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Viertes Kapitel

Schellengeläut drang die Parkallee entlang.

Der Schlitten kehrte zurück, und Sophie trat an die Portaltüre, ihre junge Herrin zu empfangen.

Das Bewußtsein war Benedikta zurückgekehrt, aber Sophie stieß einen Schrei des Entsetzens aus, als sie die Schwache, stets wie im Schwindel Taumelnde mit Pannkeukens Hilfe aus dem Schlitten hob.

Gott im Himmel, wie sah das junge Mädchen aus! Leichenfahl, mit tiefumschatteten Augen und farblosen Lippen, hinter denen die Zähne permanent wie im Schüttelfrost zusammen schlugen.

»Allmächtiger Gott! Was ist geschehen?« schrie die Alte auf.

Pannkeuken aber wehrte mit entsetztem, angstverzerrtem Gesicht ab und flüsterte: »Zu Bett! Schnell zu Bett mit ihr!«

Eine unbeschreibliche Aufregung erfaßte die Bewohner des Schlosses.

Sophie und Mamsell betteten die noch immer halb Bewußtlose, sie rieben die froststarren Glieder, sie flößten ihr starken Wein und heiße Getränke ein.

Mechanisch, wie im Traum, ließ Benedikta alles mit sich geschehen.

»Gott im Himmel! Nicht mal Pelzschuhe hat sie angehabt! Das Leder ihrer Stiefelchen ist ganz hartgefroren in all dem Schneewasser!« jammerte Sophie.

»Die Füßchen sind fraglos erfroren!« stöhnte Mamsell leise auf.

Endlich kehrte etwas Wärme in den Körper zurück. Dick in Federbetten und Kissen gepackt lag Benedikta in dem mächtigen Himmelbett, von dessen geschnitztem Baldachin die grünseidenen Damastvorhänge, spitzenbesetzt, herniederflossen.

Mit leisem Aufseufzen schloß das junge Mädchen die Augen.

»Wenn sie nur in Schweiß kommen wollte!« – rang Sophie die Hände.

»Still – still – sie schläft ein.«


Welch eine schreckliche Nacht! Die Eiseskälte in Benediktas Körper wich rasender Fieberglut. Kopf und Gesicht schwollen hoch auf. Namenlose Schmerzen ließen die Unglückliche durch ihre wilden Phantasien hindurch gellend aufschreien.

Gegen Morgen erst fuhr der Wagen des Arztes in den Hof.

Fräulein Dallberg fand er sehr frisch, wohl und gesund wie einen Fisch im Wasser, aber an dem Lager des Fräulein von Floringhoven stand er momentan in ratloser Bestürzung.

»Wird es die Kopfrose, Herr Doktor?« schluchzte Sophie; »ach du barmherziger Gott, der ganze Kopf glüht ja dunkelrot wie Feuer – und schwillt auch schon auf – oh, und dieses Fieber! Man brennt sich ja, wenn man die Händchen anfaßt!«

Der Arzt zuckte die Achseln. »Abwarten! Auf alle Fälle haben wir es mit einer sehr schweren und sehr ernsten Erkältung zu tun. Hat das gnädige Fräulein öfters an Ohrenschmerzen gelitten?«

»Ach ja, ja, gewiß! Als Kind sehr viel sogar! In den letzten Jahren war es besser; nur einmal kam nach zu langem, kaltem Bad ein Ohrengeschwür.«

»Hm, hm, – so haben die Schmerzen, unter denen die Kranke leidet, fraglos ihren Sitz in den Ohren. Hm, sehr übel, sehr übel!« –

Man hatte dem Minister, der sehr müde und angestrengt von dem Jagddiner heimkehrte, nichts von der Erkrankung Benediktas gesagt; er hatte sich frühzeitig zur Ruhe begeben und ahnte es nicht, daß wenige Zimmer von ihm entfernt der Arzt die ganze Nacht hindurch am Schmerzenslager seines Lieblings wachte, daß ein reitender Bote noch zu spätester Stunde in die Apotheke zur Stadt jagte. –

Benedikta war schwer erkrankt. Die ganze Wucht der Erkältung hatte sich auf das Köpfchen geworfen, und die unbeschreiblichsten Qualen eines entzündlichen Ohrenkatarrhs, begleitet von Geschwüren, schüttelten den jungen Körper, als sei er nicht in weiche Daunen, sondem auf den schrecklichsten aller Marterroste gebettet.

Tagelang hegte der aus der Residenz telegraphisch berufene Medizinalrat die ernstesten Besorgnisse. Dann hatte endlich das Fieber ausgetobt und ließ nach, der schwache Schimmer von Bewußtsein stärkte sich, man sah es dem Blick der großen Augen an, daß Benedikta ihre Umgegend wieder erkannte und an deren Tun und Walten Anteil nahm.

»Sophie!« – flüsterte sie.

Die Alte trat geschäftig hinzu, neigte sich über das Bett und küßte zärtlich die bleichen, abgezehrten Hände der jungen Herrin.

»Ach Baroneß, wie schön, wie schön, daß Sie mich wieder rufen! Wie wird sich Exzellenz freuen!«

»Warum seid ihr alle so furchtbar still und leise, Sophie? Bin ich denn so sehr krank?«

»Keine Spur, Baroneßchen! Ein wenig Ohrenschmerzen, das geht alles vorüber, bis wir auf der Hochzeit tanzen!«

»Warum bewegst du immer die Lippen und redest nicht?«

..Ich? Ei du mein Himmel, – ich spreche ja!«

Erregt richtete sich Benedikta auf und umklammerte die Hand der alten Frau: »Sophie! Um Gottes Barmherzigkeit – sprich zu mir!«

Die Matrone entfärbte sich: »Herzchen! Kindchen! Ich rede ja! Rede in einem fort! – Hören Sie mich denn nicht?«

Da gellte ein Schrei der Verzweiflung durch das Krankenzimmer. Die gefalteten Hände wie in namenlosem Entsetzen hebend, sank das junge Mädchen in die Kissen zurück.

»Sophie! – Ich bin taub!«

Der Jammerruf fand ein Echo im Munde der Getreuen. Alles Blut wich aus den Wangen der Kammerfrau. Mit gerungenen Händen sank sie neben dem Bett nieder. »Das verhüte Gott im Himmel, Sie armes, armes Unglückskind!«

Die Türvorhänge regten sich. Der Arzt trat ein. Sein schreckverstörtes Gesicht bewies es, daß er Zeuge der kurzen Unterredung gewesen.

Mit bebenden Händen nahm er, soweit wie es bei dem jetzigen Zustand der Kranken möglich, eine Untersuchung der Ohren vor, – er forschte, prüfte – und alles ergab nur die eine, entsetzliche Tatsache – Benedikta hatte das Gehör verloren.

Tränen stürzten aus den Augen des Ministers, als ihm die furchtbare Mitteilung schonend beigebracht wurde, er neigte das weißhaarige Haupt auf die gefalteten Hände und weinte bitterlich.

Der Arzt suchte ihn zu ermutigen. Er versicherte, daß aller Wahrscheinlichkeit nach das Leiden nur ein vorübergehendes sein werde, daß ein tüchtiger Spezialist es fraglos heben würde,– – umsonst, der alte Mann weinte leise und haltlos vor sich hin.

Das war der Todesstoß, der den morschen Stamm bis in das Mark des Lebens traf.

An demselben Tage brachten die Zeitungen eine Notiz unter der Rubrik: »Hofnachrichten. Prinz Percy zu X.X., zweitältester Sohn des Herzogs von X., der kürzlich, anläßlich einer Perforcejagd zu Altenfähre, das Unglück hatte, mit dem Pferde zu stürzen, ist von seinen leichten Verletzungen vollständig heigestellt, so daß sich der hohe Herr nach wie vor seinen wissenschaftlichen Studien mit bekanntem Eifer widmen kann.«


Marga war abgereist. Nach einem Ausbruch leidenschaftlicher Verzweiflung, der sie stets von neuem vor dem Krankenlager Benediktas auf die Knie zwang, unter herzbrechendem Weinen die schlanken Hände der Freundin zu küssen.

Nachdem sich das erste Entsetzen, die erste Verzweiflung gelegt, überkam die Kranke eine tiefe, starre Resignation, die in den ersten Tagen noch Tränen, bald aber weder diese, noch Seufzer mehr kannte.

»Kann ich nie wieder einen Laut auf Gottes Welt hören?« fragte sie den Arzt mit tiefumflortem Blick. Der Medizinalrat kritzelte ein paar Worte auf die Tafel, die neben dem Bett auf kleinem Marmortischchen lag.

»Gewiß werden Sie es, Baroneß; sowie Ihre Erkältung gehoben, bessert sich das Gehör, und sowie Sie fähig sind zu reisen, konsultieren wir einen Spezialisten, der Sie fraglos wieder herstellen wird.«

Ein Aufatmen hob die Brust des jungen Mädchens. Sie klammerte sich fest an diese Hoffnung, und die Tafel mit den tröstenden Worten glich einem Stern, der sanftes Licht in tiefer Dunkelheit verbreitet.

Die kurzen, trüben Wintertage zogen langsam dahin, und Benedikta lag still und geduldig in den Kissen, mit weit offenen Augen vor sich hinträumend. Oft huschte ein kurzes, seliges Lächeln um ihre Lippen. Das schöne, ernste Antlitz leuchtete wie verklärt, und wenn Sophie es zufällig bemerkte, seufzte sie tief auf: »Welch schöner Traum mag dem armen Kinde wohl vorgaukeln?«

Ja, es war ein schöner Traum. Stets ein und derselbe, der Traum, der doch eine so traurige, unglückselige Wahrheit gewesen.

Alle ihre Gedanken kreisten nur noch um ein Ereignis, um jenes Unglück auf der schneesturmumbrausten Heide, um die Gestalt jenes Fremden, den sie rettete, um sich selber und ihr ganzes Lebensglück dabei aufzuopfern.

Rettete sie ihn wirklich? Wie mag es ihm gehen? Ist er hergestellt von seinen Verletzungen, oder liegt er, gleich wie sie, still und freudlos auf dem Schmerzenslager zu Altenfähre, um von dem schwarzäugigen Mädchen zu träumen, dem er Leben und Gesundheit verdankt? Oder haben Fieber und Bewußtlosigkeit jede Erinnerung daran verwischt? Ahnt er nichts mehr von den einzelnen Umständen seiner Rettung? Erzählt ihm niemand – und forscht er bei keinem, wie er nach Altenfähre zurückgekommen, welch ein Schlitten es gewesen, der ihn barmherzig aufgenommen?

Keine Antwort auf alle diese brennenden Fragen ihres Herzens. Still – grauenvoll still.

Sie sieht, wie der Uhrpendel sich regt, aber sie hört kein Ticken; sie sieht, wie die Bäume vor den Fenstern sich biegen und schnellen, – aber sie hört nichts sausen und brausen.

Mamsell tritt ein und bringt das Frühstück, – aber die Kranke hört weder einen Schritt noch das Klirren und Rasseln des Porzellans und Silbers.

Unbeschreiblich qualvolle Ruhe um sie her.

Nur einmal, einmal wieder eine menschliche Stimme hören! Nur einmal noch am Flügel sitzen und spielen und singen können, nur einmal im Leben seines Mundes Worte in sich aufnehmen können wie einen Klang aus besserer Welt!

Er! Immer wieder er! Keine Gedanken mehr ohne ihn.

Sie möchte nach ihm fragen, sie möchte für ihr Leben gern seinen Namen erfahren und wissen, wie es ihm geht!

Aber eine unerklärliche Scheu schließt ihr die Lippen. Etwas Ungünstiges, Beängstigendes über sein Befinden hören, würde sie zur Verzweiflung bringen.

Sie graut sich auch davor, zu sprechen, ohne ihre eigenen Worte zu hören.

Wollte sie doch genesen! Wollte diese unnatürliche Schwäche und Kraftlosigkeit doch endlich weichen, damit sie die Reise zu dem Spezialisten antreten kann! Eine fieberische Ungeduld erfaßt sie.

Das günstige Zeichen, daß die unangenehm sausenden und kochenden Geräusche im Ohr nachlassen, erfüllt sie mit zitternder Freude.

Seltsam, sie, die vor wenig Tagen noch so gleichgültig und resigniert in die Welt blickte, sie, die von der Zukunft weder Glück noch Erfüllung ihrer Wünsche erhoffte, sie denkt und sinnt plötzlich nichts andres mehr, als wieder in den Vollbesitz ihrer jugendfrischen Sinne, ihrer gesunden Glieder, ihrer jungen, strahlenden Schönheit zu kommen!

Warum?

Wenn sie ihre Gedanken ausspinnt, so werden sie zu duftigem Schleier, der ein bräutlich Haupt umwallt. Anders, ganz anders wie früher. Leben und Welt locken sie plötzlich an wie mit Zaubergewalt. Sie kennt nur noch einen Wunsch – ihn, jenen Fremden, Namenlosen, wiederzusehen; sie kennt nur noch ein Verlangen: ihm alsdann auch zu gefallen!

Und jetzt, gerade jetzt, wo all ihre Sehnsucht und ihr leidenschaftliches Wünschen sie hinaus in den bunten Strom des Lebens zieht, – jetzt, wo sie mehr denn je jung, gesund und lebensfrisch sein möchte, – jetzt muß sie abgestorben, invalide und ausgestoßen von der menschlichen Gemeinschaft hier in der Einsamkeit von Floringhof dahinsiechen. Taub! Taub!

Sie will es nicht sein! Sie kann es nicht sein!

Ihre ganze Seele sträubt sich dagegen. Ein Schrei der Verzweiflung ruft nach ihrem gemordeten Glück, nach ihrer vernichteten Jugend.

Sie will leben – für ihn! – Sie will glücklich sein – mit ihm! Sie will hören – aus seinem Munde das einzig süße Wort, das all ihr Denken und Träumen erfüllt.

Der Arzt redet ihr zu, er tröstet, er stärkt sie in der Hoffnung, und Benediktas Wangen färben sich zum erstenmal wieder mit einem rosigen Schimmer der Freude, als sie das Bett verlassen und ein paar Stunden im Sessel zubringen darf.

Das rückt sie dem Ziel schon um ein Bedeutendes näher. Wie hell das Feuer im Kamin lodert, wie die Funken emporsprühen und gleich einem Sternschnuppenschwarm einherwirbeln! Benedikta läßt das Buch sinken, in dem sie gedankenlos geblättert, und schaut sinnend in die Feuersglut hinein.

Sie hört nicht, daß sich die Tür öffnet, sie hört nicht, daß Schritte näher kommen, – sie lächelt vor sich hin und denkt: wie mag der Fremde heißen? Er gehörte zu den Gästen auf Altenfähre, er muß ein Offizier oder ein Kavalier von Hof sein. Was ist er wohl – und wer ist er? – Arm oder reich? – Das ist gleichgültig, Benedikta fragt nicht nach Namen und Mitteln, sie hat in dem schönen, edlen Angesicht gelesen, daß dieser Mann der Reichste an stolzer Tugend, der Vornehmste unter den Besten seiner Zeit sein muß. – Ein Schatten fällt gegen die weißen Porzellankacheln des Ofens, und Baroneß Floringhoven wendet langsam das Köpfchen.

Jean Baptiste steht neben ihr. Sein altes vertrocknetes Gesicht blickt kummervoll auf die schlanke Gestalt, die in dem weißen Kaschmirmorgenkleid so zart und leidend, wie der Getreue es nie für möglich gehalten, aussieht.

Er verneigt sich und bietet ihr die kleine Tafel entgegen.

Mit der andern Hand hält er einen Brief auf silbernem Tablett.

Benedikta neigt sich über die Tafel und liest, was Jean für sie aufgeschrieben.

»Gnädigste Baroneß. Ich habe schon seit zwei Tagen einen Brief für Exzellenz in Empfang genommen. Er trägt einen Namenszug mit Fürstenkrone und den Vermerk: ›Herzogliche Angelegenheit‹. Ich wage darum nicht, den Brief zu öffnen. Nun kann ich aber Exzellenz auch nicht dazu bewegen, es zu tun. Der alte Herr ist vollkommen stumpfsinnig geworden und schiebt den Brief immer wieder zurück. Da es etwas Eiliges sein könnte, erlaube ich mir nun, Baroneß zu bitten, das Schreiben gütigst öffnen zu wollen.«

Jean Baptiste war ein gewandter Schreiber gewesen, aber es deuchte Benedikta, als ob seine Schrift sehr viel zittriger als früher ausschaue.

Sie nickte ihm freundlich zu und griff nach dem Schreiben, einen aufmerksamen Blick auf die Initialen des Umschlages werfend. Ein Ordensband schlang sich zum Ring, eine lateinische Inschrift tragend. Ganz klein inmitten zwei verschlungene Buchstaben, und über dem Ganzen die geschlossene Fürstenkrone.

Eine klare, große, sehr ruhige und feste Schrift, aber keine Schreiberhand.

Nach kurzem Zögern öffnet Benedikta das steife Papier.

Ein elfenbeinfarbener Bogen, ebenfalls die Initialen des Umschlags, klein und anspruchslos, nicht mehr als einen Stempel tragend, klappt unter ihren schlanken Fingern auseinander.

»Exzellenz, hochzuverehrender Herr Minister!

Durch meine Krankenwärter habe ich in Erfahrung gebracht, daß ich Ew. Exzellenz sowohl wie Dero hochzuverehrenden Baroneß Enkelin zu ganz besonderm Dank verpflichtet bin. Während ich durch den Sturz von dem Pferde bewußtlos auf freiem Felde gelegen, hat Baroneß Floringhoven die unendlich liebenswürdige Barmherzigkeit geübt, mich in ihrem Schlitten nach Altenfähre befördern zu lassen. Leider machte es mir meine beschleunigte Abreise in die Klinik des Professors Dr.B. unmöglich, persönlich meinen Dank im Hause Ew. Exzellenz abstatten zu können, und hole ich denselben nunmehr auf schriftlichem Wege in verbindlichster und erkenntlichster Weise nach. Wollen Ew. Exzellenz die große Liebenswürdigkeit haben, mich Baroneß Floringhoven voll dienstwilliger Verehrung angelegentlichst zu empfehlen, und die Versicherung meiner vorzüglichsten Hochachtung zu genehmigen, mit der ich stets verbleibe Ew. Exzellenz aufrichtig ergebener

Percy, Prinz zu X.X.

Das steife Briefblatt wankte und zitterte wunderlich in der Hand der Lesenden.

Sie hob, wie unter gewaltsamer Anstrengung, das leichenfahle Antlitz und befahl Jean mit kurzer Handbewegung, sich zu entfernen.

Betroffen starrte der Alte in die jäh veränderten Züge seiner Herrin, aber er befolgte gehorsam ihren Wink und trat wie ein lautlos gleitender Schatten zur Tür zurück.

Benediktas gläserner Blick folgte ihm, bis sich die weiße, goldgeschnitzte Tür hinter ihm geschlossen. Dann sank ihr Oberkörper mit einem Aufstöhnen schwer vornüber, sie legte die Arme auf den kleinen Marmortisch, drückte das Antlitz darauf und weinte, weinte wie ein Mensch, der seine ganze Seele in den Tränen ausströmen lassen möchte.

Sie merkte es nicht, daß Sophie mit angstvollem Gesicht in das Zimmer schaute, minutenlang die Schluchzende voll hilfloser Angst anstarrte und sich langsam wieder zurückzog; sie merkte es nicht, daß der Zeiger auf der Uhr weiter vorrückte, daß die Nebelschleier der Dämmerung sich über das stille Turmgemach senkten.

Als sie das Haupt endlich wieder hob, war ihr junges Antlitz verändert. Eine steinerne, leblose Ruhe lag auf den schönen, bleichen Zügen.

Sie strich langsam über die Stirn und griff abermals nach dem Brief und blickte darauf nieder – lang und regungslos. Und dann hob sie ihn mit zitternder Hand und küßte den Namen Pery, wie man die Stirn eines teuern Toten küßt.

Prinz Percy! – Ja, ein Prinz Percy war tot für sie – tot und unerreichbar, wie die lichtverklärten Gestalten, die unsre Liebe und unsre Sehnsucht in einer fernen, bessern Gotteswelt suchen muß. Prinz Percy – ihn hatte sie gerettet – ihn! Um hohen Preis!

Wahrlich so hoch? Vor ein paar Stunden noch hat sie es geglaubt, jetzt lächelt sie wehmütig und schüttelt das Haupt mit den tränenmüden Augen.

Nein, nun deucht sie ihr Elend keiner Klage wert. All die törichten Wünsche und Hoffnungen, die ihr Herz an den unbekannten geknüpft, sanken haltlos vor einem Prinzen Pery zusammen, wie Schatten vor der Sonne zerrinnen.

Wenn eine Baroneß Floringhoven einen herzoglichen Prinzen liebt, so ist es gleichgültig, ob sie hören kann oder nicht, ob sie zu sehen vermag, oder ob sie blind geworden.

Der Abgrund, der sie trennt, ist so breit und so schwindelnd tief, daß es gleichgültig ist, ob eine gesunde, blühende Schönheit an seinem Rande steht, oder ein unglückliches, gebrochenes Bild des Jammers; eine wird dem Prinzen Percy so fern und gleichgültig bleiben wie die andre.

Nun, da Benedikta weiß, wer zu ihrem traurigen Schicksal geworden, empfindet sie ihr Unglück beinahe wie eine milde Tröstung.

Ein freundlicher Engel war an ihr Lager getreten und hatte seine Hände weinend auf ihr Ohr gelegt, es bei Welt und all ihren verwirrenden Klängen und Weisen zu verschließen.

Da sie doch niemals den Laut höchster Beseligung von den Lippen des Geliebten hören konnte, brauchten auch die Mißklänge der Welt nicht die Grabesruhe zu stören, in der ihr Herz nun liegen und träumen sollte.

Und diese Resignation und das freundliche Fügen in ein unabwendbares Schicksal schienen anzudauern, ja sie traten stets augenfälliger zutage, je weiter die Besserung in dem körperlichen Befinden der Kranken fortschritt.

Marga hatte es natürlich auch erfahren, daß der Verunglückte Prinz Percy gewesen. Sie schrieb ganz begeistert von der kühnen Tat Benediktas, die der Welt einen so vorzüglichen, hervorragend tüchtigen Mann erhalten.

»Denken Sie doch nur, liebste Benedikta, der Prinz wohnt jetzt hier in der Residenz, um in der Privatklinik des Professors H. umfangreiche medizinische Studien zu machen. Daß er aus Passion schon seit Jahren Medizin studierte, wissen Sie doch wohl. Er hat sogar ein glänzendes Doktorexamen gemacht, und seine Lehrer und die Universitätsprofessoren sollen ganz erfüllt von seiner hohen Begabung und seinen beinahe außergewöhnlichen Kenntnissen sein. Mein Gott, ein Prinz als Arzt! – Wenn man sich so etwas denkt! Da gehört doch wirklich Passion dazu, um in einer derartigen Stellung sich mit den aufreibendsten Studien abzuquälen. Gestern war er in der Oper. Leider hatte ich nur eine kleine Partie zu singen, dafür aber in den Zwischenpausen Zeit, durch den Vorhang zu gucken! Ihr Prinz Percy interessiert mich natürlich sehr. – Schön kann ich ihn nun zwar absolut nicht finden, höchstens die hoheitsvolle Figur, die sich gestern besonders gut präsentierte. Er trug die Uniform der Gardeulanen. Sein Gesicht ist fabelhaft geistreich und interessant, er sieht so sehr liebenswürdig aus, aber hübsch finde ich ihn nicht. Oder lag es an der Beleuchtung, daß er so elend aussah, – vielleicht auch etwas überarbeitet. Er blickte so viel unter sich, machte die Augen gar nicht recht auf – wenn er mit Königin-Mutter sprach, neigte er den Kopf immer sehr tief. Aber die Unterhaltung schien sehr angeregt und interessant.« Und dann brach Marga ab und berichtete von Roman Ermönyi.

Strahlend, jubelnd vor Entzücken. Er sei in hohem Grade aufgeregt und entsetzt gewesen, als er von der schrecklichen Schlittenaffäre gehört habe. ›Herr des Himmels, Marga! Wenn du anstatt der beklagenswerten Baroneß taub geworden wärest. Deine ganze Karriere wäre ja vernichtet gewesen!‹ – hatte er tödlich erschrocken ausgerufen und sie alsdann beschworen, sich nie wieder derart in Gefahr zu begeben! – »Als ob mir solch ein Unfall nicht bei jeder Reise zustoßen könne! – Sie glauben nicht, Benedikta, wie über alle Begriffe Roman verliebt ist! Wenn ich ihm aus der neuen Oper meine Partie vorsinge, ist er wie rasend! Er behauptet, meine Stimme entwickle sich unter der vortrefflichen Schule der Madame Astot zauberhaft! – Ich glaube es in gewisser Beziehung auch, denn der Intendant will mir nächsten Winter größere Partien geben, und das Publikum zeichnet mich durch immer lebhafteren Applaus aus.«

Die Berichte über Prinz Percy interessierten Benedikta auf das höchste. Ihre Phantasie beschäftigte sich in ungeschwächt lebhafter Weise mit ihm, und jede neue Anregung war ein unerschöpflicher Quell des Sinnens und Träumens für sie.

Seine medizinischen Studien verfolgte sie voll lebhaften Eifers, ihre Bewunderung und Verehrung gesellte sich zu der schwärmerischen Liebe, mit der sie sein Bild umgab.

Ein Bild aber, das sich lediglich beim flüchtigsten Sehen im Auge gespiegelt, verblaßt und verschwimmt mit der Zeit, und so angstvoll sich auch Benedikta bemühte, es festzuhalten und stets aufs neue dem Gedächtnis einzuprägen, bemerkte sie es doch selber mit sorgender Angst, daß es ihr immer unklarer dahinschwand.

Welch eine unbeschreibliche Aufregung und Glückseligkeit erfaßte darum das einsame junge Mädchen, als im Laufe des Frühlings ein großer, beschwerter Brief von Marga eintraf, aus dessen Umschlag eine Photographie auftauchte.

»Percy! – Percy!« – rang es sich in lautem Jubelschrei jählings von Benediktas Lippen.

Nach einer kurzen Andeutung, daß Roman die Stelle eines ersten Kapellmeisters in einer großen süddeutschen Residenz angeboten bekommen habe, die er auch annehmen wolle, wenn seine Oper reüssiere und Marga einen derartigen Triumph verzeichne, daß sie an besagter süddeutscher Oper als erste Sängerin engagiert werde – springt »das Kind« ohne jeden Übergang zu dem Thema Percy über.

»Soeben sah ich in einer Buchhandlung das ausgezeichnete Bild des Prinzen stehen. Da er Sie wohl immer noch interessiert, sende ich es Ihnen mit, liebe Benedikta. Ich fahndete schon so lange danach, aber Monseigneur Percy scheint kein Freund vom Photographenkasten zu sein. Jetzt, wo alle Welt seine mutmaßliche Verlobung mit unsrer verwitweten Kronprinzessin bespricht, muß er sich wohl oder übel ausstellen und besichtigen lassen! – Ich bin sehr gespannt, ob diese besagte Verlobung zustande kommt, glaube es eigentlich nicht. Sie passen so gar nicht zusammen! Er so ernst und, wie man sagt, etwas weiberfeindlich beanlagt, voll großer, menschenbeglückender Pläne, und sie – ein doch etwas oberflächliches, lebenslustiges, blutjunges Wesen, das nie an seinen Bestrebungen teilnehmen würde. Je nun, oft finden sich ja gerade die grellsten Gegensätze, und ein Prinz und eine Prinzessin werden bekanntlich nicht lange gefragt, ob sie wollen – sie müssen!«

Ein tiefer Atemzug hob die Brust der Lesenden; ihr Antlitz war wieder erbleicht, und die Augen hatten den strahlenden Glanz verloren.

»Ja – sie müssen.« – Ob früher oder später – Prinz Percy wird eine Prinzessin heimführen, und Benedikta von Floringhoven wird lächelnd die Hände falten und für sein Glück beten.

Muß sie nicht seine Heirat als etwas ganz Natürliches und Selbstverständliches erwarten? Kann sie es verhindern, daß droben am Himmel zwei Sterne ihre Strahlen ineinanderflechten?

Jener unbekannte Reiter, den sie einst blutend und bewußtlos im Arm gehalten, der gehört ihr für alle Ewigkeit, Prinz Percy aber, der gesunde, lebensfrische Sohn des Fürstenhauses, gehört dem Vaterland und seinen dynastischen Interessen. –

Der Arzt drang mehr denn je darauf, einen Spezialisten zu konsultieren. Professor X. in der Residenz sei ein ganz hervorragender Gelehrter, ein Beweis dafür sei es doch wohl, daß Prinz Percy eine Zeitlang bei ihm studiert, ja, gewissermaßen als Assistenzarzt bei ihm in der Klinik tätig gewesen sei.

Benedikta zuckte unmerklich zusammen. »Und ist er noch immer daselbst beschäftigt?« fragte sie mit abgewandtem Köpfchen.

»Der Prinz? Gott bewahre! Lasen Sie nicht in der Zeitung, daß er zur Zeit in Wien seine Kenntnisse erweitern will, Baroneß?« kritzelte er eifrig auf das Täfelchen und bemerkte dadurch nicht das feine Rot, das die Wangen seiner Patientin überhauchte. »Wie man allgemein glaubt, um dem Gerede wegen seiner Vermählung aus dem Wege zu gehen! Wunderliche Passion eines solch hohen Herrn, derart rastlos zu studieren. Wie man sagt, will er seine Wissenschaft später in den Dienst der leidenden Menschheit stellen und aus seinen eignen Mitteln eine Armenklinik bauen, der er persönlich vorsteht. Ein Sonderling, dieser Prinz! Aber ein ganz vortrefflicher.«

»Er ist Chirurg?« fragte Baroneß Floringhoven, sich beim Lesen sehr tief niederbeugend.

Wieder flog der Stift über die Tafel in des Arztes Hand.

»Bis jetzt schien ihn die Chirurgie besonders zu interessieren, dann wandte er sich eine Zeitlang sehr auffällig den innern Krankheiten, namentlich den Erkrankungen des Hirns zu. Er studierte eigentlich bei allen Fachmännern, ohne sich bislang für eine Spezialität zu entscheiden. Er soll es aber im Sinne haben, und ich glaube, daß die Chirurgie den Sieg davonträgt.«

»Ein Zeitpunkt ist dafür noch nicht angegeben?«

»Wie wäre das möglich! Ein Prinz ist nicht so frei und unabhängig wie unsereiner. Da sprechen gar zu viele andre Dinge mit, z.B. seine eventuelle Vermählung, seine militärische Karriere, die er auf Wunsch des Regenten auch nicht völlig vernachlässigen soll, usw.!«

Der Schreiber hielt inne, reichte das Täfelchen seiner Patientin herüber und erhob sich, um dem Minister entgegenzugehen, der, auf Jeans Arm gestützt, in das Zimmer trat, um die eventuelle Abreise Benediktas in die Klinik des Spezialisten zu besprechen.


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