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Die alte Dame sitzt vor dem Tisch und blickt mit lächelndem, stillzufriedenem Gesicht auf den Berg von Blumen und Kränzen nieder, die man ihrer berühmten Nichte gespendet. – Sie ist die Witwe eines Kanzleibeamten, steht allein und kinderlos in der Welt und hat sich auf die dringenden Bitten von Margas Vormund seinerzeit entschlossen, die junge Waise in ihrer gefährlichen Bühnenstellung zu bemuttern.
Frau Rätin Kirchstück hat es mit schwerem Herzen getan. Sie ist sehr ungern in die Residenz übergesiedelt, sie, die Kränkliche, immer Leidende, die an ihrer kleinstädtischen Heimat hängt und oft voll bittern Heimwehs nach dem schattigen Dörfchen und den Gräbern ihrer Lieben die Hände ringt.
Sie hat selber dem Vormund und den Verwandten in Floringhof in kläglichen Briefen versichert, daß sie sich absolut nicht zum Schutz ihrer Pflegebefohlenen eigne. Sie ist viel zu elend, um das aufreibende Leben mitmachen zu können, sie liegt viel zu oft im Bett, um Marga überallhin begleiten zu können, wo es ihr Pflicht und Gewissenhaftigkeit vorschreiben.
Sie tut, was in ihren schwachen Kräften steht, und das ist nicht viel.
Wenn sie dem kleinen Haushalt vorsteht, die Einkünfte und Ausgaben der Nichte überwacht und sie morgens und abends unter Tränen beschwört, allen Versuchungen zu widerstehen und ihren Ruf und ihre Ehre als höchstes Kleinod zu wahren, so hat sie das ihre getan. Auf Schritt und Tritt hinter dem ruhelosen Elfchen herlaufen, vermag sie bei ihren grauen Haaren nicht.
Blaß und kummervoll blickt ihr hageres Gesicht aus der schwarzen Spitzenhaube heraus, stets geneigt, ein paar Tränen der Sorge und Rührung zu vergießen, immer bereit, den Zuhörer durch eine endlose Leidensgeschichte zu deprimieren.
Sie paßt so gar nicht unter das lebensfrohe Völkchen der Künstler, und das empfindet sie selber und hält sich ihm mit Vorliebe fern.
Der Gedanken, dieses entsetzliche Leben zwischen himmelhohen Steinwänden, Fabrikessen und lärmenden Großstadtstraßen noch jahrelang führen zu müssen, hat sie wie ein Alp bedrückt, und ihre Miene von Monat zu Monat unglücklicher gestaltet.
Da kam ein rettender Hoffnungsstrahl in Gestalt des Komponisten Roman Ermönyi.
Marga, die nie ein Geheimnis vor der Tante gehabt, machte sie auch zur Mitwisserin all der glückseligen Hoffnungen, die sich an den heutigen Premierenabend knüpften, und diese Aussicht, die junge Sängerin bald zu verheiraten und dem tatkräftigen Schutz eines Gatten übergeben zu können, übte einen unbeschreiblich glücklichen Einfluß auf die heimwehkranke alte Frau aus.
Nun kannte sie kaum noch ein andres Gebet, wenn sie ihre vertrockneten Hände faltete, als eine inbrünstige Bitte zum Himmel, diese verhängnisvolle Premiere mit Erfolg zu krönen.
Gab ihr diese doch die Freiheit und die Heimat wieder, zwei Begriffe, die sich zu zehrender Sehnsucht der Leidenden gestaltet hatten.
Die Aufregung und Spannung, mit der sie dem heutigen Abend entgegensah, wirkten nicht günstig auf ihre Nerven, und als sie voll zitternder Angst hinter den Kulissen saß und auf den Applaus lauschte, reifte der Gedanke, um jeden nur möglichen Preis der Qual dieser Stellung zu entgehen, in ihrem gemarterten Hirn.
Wie eine Erlösung überkam es sie bei dem Sturm des Beifalls, den Ermönyi und ihre Kleine ernteten, und die Bühnenarbeiter und Choristen, die die blasse, kränkliche Frau in dem schwarzen Kleid kannten, blickten voll Rührung auf ihre zusammengesunkene Gestalt, wie sie mit gefalteten Händen dasaß, und Träne um Träne haltlos über die runzligen Wangen floß.
Ein Häuflein Unglück inmitten eines himmelhoch jauchzenden Glücks.
Voll übermütiger Seligkeit schlang Marga in den Zwischenpausen die Arme um sie und häufte Blumen und Lorbeeren mit immer vollen Händen um die Tiefergriffene.
Sie hatte den stürmischen Applaus gehört, hatte die zahlreichen Ovationen gesehen, die man der Darstellerin und dem Schöpfer des Werkes zollte, und war hochklopfenden Herzens in das Garderobezimmer geeilt, in der festen Voraussetzung, daß nun die sehnlichst erhoffte Verlobung sie aus allen Ängsten und Nöten befreien werde.
Sie war darum nicht sonderlich überrascht, als Roman Ermönyi ihr voll glückstrahlender Erregung die Nichte zuführte und mit erhobener Stimme versicherte: »Hier, Tante Lore, bringe ich Ihnen unsre Marga, die ich kraft ihrer unwiderstehlichen Rolle heute abend hoch empor an den Himmel der ersten Sterne der Kunst gehoben habe! Können Sie sich wundern, teuerste Frau Rätin, wenn ich für eine solche große Tat auch einen großen Lohn verlange? – Nichts Geringeres als dieses ›blitzende Sternlein‹ selbst, das mir ja längst mit offenen Armen und heißem Heizen als mein vielholdes Bräutchen zublinkt!«
Er zog die junge Sängerin ungestüm an sich und küßte voll Leidenschaft die Lippen, die seine Melodien soeben voll sieghafter Schöne in die Welt getragen. Die respektvolle, etwas steife und anbetende Scheu, die die Frau Rätin ihrerzeit an ihrem werbenden Bräutigam so tief gerührt und geehrt hatte, vermißte sie bei diesem Freier vollkommen. Es lag vielmehr ein versteckter Zug von Herablassung in seinen Worten, als tue er der Sängerin, die durch seine Musik groß geworden, eine besondere Ehre durch seine Wahl an.
Frau Lore würde das an ihrem Fritz etwas verletzend gefunden haben, auch die Art und Weise der Liebkosungen fand sie nicht allzu taktvoll – da aber Marga weder durch eine einzige Miene, noch durch das leiseste Wort verriet, daß sie diese Ansicht teile, tröstete sich die Rätin abermals in dem Gedanken, daß solch ein ehrfurchtsvolles Liebeswerben wohl auch altmodisch und unkünstlerisch sei, und freute sich ohne weitere Reflexionen der Tatsache, die Hand der Nichte mit überströmenden Augen vergeben zu können. Sie wagte einen schüchternen Versuch, auf die pekuniären Zukunftsverhältnisse anzutippen, ward aber sehr kurz von dem Schwiegerneffen in spe abgefertigt, daß diese alberne Prosa schon genugsam erörtert sei; er lebe jetzt so vollkommen in allen Glückshimmeln, daß er nicht an die Misere dieser Tränenwelt erinnert sein wolle!
Da verstummte Frau Kirchstück abermals in scheuer Hochachtung, denn Marga rief voll ausgelassener Lustigkeit: »Unbesorgt, Tantchen! Beleidige einen Ermönyi nicht durch den mindesten Zweifel an seine Existenz! Was glaubst du von einer zugkräftigen Oper? Sie ist eine unerschöpfliche Goldquelle!«
»Und was glauben Sie von einer Nachtigallenkehle à la Marga?« lachte der Komponist mit aufblitzenden Augen; »ich werde schon Sorge tragen, daß man diesem Sängerlein einen goldnen Käfig baut!« und er griff mit beiden Händen in die duftigen Blumensträuße, riß die Blumen heraus und warf sie in duftigem Regen über sein »Feenkind!« Er war plötzlich von einer tollen Lustigkeit, wie oftmals eine Anwandlung wildesten Gefühlsergusses über den »Marmorkühlen« kommen konnte. Marga vermochte kaum ihn zu bestimmen, sie auf dem Korridor zu erwarten, da es die höchste Zeit für sie sei, sich umzukleiden. Just, als Roman voll übermütigen Abschiedes die Tür öffnen wollte, wich er vor einer hohen, schier majestätischen Frauengestalt zurück, neben der seine schmächtige kleine Figur wie ein Schatten vor der Sonne zusammenschrumpfte.
»Benedikta! – Benedikta!«
Mit lautem Jubel stürmte Marga ihr entgegen und warf sich in die Arme, dann riß sie sich wieder los, faßte Romans Hand und zog ihn mit sprechender Geste an sich.
Fräulein von Floringhoven verstand sie. Mit den herzlichsten Glückwünschen bot sie dem jungen Paar beide Hände dar, aber ihr Blick schweifte so jählings und unruhig durch das Zimmer, als suche sie jemanden.
Roman liebte keine Damen, die so vornehm imponierend auf ihre Mitwelt herniederblicken, wie die Enkelin des Ministers. Obwohl er sich mit der verbindlichsten Miene und höflichsten Geste verneigte, sagte er sehr ungeniert zu Marga: »Bitte, bedeute ihr, dass wir eilig sind und von Freunden erwartet werden!«
Abermals empfand es Benedikta unendlich schmerzlich, wie verlegen und unerquicklich der Beikehr mit einer tauben Persönlichkeit ist; sie vermißte auch in Romans Gesicht jede Spur von zartfühlender Teilnahme, die sie ermutigt hätte, ihm eine schriftliche Unterhaltung zuzumuten.
Das unangenehme Gefühl, das sie stets beschlichen, wenn Marga von ihm schrieb und erzählte, drängte sich ihr bei seinem Anblick in noch erhöhtem Maße auf. Die Persönlichkeit Romans wirkte direkt abstoßend auf sie, und ihre wunderbar scharf ausgeprägte Menschenkenntnis durchschaute in ihm den herz- und gefühllosen Egoisten, der eine Marga Daja lediglich aus Gewinnsucht an sich fesselte.
Während das Brautpaar in erregtem Ton flüsterte – wie es schien, wollte die Sängerin ihren Bräutigam bestimmen, Barone Floringhoven zum Souper einzuladen, was ihm höchst überflüssig und langweilig schien – wandte sich Benedikta an Tante Lore, um auch ihr einen Glückwunsch zu sagen, der immer weniger von Herzen kommen wollte. Da sie die Antwort der alten Frau nicht verstand, fuhr sie hastig fort: »War mein Inspektor aus Floringhof nach der Aufführung schon hier?« Frau Kirchstück schüttelte verständnislos den Kopf, und mit besorgtem Gesicht wandte sich die junge Dame wieder zu Marga, die ihr mit flehendem Bitten die beschriebene kleine Tafel reichte.
Roman zog sich mit formeller Verbeugung und einem sehr einstudiert gewinnenden Lächeln zurück, während Benedikta sehr freundlich, aber sehr entschieden die Einladung zum gemeinsamen Souper ablehnte.
»Sind Sie zu stolz dazu, liebste Freundin? Roman behauptet es!« kritzelte Marga etwas schmollend nieder, während sie begann, sich voll fliegender Hast umzukleiden.
»Ihr Herr Bräutigam kennt mich nicht, darum kann mich seine Annahme nicht befremden; von Ihnen, liebe Marga, hätte ich ein besseres Verständnis für meine Unfähigkeit, an Gesellschaften teilzunehmen, erwartet.«
Benedikta seufzte tief auf und sah so traurig aus, daß Marga voll inniger Teilnahme ihre Hände in die ihren nahm und küßte. Ja, sie wußte es, wie qualvoll der Verkehr mit heiteren Menschen für die Kranke war.
»Haben Sie Eckert nach der Aufführung gesehen, Marga? Nein? – O mein Gott – ich bin so sehr besorgt um den Armen. Fraglos hat er von Ihrer Verlobung gehört, daß er so spurlos verschwunden ist! Und ich hatte mich so sehr bemüht, ihn auf diese, Schmerzenskunde vorzubereiten!«
Marga sah jedoch mehr geschmeichelt als bestürzt aus.
»Ich war doch sehr nett zu ihm heute, nicht wahr?« schrieb sie schnell auf, während Tante Lore und die Kammerjungfer die blonde Perücke von ihrem Köpfchen lösten.
»Viel zu nett, Sie Turandot! Das hat ihn erst in alle Himmel gehoben, um ihn alsdann desto tiefer stürzen zu lassen. Wenn der nur keinen unüberlegten Streich macht!«
Marga war viel zu ausgelassen, um einen ernsten Gedanken fassen zu können. »Wie sollte er! Da müßte er doch zuvor sein Oberkommando in der Kinderstube um Erlaubnis fragen, ob er ins Wasser gehen darf oder nicht!«
Der ernste Blick Benediktas flammte vorwurfsvoll auf sie nieder. »Marga! Marga! Vielleicht klagt Sie sein brechendes Auge schon vor Gottes Richterstuhl an!«
Tante Lore fing vor Schreck an zu weinen, und die junge Sängerin machte plötzlich auch ein ganz betroffenes Gesicht.
»Aber liebste Benedikta – glauben Sie etwa im Ernst?«
»Warum sollte er so spurlos verschwinden, wenn er nicht in höchster Aufregung das Theater verlassen hätte?«
Marga schlug mit der kleinen Faust heftig auf den Tisch und stampfte wie ein ungezogenes Kind mit beiden Füßchen auf die Erde. »Zum Kuckuck mit dem albernen Menschen! Was geht er mich denn an? Was habe ich mit ihm zu schaffen?« rief sie weinerlich, »er stört mir den ganzen schönen Abend! Warum bildet sich der freche Patron Dinge ein, die sich nicht erfüllen können? Warum wagt er es, seine Augen zu mir zu erheben!«
Fräulein von Floringhoven verstand kein Wort und nahm an, baß ein bitterer Ausbruch von Reue und Angst die arme Marga derart schüttele. Sie legte freundlich tröstend den Arm um sie: »Ich hoffe ja auch zu Gott, daß er vernünftig ist, liebste Marga, daß er vielleicht unten bei Sophie auf mich wartet! – Leben Sie wohl und kommen Sie bald zu mir, auf daß wir über den heutigen schönen Erfolg noch ausführlich plaudern können, – das heißt, wenn Sie in Ihrem jungen Glück noch Zeit für alte Freunde haben! Wenn Eckert drunten auf mich wartet, sende ich Ihnen sofort Nachricht herauf! Und nochmals Gott befohlen! Möchte der heutige doppelte Glückstag zum Heil und Segen für Ihr ganzes Leben werden!«
Als sich die Tür hinter Fräulein von Floringhoven geschlossen, riß Marga das Spitzentuch vom Tisch und knäulte es ärgerlich in den Händen. »Gott sei Dank ist der Unglücksrabe davongeflattert! Eine bodenlose Rücksichtslosigkeit, mich an dem heutigen Tage derart zu ängstigen und aufzuregen! Mag doch ihr törichter Onkel Bräsig bleiben, wo der Pfeffer wächst! Hätte viel zu tun, wenn ich hinter allen sentimentalen Jünglingen herlaufen wollte, die für Marga Daja Feuer fangen! Schnell doch, Tante, mein Kleid her! Wie lange soll Roman warten! Ich glaube wahrhaftig, es hat sich heute alles gegen mich verschworen!«
Marga war bald im Pelzmantel und Kopfschal und stürmte durch die Tür, ihrem »Glück« entgegen, das in Gestalt Roman Ermönyis ihrer harrte.
Er hatte stets eine überschwengliche Weise gehabt, seine Liebe zu versichern und zu bekunden, – jetzt, als er endlich ungesehen und ungehört von Fremden seine Erwählte im Arme hielt, dieweil der Wagen im schärfsten Tempo dem Restaurant entgegensauste, brach sich die Erregung in tausend liebeglühenden Worten Bahn und berauschte das »Kind« mit dem süßen Gift himmelstürmender Leidenschaft; Marga war geistig viel zu unbedeutend, um solch einen Ausbruch jähen Gefühls richtig zu beurteilen, sie schwelgte in der Überzeugung, über Maß und Ziel geliebt zu sein, und in dem Triumph der Eitelkeit, den unberechenbarsten und launenhaften Künstler so völlig besiegt und lammfromm zu ihren Füßen niedergezwungen zu haben!
Hell wie das Morgenlicht – lächelt die Ferne! Glückliche Sterne, täuschet mich nicht! – Wieder klang es in leisem Jubel von ihren Lippen, und hätte sich nicht trotz aller Leichtfertigkeit doch eine Stimme in ihrem Innern geregt: »Wo blieb Eckert?« – hätte sich Marga in der Tat ein wolkenloses Glück erkauft. – Für wie lange?
Danach fragte sie nicht.
Der Wagen hielt vor dem glänzend erleuchteten Restaurant, und Roman faßte die junge Braut voll übermütiger Seligkeit, um sie wie ein Kind aus der Equipage zu heben und noch ein paar Schritte über das Trottoir zu tragen.
»Siehst du, Feinsliebchen! So werde ich dich durch dein ganzes Leben hindurch auf Händen tragen!« flüsterte er ihr wie ein Berauschter in das Ohr. –
Die Gasflammen und das elektrische Licht brannten so blendend hell, und dennoch fand Adalbert Eckert nicht Weg und Steg.
Er suchte auch nicht danach, er schritt gedankenlos wie ein Träumender geradeaus, dahin, wo ihn der Strom des großstädtischen Nachtlebens hintrieb. Wo sollte er hingehen? Er wußte es selber nicht. Er empfand lediglich den Wunsch, möglichst ruhig und von Menschen unbehelligt allein zu sein.
Und hier, unter hunderten von fremden Leuten, die an ihm vorüberhasteten, war er allein, ganz allein mit seinen Gedanken.
Die Hitze, die Musik, die Lichter und Leute in dem Opernhaus hatten ihn verwirrt und sein Blut in Wallung gebracht. Da sauste und brauste es durch seinen Kopf, und die bezaubernde Sirene auf der Bühne drunten glich einer Heineschen Spukgestalt, die nächtens kommt, den armen, liebestrunkenen Gesellen um Hirn, Herz und Verstand zu bringen.
Jetzt, als die Nachtluft frisch und kühl um seine Stirn strich, atmete Eckert auf, als erwache er aus einem wüsten Traum.
Ja, er hatte geträumt.
Und heute erwachte er, rauh und unbarmherzig aufgerüttelt von der Hand des Schicksals. Er sah Marga Daja, die Sängerin, und die rosigen Schleier sanken von seinen Augen, daß er klar und deutlich sehen konnte. Was er erblickte – war falsch. Was er hörte – war falsch. Wie ein Zerrbild innerer und äußerer Schönheit stand sie vor ihm, zusammengesetzt aus Lug und Trug, die im Lampenlicht wohl die Augen blendet, die grelle Tagessonne der Wahrheit aber nicht vertragen tann.
Das harmonische Ganze, von dem er geträumt, war eitel Stückwerk, und das Herz, um das er in treuer Liebe werben wollte, feilschte mit Gold und Lorbeer um ein andres Glück, das nicht der Himmel, sondern die betrügerische Welt verkauft.
Ein schwerer Traum und ein bitteres Erwachen machen Leib und Seele zerschlagen und müder noch als zuvor. Auch bei Eckert?
Wie im Halbschlaf schreitet er dahin, im Kampfe gegen sich selber ringend, die Fesseln dieser Müdigkeit abzustreifen. Und wie er emporblickt, wo die Sterne so freundlich leuchten, da deucht's ihm, als blickten die Augen seiner Kinder auf ihn nieder. Wie Spuk und böser Zauber verfliegt der letzte Nest eines krankhaften Wehs. Tief aufatmend bleibt er stehen und lächelt: »Gott im Himmel sei gelobt, daß er meine Kleinen vor einer solchen Stiefmutter bewahrte!« murmelte er. Ein Gefühl froher Erleichterung überkommt ihn.
Mit hellen Augen blickt er sich um.
Wohin ist er in der großen fremden Stadt geraten? Vor ihm, in der weniger belebten Straße, schreiten zwei Herren.
»Ich habe Durst, Verehrtester!« lacht der eine, »und da wir so nahe an der Quelle sind, lassen Sie uns Einkehr halten und den alten Adam regelrecht in einem Glase Kulmbacher oder Niersteiner ersäufen; je nachdem Ihr Herz für Bayern oder das Rheinland schlägt!«
»Wenn dich die bösen Buben locken, so folge ihnen nicht, sondern geh voran!« antwortet der andre lustig. »Sie wissen, daß ich kein Spielverderber bin, amico!«
Ein frischer Trunk!
Eckert empfindet es plötzlich, daß ihm der Hals wie ausgetrocknet ist. Das flüchtige, kaum angerührte Nachtmahl bei der Baroneß ist das einzige gewesen, was er tagsüber wahrend der Reise genossen. Nun verlangt die Natur ihr Recht.
Es ist dem Inspektor so leicht und froh um das Herz gewesen, daß er das Haupt in den Nacken schüttelt wie ein Löwe, der die Bande und Ketten zerrissen und sich seiner Freiheit freut. Nun will er auf das Wohl jenes Mädchens trinken, das ihm die Augen geöffnet.
Die Herren vor ihm biegen in einen strahlend erleuchteten, palmengeschmückten Hausflur ein. Befrackte Kellner treten ihnen entgegen, und Bratenduft schwängert die Luft.
Eckert folgt mechanisch und tritt ein.
Wieder umfing den Eintretenden elektrisches Licht, durch farbiges Glas gedämpft und von aufträufelndem Tabaksrauch zart verschleiert.
Eine seltsame Luft weht ihm entgegen, das undefinierbare Gemisch, das durch elegante Restaurationsräume der Großstadt weht.
Als er langsam vorwärtsschreitet, ertönt aus einer der Nischen, in der eine elegant gedeckte Tafel steht, jubelndes Hoch und Gläserklingen: »Marga Daja! Roman Ermönyi!« klingt es grell in die Ohren des Inspektors, und wie vom Blitz getroffen steht er still und starrt auf die also Lärmenden.
Ein jäher Schreck lähmt ihm die Füße.
Vor ihm, von dem Arm des jungen Komponisten umschlungen, steht Marga, mit glühenden Wangen und strahlenden Augen reihum anzustoßen. Die Gläser bieten sich ihr entgegen. Lachende Lippen, weinselige Augen grüßen die reizende Braut.
»Hoch das Brautpaar! Hoch der unsterbliche Lorbeer!« klingt es abermals von den Lippen des korpulenten Herrn, den Eckert schon in der Schauspielerloge genugsam kennengelernt, und indem Marga ihm lachend Bescheid tut, wendet sie das Köpfchen.
Ihr Blick schweift weiter – und plötzlich brennt er in den weit aufgerissenen Augen des Inspektors. Momentan starrt sie ihn sprachlos an, dann ringt sich ein heller Jubellaut von ihren Lippen, und sich jählings aus dem Arm des Beilobten befreiend, stößt sie den Stuhl zurück und stürmt dem Gast aus Floringhof entgegen.
»Eckert! Eckert!« lachte sie. »Gott sei Dank, daß Sie Ausreißer wieder da sind! Wo haben Sie böser Mensch gesteckt? Etwa als ›Mullah auf verbotenen Wegen‹ wandelnd? Schämen Sie sich, Sie solider Mann! Wir dachten ja wirklich schon, eine unglückliche Liebe habe Sie kopfüber in den Kanal getrieben!«
Aller Augen blickten höchlichst überrascht auf den riesenhaften Mann, vor dem Marga Daja wie ein bunter Schmetterling gaukelt, ihn an beiden Händen zu dem Tisch heranziehend.
»Hier, meine Herrschaften!« ruft sie übermütig, »ein Mann, der Durst nach Wein und Appetit auf junge Mädchenherzen verspürt! Laßt ihn nicht verschmachten!«
»Fräulein Marga –« stottert Eckert mit ernstem Gesicht, »ich bedauere lebhaft, nicht Platz nehmen zu können –«
»Papperlapapp! Warum nicht? Hat Baroneß Sie nur hierher geschickt, mich durch Ihren Anblick aus den tausend Sorgen um Ihr junges Leben zu erlösen?«
»Nun ja, kommen Sie nicht von ihr?«
»Nein, Fräulein Marga –«
»Um so besser!« sie lacht silberhell auf, »so folgten Sie aus eigenem Antriebe errötend meinen Spuren! Und wollen nicht Platz nehmen? – Torheit! Sie werden doch nicht so ungalant sein, es zu verweigern, auf mein Wohl zu trinken?«
»Gewiß nicht! – – Aber ... es ist schon sehr spät –«
»Warum kamen Sie denn hierher?«
Nun wird er blutrot. »Ich wollte in aller Eile noch ein Glas Bier trinken! Ich ahnte wirklich nicht, daß ich Sie hier treffen würde, Fräulein Marga!«
»Dann fällt Ihnen dieses Glück also ganz unverdienterweise in den Schoß?« lächelt Roman, mit höflicher Verbeugung näher tretend, »und doppelt unverantwortlich wäre es, wollten Sie es nicht beim Schöpfe fassen! – Darf ich bitten, liebe Marga, mich deinem überraschenden Besuch bekannt zu machen?«
Marga legte ungeniert die Hand auf den Arm des Inspektors und führte ihn vor den Stuhl, den ein Kellner diensteifrig an die Tafel geschoben, dann zeigte sie mit großer Geste auf den Fremden und rief voll Pathos: »Meine Herrschaften, heißen Sie einen Mann willkommen, dem ich mein Leben verdanke –«
»Donnerwetter – Ihr Vater?« grunzte der Baß voll Humor, ein homerisches Gelächter veranlassend, das sich erst allmählich wieder legte.
»Abscheulich,« schmollte Marga, »daß Sie doch auch niemals Stimmung halten können, Kranzlow!«
»Bin ich eine Baßgeige?«
»Mit dem Unterschiede, daß nicht Sie, sondern meist Ihre Umgebung durch Sie verstimmt ist!«
»Erlauben Sie mal –«
»Still! – Weiter im Text! Wenn also nicht Papa, dann doch Lebensretter!«
»Jawohl, ganz richtig, mein Lebensretter! – Stellen Sie sich vor, meine Herrschaften, – versetzen Sie sich in einen bitter-bitter-grimmig kalten Schneesturm –«
»Brr ... ich zittere vor Kälte! – Kellner! Einen heißen Grog!«
»Nicht unterbrechen, Kranzlow! Lieber die Zunge erfrieren, als wie einer Dame das Wort abschneiden.«
»Also ein grimmig kalter Schneesturm –«
»Ich sage Ihnen, meine Herrschaften, ein Wetter, wie Sie es sich hier in der Friedrich- oder Leipziger Straße überhaupt gar nicht vorstellen können –«
»Kellner! Malen Sie uns zur bessern Veranschaulichung einen Schneesturm an die Wand!«
»Schreien Sie nicht so! Sie singen ja soeben nicht den Sarastro!«
»Kellner! Treten Sie mal den Herrn hier tot! Er unterbricht uns immer!«
»Ruhe! – Es haben nur immer zwölf auf einmal das Wort!«
»Also, ein schrecklicher Schneesturm –«
»Baroneß Floringhoven und ich hatten einen Parforcereiter gerettet, – oh, wenn Sie ahnten, wen, meine Herrschaften – Sie wären starr vor Hochachtung –«
»Ganz recht, ich war's!«
» Sie ritten par force? Au! – Gingen Schusters Rappen mit Ihnen durch?«
Kranzlow hob den Stiefel und schaute auf die Sohle. »Ganz recht, sie gehen sogar schon wieder durch!«
»Au! Au! Haut ihm!«
»Still doch! Es wird ja so interessant! Also Marga rettete eine sehr respektable Persönlichkeit!«
»Gewiß Herrn Abbs! Der ist so ›par force‹ –«
»Ja, wir retteten! Und ließen den Verunglückten in unserm Schlitten transportieren.«
»Wo ist die Medaille? Ich will erst die Medaille sehen, ehe ich es glaube!«
»Hier ist sie!« – Marga versetzte dem Ruhestörer einen Nasenstüber und fuhr eilig fort: »Allein – mutterseelenallein standen wir im tiefverschneiten Winterwald –«
»Haben Sie schon mal einen tiefverschneiten Sommerwald gesehen?«
»Sterbend vor Kälte, Sturm und Grausen! – Mit brechenden Knien rangen wir uns dem fernen Schloß entgegen –«
»Warum war denn den Knien so übel geworden?«
Marga stampfte wie ein ungeduldiges Kind mit dem Füßchen und wandte sich anklagend zu Ermönyi.
»Er ist unerträglich, Roman!«
»Das habe ich Ihnen ja gleich gesagt, daß er, ›Ihr Roman‹, unerträglich ist! Sie wollen sich aber trotzdem mit ihm verloben!«
»Laß nur, Marga, wir laden nachher die großen Kanonen am Lustwäldchen und schießen den Sünder zollweise tot!«
»Aber dann bitte mit dem neuen Pulver! Ich bin Nichtraucher!«
Kolossale Freude. »Ignorieren Sie ihn doch, Marga, Sie wissen, daß dieser verlorene Sohn unverbesserlich ist!«
»Wer zahlt Finderlohn, wenn ich ihn wiederfinde?«
»Ich! – Hier ... einen Handschuhknopp zum ersten!«
»Weiter doch, weiter! – Also Sie starben beinahe im Schnee? – Waren Wölfe oder Bären in der Nähe?« forschte die Naive mit rädergroßen Angstaugen.
»Wie sollen denn Bären dahin kommen! Ermönyi bindet die seinen ja nur hier in der Residenz an!«
»Da die Wälder so endlos bei Floringhof sind, konnte ich es immerhin nicht wissen! Außerdem hatten sich vor etlichen Jahren Räuber darin aufgehalten!«
»Sehr wahr, zur Zeit des Faustrechts durchstreiften Buschklepperbanden die ganze Gegend. Etwas früher noch, als Thüringen noch ein Stück Ostsee war und die Meeresfluten den Inselberg umspülten – daher der Name –, sollen sogar Piraten per Schiff über die Schloßtürme von Floringhof hinweggefahren sein!«
Kranzlow sah sehr ernst aus, als er dieses sagte, und trank sein Glas bis auf den letzten Tropfen aus.
»Wie lange mußten Sie denn in dem Wald aushalten?«
»Oh – es waren wohl ein paar Stunden! Da – in der höchsten Not, als ich schon in den Schnee niedersank und eben die Augen zum Todesschlaf schließen wollte –«
»Wozu solche Umstände? Ich hätte sie ruhig offen gelassen.«
»Als ich noch einmal so recht wehmütig hierher dachte – an euch alle, liebe Kinder –«
»Wenn Sie meiner man bloß im Testament gedacht hätten, holde Daja – das würde mich am meisten gerührt haben – –« schluchzte Kranzow in seine Serviette.
»Da nahte plötzlich hoch zu Roß der Retter in der Not –«
»Um mir meine Erbschaft wieder abzujagen!«
»Hier, dieser brave, vortreffliche Mann, Herr Inspektor Eckert!« – Marga hob mit zauberischem Lächeln ihr Glas zu dem Genannten – »der mich empor in seinen Sattel nahm, wie der Riese das Königskind, der mich und mein Leben aufs neue der Welt wiederschenkte –«
»Grundgütiger! Jetzt genießt der gute Kerl schon wieder Mutterfreuden!«
»Und den ich darum als getreuen Freund und Gast in diesem frohen Kreis willkommen heiße!«
Jubelndes Hallo. »Hoch klingt das Lied vom braven Mann – wie Orgelton und Glockenklang! Hoch! Hoch! – Hoch!« –
Nun saß er Marga Daja abermals gegenüber, und als er sie ansah, als er ihre ausgelassene Stimme hörte und merkte, daß sie sich besonders bemühte, ihn durch Liebenswürdigkeit und Anmut aufs neue zu umstricken, da kam ihm plötzlich das Verständnis, warum er noch einmal ihren Weg kreuzen sollte. – Um sich und seine männliche Standhaftigkeit zu prüfen, um sich zu überzeugen, daß seine Augen wirklich und wahrhaftig sehend geworden waren.
Die Marga, die sich ihm soeben wieder in kecker Weinlaune und angeheiterter Gesellschaft zeigte, verlor den letzten, schwachen Schimmer jenes Glorienscheins, den seine anbetende Liebe ihr ehemals um das Köpfchen gezaubert.
So wie er sie jetzt kennenlernte, entsprach sie in nichts mehr dem Ideal, das er sich von ihr geschaffen. Adalbert Eckert, der stille, streng denkende Mann, der in solidesten Grundsätzen erzogen, die höchsten Anforderungen an eine Weiblichkeit stellte, fühlte sich durch den leichtlebigen Ton, die freien Scherze und seltsame Vertraulichkeit des Verkehrs geradezu abgestoßen.
Marga hat den neugierig forschenden Damen ohne alle Diskretion laut lachend erzählt, daß Herr Eckert ein junger, sehr annehmbarer Witwer in gesichertster Lebensstellung sei, daß sie selber »beinah Feuer für diesen blonden Herkules gefangen hätte, wenn nicht Roman, der süße Bösewicht, kurz zuvor ihr Herzlein gestohlen habe« – und was dergleichen Dinge mehr waren.
Nun hatte sich die Naive mit den krausen Tituslöckchen und der niedlichen Stumpfnase sehr kindlich vertraut neben ihn gesetzt, ihn mit allem Raffinement und aller Kunst zu bezaubern.
Sie schenkte ihm, ohne im mindesten aufgefordert zu sein, von den Blumen, die sie an der Brust trug, schenkte ihm, stets dringlicher nötigend, das Glas voll und stieß mit ihm auf Glück und Liebe, auf seliges Finden und Binden an. Ja, sie erzählte ihm sogar voll herziger Unschuld, daß sie heute nacht schon von ihm geträumt habe, von einem großen, blondbärtigen Herrn, Zug für Zug das Angesicht des Inspektors, der wie mit Sturmesflügeln hinter ihr hergeeilt sei. Sie habe sich anfänglich schrecklich gefürchtet, bis sie schließlich wie ein gehetztes Wild vor ihm in die Knie gesunken sei. Da habe er sie mit innigem Blick empor an seine Brust gezogen, habe sie geküßt und ihr einen Ring angesteckt –
So leise, wie sie auch geflüstert hatte, die Nachbarin zur Rechten Eckerts hatte sie dennoch verstanden.
Sie hob das spitze Gesicht mit sehr ironischem Lächeln. »Träume sind Schäume, liebe Marietta,« spottete sie, »und Träume, die man erzählt, werden überhaupt niemals wahr!«
Mariettas jugendliches Gesichtchen sah einen Augenblick recht alt aus, dann lachte sie scharf auf: »Darum eben erzähle ich ja, Teuerste! – Wäre es nicht schrecklich, wenn Herr Eckert mich halbtot hetzen wollte? Sie wissen, ich liebe nicht sonderlich eine Promenade zu Fuß, fahre lieber in der Droschke – und nun gar einen Dauerlauf!«
»Gewiß, gewiß, das Vorspiel hat ja in der Regel mit dem Inhalt der Oper nur so viel zu schaffen, daß es Stimmung machen soll! – Herr Eckert! Nehmen Sie sich vor der kleinen Hexe in acht! Sie ist den Männern sehr gefährlich und hat schon manchen durch liebliche Träume über die fatale Wirklichkeit hinweggetäuscht!«
Eckert ist es unmöglich, in einen derartigen Ton einzustimmen. Ihm deucht die übermütige, unverblümte Weise der Gesellschaft entsetzlich.
Die Stimmung wird immer gehobener, der Wein treibt das Blut stets hitziger durch die Adern, und der, der ihm am unersättlichsten zuspricht, ist Roman Ermönyi.
Die Zügellosigkeit seines Temperaments, die rücksichtslose Willkür seines nie gehegten und gepflegten Wesens brechen durch die Glasur, die es in Form blasierter Gelassenheit und interessanter Nonchalance für gewöhnlich überzieht.
Sein Benehmen gegen Marga entbehrt jeder Würde und jeden Respekts, und es gehört die ganze Harmlosigkeit und verblendete Eingenommenheit dieses »Kindes« dazu, um das Ungehörige in dem Benehmen dieses Mannes nicht zu durchschauen.
Wer aber vermöchte das überhaupt in einem Kreise, dessen Glieder fast sämtlich durch verglaste Augen blicken, deren Sinne sich immer rosiger umnebeln, je weiter der Zeiger auf der Uhr vorrückt, je öfter die leeren Flaschen gegen volle umgetauscht werden.
Eckert ist wohl der einzige, der als steinerner Gast, unberührt und unverändert auf seinem Platz sitzt, wie ein grauer Felsen, um den schäumende Flut ihre Blasen wirft, um den die Nixen ungehört und ungewürdigt ihr Spiel treiben, vergeblich ihre betörenden Lieder singen und die weißen Arme heben.
Sein steifes, abweisendes Benehmen reizt die Damen ganz besonders – um der Seltenheit willen – und die Eitelkeit, diesen Schneemann mit feurigen Blicken und Worten zu schmelzen, treibt die Damen in einen kecken Wettstreit, bei dem sich selbst Marga Daja, die junge Braut, voll übermütiger Laune beteiligt.
Roman ist ja nicht eifersüchtig.
Er selber versichert es und verlangt von seiner Zukünftigen dieselbe Vernunft als Gegenleistung.
Adalberts starrer Blick trifft ihn.
»Sie werden es erlauben, Herr Ermönyi, daß Ihre junge Frau noch als Sängerin auftritt?«
Hätte er türkisch gesprochen, würde seine Frage dem Komponisten kaum unverständlicher sein.
»Na, versteht sich, erst recht! Warum etwa nicht?« fragt er mit zusammengekniffenen Augen. »Glauben Sie, man läßt heutzutage einen Schatz in der Kehle ruhen, ohne ihn zu heben?«
»Sie werden es gleichgültig ansehen, wie Ihre Gattin als bezauberndes, sinnbetörendes Wesen, wie sie es heute abend war, auf den Brettern steht und alle Männerherzen in Flammen setzt?«
»Ah! Bravo! Bravo! Daja, bedanken Sie sich für dieses unfreiwillige Kompliment!«
Ermönyis Lippen verziehen sich ironisch: »Gleichgültig? O nein, so gleichgültig wird es mir gerade nicht sein, im Gegenteil, ich würde sehr böse werden, wenn meine Gattin nur einhundert Männerherzen erobern wollte, wenn achthundert in dem Theater anwesend sind!«
»Sie würden aber jeden einzelnen würgen, Herr Eckert, der es wagte, Ihre Frau auf der Bühne anzusehen?« jubelt die Naive mit zärtlichem Blick.
»Natürlich! Wer weiß, ob der Dynamitattentäter des Liceotheaters nicht auch nur der eifersüchtige Gemahl einer Diva war!«
»Faktisch. Inspektorchen, würden Sie eifersüchtig sein?« Eckerts Blick schweift ruhig über die Tumultuanten.
»Fraglos würde ich es sein, ich würde nie eine Frau heiraten, um sie mit der halben Welt zu teilen!«
»Nein, du wirst nicht – nein, du wirst nicht, süßer Junge!« flötet die Naive als Zerline aus dem Don Juan, und sie schmiegt sich so nah an den Sprecher, daß ihr Lockenköpfchen beinahe auf seiner Schulter ruht.
Ermönyi lacht schallend auf. »Gottlob, daß der Geschmack verschieden ist! Was sollte aus den Opernhäusern werden, wenn ein Othello jede Tür bewachte? Sie haben gut getan, Herr Eckert, sich auf das Krautpflanzen und Kartoffelernten gelegt zu haben, anstatt zu komponieren, dichten und singen – es ist die Rettung für Darsteller und Publikum! Sehen Sie, ich denke ganz anders darüber! Ich werde selber die Toiletten meiner Frau kontrollieren, sie so verführerisch und prickelnd wie möglich zu gestalten, ich selber werde ihr die Anbeter zuführen, damit die Schar ihrer Vasallen anwachse wie die Sterne am Himmel, wie der Sand am Meer!«
Hochaufgerichtet saß Adalbert und schaute mit bleichem Antlitz in das hochgerötete Gesicht des Sprechers, aus dessen Augen in diesem Moment eine – ihm deuchte es – tierische Gemeinheit funkelte. Marga hatte lachend die Arme um ihn geschlungen und schien gar nicht zu ahnen, was der Mann ihrer Wahl ihr mit seinen Worten antat.
»So, so –« nickte Eckert mechanisch, und dann fragte er plötzlich mit rauher, lauter Stimme: » Lieben Sie denn Ihre Braut und künftige Gemahlin, Herr Ermönyi – lieben Sie Marga Daja?«
Jubelndes, nicht endenwollendes Gelächter.
Auch Roman lacht, daß sich das Weiße seiner Augen rot färbt. Er reißt seiner Braut das Glas aus der Hand, das sie soeben zum Munde gefühlt hat, schwingt es hoch und singt mit heiserer Kehle:
»Die Engel nennen es Himmelsfreud',
Die Teufel nennen es Höllenleid,
Die Menschen nennen es Liebe!«
»Liebe, Liebe!« wiederholte der Chor johlend, dieweil Ermönyi die zarte Gestalt »des Kindes« an sich preßt, gleich wie ein Sturmwind, der die weißen Rosen mit rauher Hand packt und entblättert. Er stürzt den Wein herab, füllt das Glas noch ein-, zweimal und leert seinen Inhalt mit unersättlicher Gier. Dann atmet er tief auf und schiebt Marga zurück, um sich mit beiden Armen auf den Tisch zu legen.
Sein ganzes Benehmen trägt den Stempel großer Unmanier und verrät bedeutenden Mangel an Bildung.
»Ob ich meine Braut liebe, Herr Eckert?« fragte er sichtlich belustigt. »Ja! Ich liebe sie. Denken Sie an – ich liebe sie! – Aber auf meine Art – nicht auf die Ihre! Bei Ihnen und allen andern Alltagsmenschen, die nicht unter dem Steinbild der Lyra und nicht im Zeichen eines Apoll geboren sind, bedeutet die Liebe nichts andres als Tyrannei, als eine Kette, die Sklaven fesselt und ihnen die Gelenke wund reibt! – Liebe! Was bedeutet dem braven Bürger, dem ehrenhaften Soldaten und Beamten, dem nüchternen, beschränkten Arbeiter wohl das Wörtlein Liebe? – Es ist das Namensschild für den Käfig, in den sich die ›verliebten‹, pflichtgetreuen Ehegatten gegenseitig einsperren, und an dessen Gitter sie dennoch zeitlebens ingrimmig rütteln, wie ein König der Freiheit, der in unwürdigen und unnatürlichen Banden schmachtet.. – Ja, sehen Sie mich nur an, Sie Anbeter dieses Käfigs! Klingt Ihnen die Predigt eines Freiheitsapostels so fremd in den Ohren? Dann hören Sie nur weiter! Hören und lernen Sie! Ich bin ein Mann, der die unbeschränkte Selbständigkeit über alles schätzt, der sie für sich selber unbedingt verlangt, und der sie auch andern in demselben Maße gönnt! Leben und leben lassen! – Es gibt kein Glück, das in irgendeiner Hinsicht, und sei es selbst in der geringsten, eine Zwangsjacke trägt! – Es gibt kein Glück, das permanent Rücksichten nehmen soll, sich fügen und bequemen, so wie es ein fremder Wille oder irgendeine Mode bedingt. Alles, was vorgeschrieben wird, ist ein Zwang, und jeder Zwang ist unerträglich! Ich liebe die Freiheit! Nicht nur in der Liebe, sondern in allen Dingen. Ich hasse jede Stellung, die den Mann bindet und knechtet, ich hasse jede Vorschrift, die ›höherer‹ Wille diktiert, sei es der des Königs, derjenige der Polizei oder eines Agitators, der unter der schönsten Devise, ›für die Freiheit‹ lediglich ein neues Regiment in andrer Fasson heraufrevolutionieren will! – Wer befiehlt, ist ja gleichgültig, ob nur einer – oder der wüste Haufen des Volkes, – ich mag mir von keinem befehlen lassen, nicht von Männer-, nicht von Weiberhänden, – selbst von diesen allerkleinsten nicht! Ich erkenne nur einen Willen an, und das ist der meine. Ich stelle es meiner Frau aber auch frei, ganz genau ebenso zu denken und zu tun –«
»Himmel! Wenn niemand sich fügen und nachgeben will, was für einen permanenten Spektakel soll das im Hause geben?« lachte die Naive hellauf.
»Spektakel?« Roman zuckte die Achseln. »Narrheit. Es geht eben jedes den Weg, der ihm zusagt!«
»Bravo! – Sehr vernünftig! Ermönyi soll leben!« jubelten die Stimmen der Zuhörer, die sich absolut nicht in der Laune befanden, lange Reden mit anzuhören; Kranzow hob sein Glas und stieß lebhaft mit Marga an: »Na, dann rate ich Ihnen, schöne Daja, nehmen Sie gleich am Hochzeitstage ein Rundreisebillett um die Erde, damit Sie sich noch einmal im Leben mit Ihrem Gatten begegnen!«
»Und Sie sind mit den Ansichten Ihres Bräutigams einverstanden?« fragte die schlanke Nachbarin zur Rechten Adalberts, nicht ohne boshaftes Blinzeln gegen die Kollegin, über die Tafel herüber.
Marga blickte wie verklärt zu Roman empor: »Gewiß bin ich es! Sein eiserner Wille imponiert mir! Ich liebe das Rauhe und Energische an dem Mann.« Das hatte sie Eckert schon damals versichert, als sie während des Ritts im Schnee seine »schwächliche« Vaterliebe verspottete.
Schweigend starrte Eckert nieder in sein Glas, und während Kranzow ein übermütiges, nicht allzu zartes Couplet anstimmte, das die Freiheit der Liebe pries, während die Stimmung an der Tafel schon in jenes wundersame Gemisch von gewaltsamer Berauschtheit und Übermüdung einlenkte, zog er die Uhr und blickte darauf nieder. Es war die zweite Stunde.
Die Naive riß ihm die Kette aus der Hand, und die schlanke Blondine zwang ihn mit kräftigen Armen auf den Stuhl zurück: »Was da! Kein Spielverderber sein! Wie dürfen Sie aufbrechen, ehe die würdige Mama da drüben befiehlt –«
»An diesem Tisch huldigt man dem eigenen Willen!« gab Eckert scharf zurück.
»Bravo! Famos gegeben!«
Und weiter wird getrunken, immer weiter, bis sich Roman Ermönyi mit stierem Blick nach vorne neigt, und Marga abgespannt aufsteht.
»Nehmt es mir nicht übel, Kinder – ich muß nach Hause!«
»Nach Hause gehn wir nicht, nach Hause gehn wir lange nicht!« lallt Roman und tastet nach dem Glas.
»Noch ein Hoch auf den Erfolg und auf das Brautpaar!«
»Hoch! Hoch! Hoch!«
Der Komponist erhebt sich wankend, steht einen Augenblick und sinkt schwer auf den Stuhl zurück.
»Kinder! Kinder! Leutchen – er hat einen Schwipps!« lachte Marga harmlos.
»Einen kolossalen Schwipps! – Holt den Totenwagen, ich werde den Unsterblichen nach Hause bringen!« grunzt Kranzow, selber nicht mehr ganz sicher auf den Füßen.
»Aber mon dieu! Wer soll mich denn begleiten?« entsetzt sich Marga plötzlich ganz weinerlich.
»Unsinn, – – Täubchen – ich bringe dich!« lacht Roman mit einem neuen Versuch, sich zu erheben, »aber eine Droschke muß ich haben ... zu Fuß is nicht.«
Eckert steht neben der jungen Sängerin und zieht sie mit undefinierbarem Blick auf den Berauschten von Ermönyis Seite hinweg.
»Das ist unmöglich –« sagt er rauh. »Nehmen Sie, bitte, Ihren Mantel um, Fräulein Dallberg! Ich dürfte jetzt wohl ein zuverlässigerer Schutz sein wie Ihr Herr Bräutigam.«
»Auch gut ... meinetwegen ... hast – der Kerl hat recht – und ... eifersüchtig bin ich ja nicht, Kinder –«
Mit einem beinahe verächtlichen Ausdruck in den ernsten Zügen wandte Eckert dem Wankenden den Rücken, um Marga behilflich zu sein, den Mantel anzuziehen.
Die Kleine schlang den weißen Spitzenschal um das Köpfchen und lächelt vertraulich zu ihm auf. »Sie sind entzückend liebenswürdig, amico mio! So recht in Wahrheit ein getreuer Ekkehard, der stets zur Stelle ist, mir Hilfe zu bringen. Wundern Sie sich nicht über Roman! An einem solchen Freudentag wie dem heutigen darf man es einem Künstler nicht übelnehmen, wenn er des Guten zuviel tut! Er trank ja auf mein Wohl, und Sie wissen doch, lieber Eckert: Wer niemals einen Rausch gehabt, der ist kein braver Mann!«
Ein wunderliches Lächeln huschte um seine Lippen.
»Ich glaube, selbst der Rausch Ihres Bräutigams ... imponiert Ihnen, Fräulein Dallberg?« fragte er.
Sie lachte silberhell auf. »Wenn ich ehrlich sein soll – ja! Es liegt so etwas Männliches darin, etwas, was ich ihm nicht nachtun könnte und möchte. Ein Mann kann auch im Laster groß sein! Und solche Männer, die wie gute, friedliche Lämmer nur immer den Weg tugendhafter Pflicht trollen, die sind unbeschreiblich langweilig!«
»Naja, Sie sind ein Juwel!« lachte Kranzow mit ausgebreiteten Armen. »Wenn Sie sechzig Pfund schwerer wiegen wollten, gäbe es keine bessere Frau für mich, als Sie!«