wieder sinken – das war nun zu spät.

»Ja, das ist nun so«, sagte sie tonlos.

Keiner antwortete. Langsam fuhr sie fort: »Ich weiß, was ihr denkt.« Sie zögerte, begann wieder: »Die Pässe bekomme ich, das ist wahr: um zwei Uhr mittags soll ich sie holen.« Dann lachte sie auf, herb und zerrissen. »Meint ihr, daß ich nicht lieber geblieben wäre – mit euch beiden und mit Ihnen, Rittmeister?« Sie trat zu Lannwitz, legte ihm beide Hände auf die Schultern, faßte dann seinen Kopf, küßte ihn schnell, mitten auf den Mund.

Sie wankte; Lannwitz stützte sie, hielt sie in den Armen. Aber gleich riß sie sich los. Und nun, plötzlich, brachen Tränen aus ihren Augen, schüttelte Schluchzen ihren Leib. Lili zog sie an sich, streichelte sie. »Komm, wir wollen zubett.« Sie nahm den Pelz, führte die Schwankende aus dem Zimmer.

Schwer ließ sich Gerhard auf einen Sessel fallen. Lannwitz stand unbeweglich, pfiff dann, stapfte mit langen Schritten durch den Raum. Plötzlich blieb er vor dem Freunde stehn, schrie ihn an: »Ich versteh nichts von der Geschichte, garnichts. Aber das sag ich dir, Scholz: ich glaub an diese Frau – und du, du tust ihr unrecht!«

* * *

Sieben Uhr läuteten die Glocken von St. Rochus; Gerhard wälzte sich in seinem Bett. Zehnmal hatte er die Lampe ausgedreht und wieder angeknipst, hatte zu lesen versucht; war aufgestanden, wieder zubett gegangen – wollte der Schlaf denn garnicht kommen heut nacht? Da öffnete sich die Tür: Lili stand vor ihm.

»Noch wach?« sagte sie. »Käte schläft endlich.«

»Hat sie dir erzählt?« fragte er.

Lili nickte. »Ja, das hat sie, hat mir ihr Herz ausgeschüttet. Hat mich tief hinein sehn lassen –« Sie unterbrach sich, zitterte fröstelnd. »Es ist kalt hier«, sagte sie, »das Fenster steht auf.« Er richtete sich auf, sah jetzt erst, daß sie im Hemd war, mit nackten Füßen, nur ein seidener Kimono hing über den Schultern.

»Ich werd es gleich schließen«, rief er.

Sie hielt ihn zurück. »Bleib nur, ich tu's selbst. Das Mädchen ist schon auf; ich hab ihr gesagt, daß sie Tee bringen soll – du wirst ja doch nicht ruhig sein, eh du alles weißt.«

Sie schloß das Fenster, zog die Vorhänge fest zu. Als es klopfte, nahm sie das Teebrett in Empfang, stellte es aufs Bett. Holte Kissen vom Sofa, schichtete sie am Kopfende hoch. »Rück ein wenig«, sagte sie.

Sie saßen nebeneinander; der heiße Tee tat ihm wohl.

»Nun?« fragte er.

»Nu–un?« dehnte sie. »Ich glaube, sie ist froh, daß sie endlich einmal sich aussprechen konnte. Das weiß sie natürlich, daß ich jedes Wort dir sage – und das, glaube ich, ist ihr lieb. Du hast ja auch nie drüber gesprochen – da braucht's einen starken Anstoß, um euch reden zu machen, dich und deine Schwester! Es ist so, wie ich dachte –«

»Wie also, wie?« forderte er.

Sie streichelte seine Hand mit zarten Fingern, gab diese leichte Berührung nicht auf, solange sie erzählte. Wie ein süßer Bann war es, der ihn ruhig hielt; kein Wort kam aus seinen Lippen, kaum, daß er einmal – rasch, für den Augenblick nur – die Augen schloß, als ob er ein Bild nicht sehn wolle, das er doch zu deutlich sah.

Ja, allmählich war das gekommen, Schritt um Schritt. Die Käte arbeitete, tippte, tat, was man ihr sagte und mehr – und es gab viel zu tun im Hause Hanau, Lamberts & Cie. Dann wurde Herr Lamberts auf sie aufmerksam, machte sie zu seiner Privatsekretärin – keine war da, die Französisch wie ihre Muttersprache schrieb und sprach. Er bildete sie aus, wie er sie brauchte; bald war sie unentbehrlich. Selber ein Mensch, der kein Maß kannte und keine Ermüdung, im Vergnügen nicht und erst recht nicht in der Arbeit, verlangte er Ungeheuerliches von ihr – sie enttäuschte ihn nicht. Arbeitete mit ihm bis tief in die Nacht und war doch pünktlich am andern Tag wieder da. Zwischendurch nahm er sie aus, fuhr im Auto mit ihr herum, machte ihr kleine Geschenke. Doch behandelte er sie als Dame, näherte sich ihr nicht, rührte sie nicht an. Dazu hatte er Tanzmädchen von der Oper, kleine Sängerinnen vom Apollo und Barfräulein.

Das ging so weiter, zwei Jahre lang –

Dann war es doch gekommen. Sie waren von Aachen im Auto nach Brüssel gefahren, frühmorgens an einem heißen Sommertag. Herr Lamberts hatte im Hotel langwierige Verhandlungen, sie war immer dabei. Große Lieferungen, Zehntausende von Fahrrädern, Nähmaschinen, Schreibmaschinen, auch Lastwagen, Motorräder, landwirtschaftliche Maschinen – das Deutschland der Papierwirtschaft unterbot jeden Markt. Gegen Mittag waren sie angekommen, hatten den Nachmittag über Besprechungen mit Kunden, den Abend durch und die ganze Nacht – längst war es hell, als man sich trennte. Aber Lamberts gab nicht nach, diktierte ihr nun die Verträge, feilte sie durch, fügte noch Klauseln hinzu, hieß sie dann alles abschreiben, ein Auto nehmen, hierhin fahren und dorthin, die Unterschriften zurückbringen; er selber empfing gleich wieder Geschäftsleute, die in der Halle auf ihn warteten. Sie erledigte alles, kam gegen ein Uhr zurück – Herr Lamberts saß immer noch unten mit einem Herrn. Er rief ihr zu, daß sie nur hinauffahren solle; er würde bald fertig sein. Sie ging in ihr Zimmer – die Kleider klebten ihr seit dreißig Stunden am Leib; so wusch sie eilig Hände und Gesicht, zog sich um. Eilte dann hinüber – Herr Lamberts war nicht da; sie hörte ihn prusten unter der Dusche im Baderaum nebenan. Sie wartete; er kam heraus im Pyjama, fragte nach den Verträgen, betrachtete die Unterschriften, diktierte einen neuen Vertrag. Sie tippte, tippte, ließ den Kopf vornüber sinken, schwindlig vor Müdigkeit. Er merkte es wohl, fuhr ihr mit der mächtigen Hand über Nacken und Haar – da riß sie sich zusammen. Seine Worte schienen ihr in der Luft zu zerflattern – sie fing sie doch, warf sie aufs Papier. Eins ums andre – Sätze und Seiten.

Dann war sie fertig, stand auf, aber die Füße wankten unter ihr, die Augen schlossen sich; er fing sie auf, trug sie, setzte sie aufs Bett. Einen Augenblick nur war sie bewußtlos, dann sah sie, wie er zum Tisch lief, eine Flasche nahm und einschenkte, wie er zurückkam zu ihr. Sie nahm das Glas, das er ihr bot, leerte es: schwerer, herber Portwein – sie fühlte, wie ihre Kräfte zurückkehrten, wie ihr Blut wieder durch die Adern rann. Er stand vor ihr, sehr erschreckt sah er aus, hilflos und komisch in seinem bunten, geschmacklosen Pyjama – das stand vorne offen; sie sah seine mächtige Brust, schwarzborstig, häßlich –

»Es ist wieder gut«, sagte sie, »Sie können weiterdiktieren.«

Er schüttelte den Kopf, starrte sie an, wie ein Fremdes, Seltsames, etwas, das er nie zuvor gesehn hatte.

Plötzlich hatte sie Angst. »Ich will gehn«, murmelte sie.

Aber er ließ sie nicht. Griff sie, küßte sie –

Sie wachte auf am späten Nachmittag, ihr Kopf hämmerte. Erst begriff sie nichts, halb noch verschlafen; dann kam ihr die Erinnerung. Leise stand sie auf, ging ins Badezimmer. Das war nun geschehn.

An diesem Tage kaufte er ihr den hübschen Voisinwagen, kaufte ihr den Nerzmantel und den Perlenschmuck.

So war es gekommen, so blieb es auch – mußte so bleiben.

Das kleine Vermögen der Eltern: Kriegsanleihen, die nichts mehr wert waren. Und das Geld, das sie aus dem Hausverkauf erlöst hatte, war nur auf dem Papier noch da – Inflation. Sie hatte längst alles dem Vater gegeben, der spielte damit, kaufte und verkaufte, freute sich, wenn auf dem Kurszettel die Aktien ins Unermeßliche stiegen, und begriff nicht, daß sie fast wertlos waren, wenn man nach Pfund oder Dollar zählte. Nicht drei Monate lang hätte sie damit den Haushalt bestreiten können.

Einmal – einmal nur – hatte Lamberts sie gefragt, ob sie seine Frau werden wollte; sie hatte ihn erschreckt abgewiesen. Selten nur, wenn seine Nerven vor Arbeit zum Reißen gespannt waren, verlangte er nach ihr. Doch mitleidlos forderte er ihre Arbeit, nahm so wenig Rücksicht auf sie wie auf sich selber. Er raffte das Geld, gierig und mit allen Mitteln, hatte in jedem Topf seine Finger. Sehr klein hatte er im letzten Kriegsjahre angefangen, als er es endlich durchgesetzt hatte, heimzukommen – aus der Etappe, in der er sich bisher herumgedrückt hatte. Heute rechnete er mit Goldmillionen.

Käte wußte längst, wie die Geschäfte der Firma aussahn. Man kaufte und verkaufte, nannte Handel, was Schiebung war, einen kleinen Dreh das, was glatter Betrug war. Einem Kunden nach dem andern drosselte man den Hals zu, eine Fabrik nach der andern nahm man in Besitz – immer vom Rechte geschützt, immer fußend auf dem festen Grund geschlossener Verträge. Freilich, diese Leute waren auch nicht besser, versuchten ihr Möglichstes, mit gleich schmutzigen Waffen zu kämpfen. Am schärfsten aber nahm Lamberts seine guten Freunde her, Belgier und Franzosen, denen er – billig, billig! – schlechteste Ware für gutes Geld anhängte. Alle kannte er, die nur am Rhein eine Rolle spielten, politische Kommissare wie Offiziere, war mit allen gut Freund, spritzte mit ihnen durchs Land, ließ sie auf seinen Jagden Fasanen schießen, Böcke und Sauen, kartete hoch und verlor gern, raste mit ihnen auf Gelagen. Streute Dollarscheine aus, Champagner und Weiber, ging aus mit wohlgespickter Brieftasche und kam mit leerer zurück – er wußte schon warum.

Und sie, Käte Scholz, half dabei – Trumpfas hatte er sie einmal genannt, das einzige Mal, als sie ihn trunken sah.

Lili zögerte, als sie hiervon sprach. Nein, das glaube sie nicht, daß die Käte mit welschen Offizieren –

Gewiß, sie habe getan, was Lamberts verlangte, habe gegirrt und gegurrt – alles fürs Geschäft, für Hanau, Lamberts & Cie. Habe manchem den Kopf verdreht. Habe Geschenke genommen, freilich – die hätte sie ja nicht gut zurückweisen können. Küsse vielleicht. Sonst – nein, nein, mehr sei es nicht gewesen.

Lili füllte seine Tasse von neuem, verrührte den Zucker. Sah ihn an von der Seite – glaubte er das, was sie sagte?

»Deine Schwester leidet«, sagte sie, »quält sich sehr.«

Oft sei sie herumgezogen mit Lamberts und seinem Troß. So wisse die ganze Stadt darum – nur ihr Vater nicht. Franzosenliebchen nenne man sie.

Gleichgiltig fast sagte das Lili. Dann aber klang ihre Stimme voll und warm: »Nun aber ist das alles anders geworden. Ist geblieben wie es war und ist doch verkehrt ins Gegenteil! Käte hat sich treiben lassen im lehmigen Strom, hat dahingelebt von einem Tag zum andern, übermüdet von Arbeit, wieder aufgepeitscht durch Spiel und Abenteuer. Und immer für die Firma, um die Geldsäcke des Herrn Chefs noch voller zu füllen. An dem Tage erst, als du herkamst, Gerhard, ist sie aufgewacht. Da erst begriff sie.«

Sie nahm das Teebrett, stellte es auf den Nachttisch, preßte seine Hand. »Du kamst, wußtest nichts von alledem. Glaubtest, daß sie fühle wie du – war sie nicht ein deutsches Mädchen und deine Schwester? So sicher warst du ihrer, daß du gleich von deinen Plänen erzähltest, sie einreihtest in deine Truppe, wie Lannwitz und Eggeling, wie Schwester Pia, Hornemann und all die andern, Hunderte, Tausende nun. Als ich herkam, ein paar Tage später, fand ich's schon so: du befahlst, und sie tat, was du sagtest. Da begriff sie, daß sie zu dir gehöre, deine Schwester war und nichts sonst. Begriff auch, wozu diese Jahre dienen sollten: daß sie da, wo sie steht, dir und deiner Sache mehr nützen könne als einer im Land. Schicksal – das ist es – verstehst du's?«

Immer noch schwieg er, fest zusammengepreßt blieben seine Lippen.

»Oh, du mußt es verstehn!« rief sie heftig. »Wozu ist dieser Lamberts in der Welt? Wozu seine Verbindungen mit allem, was französisch ist – wozu ihre Freundschaften? Für dich, nur für dich – so ward es gewollt vom Geschick!«

Sie schlug ihr Kimono zurück, atmete tief. »Deine Wege zu ebnen – dazu ist sie bestimmt. Du weißt selbst, was sie schon für uns tat; gestern erst brachte sie den Lannwitz her; in der Nacht besorgte sie die Pässe, die du so dringend gebrauchst. Was sie dafür bezahlt – das geht sie an und niemanden sonst. Auch dich nicht, Gerhard – keiner darf ihr Richter sein. Sie leidet genug, und du sollst sie nicht quälen.«

Sie sprang aus dem Bett, küßte ihn rasch. »Steh auf, es ist doch nichts mehr mit dem Schlaf.« Sie ging zur Tür, griff die Klinke. Wandte sich halb, sagte leise: »Ich saß an ihrem Bett, vier Stunden lang. Ließ sie erzählen, ließ sie weinen in meinen Armen – vier Stunden lang. Dann machte ich ihr ein Bad, trocknete sie ab, brachte sie wieder zubett. Küßte sie, sang für sie, bis sie einschlief. Sie ist sehr schön, deine Schwester – schön ist ihr blanker Leib, schön ihre süße Seele.«

Da sah er auf, flüsterte: »Schöner als du –?«

Sie lachte leicht, ging hinaus.

 


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