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Im Strandbad

Das war letzten Sommer vor einem Jahr, daß ich in der Romagna jene wunderschöne junge Frau in der Gesellschaft eines einnehmenden, ebenfalls noch jüngeren Mannes, eines tüchtigen Architekten, am Strande traf. Allem Anschein nach waren sie früher nicht miteinander bekannt gewesen, erst vor wenigen Tagen an der See, hier im Bade, hatten sie sich kennen gelernt. Wenigstens sagten sie so, ich glaubte es auch und glaube es noch. Es mochte seit der Ankunft des Architekten nicht viel mehr als eine Woche verstrichen sein, und daß sie einander schon vorher, in der Heimat oder an irgendeinem anderen Orte begegnet sein sollten, halte ich für wenig wahrscheinlich. Weshalb hätten sie es leugnen sollen? Wäre es wirklich der Fall gewesen – damals hatten sie sicher noch keinen Grund, es abzuleugnen, davon bin ich fest überzeugt.

Es gibt eben eine natürliche Übereinstimmung der Charaktere, die sich schon beim ersten, wenn auch noch so flüchtigen Bekanntwerden kundtut. Wie von selbst ergeben sich Berührungspunkte, unerwartet begegnet man einem Verständnis, das überrascht und beglückt, im Kleinen wie im Großen weiß man sich eins. Und schon beim zweiten oder dritten Beisammensein überkommt uns das wohlige Gefühl, mitten in der Fremde etwas wie eine Heimat zu besitzen.

Wenn sie an seiner Seite hingestreckt im Dünensand ruhte, während ihre reizenden Kinder, zwei blondgelockte Mädchen von vier bis sechs Jahren, mit nackten Beinchen ab und zu liefen, ins Wasser planschten, kleine Kähne schwimmen ließen oder mit hölzernen Schaufeln Burgen und Wälle aufbauten, so hatte man sie leicht für seine Frau halten können, es schien, als gehörten sie zusammen, als seien sie für einander bestimmt, als ließe sich eins ohne das andere gar nicht denken. Für ein junges Ehepaar hätte man die beiden halten können, das sich an diesem gottvollen Strande, unter der südlichen Sonne, im Anblick der blauen Unendlichkeit, eine Zeitlang dem heiteren Genüsse eines ungetrübten, von jedem Zweck erlösten pflanzenartigen Dasein überließ. Für himmlisch wunschlose Gatten, denen das bloße Seite-an-Seite-Weilen als Lebensinhalt genügte, für die zufriedenen Eltern der beiden entzückenden Engelsköpfe, deren kindliche Spiele sie mit glückstrahlenden Augen beobachteten, und denen sie an Schönheit kaum etwas nachzugeben schienen. Denn die freie Luft, der Hauch des Salzwassers, die lebenspendende Sonne hatte ihre Haut gebräunt, ihr Fleisch erblühen machen, den Zauber der Gesundheit über ihre Glieder ausgegossen und auch den Architekten, der beträchtlich älter war als Frau Agathe, mit dem Götterglanz jener unverwelklich scheinenden Jugend umkleidet, der man in den olympischen Gefilden dieses einzigen Küstenstriches manchmal begegnet.

Es gab Leute, bei denen der Naturzustand ihres Zusammenseins Anstoß erregte. Zimperliche Gemüter, die verärgert die Augen zur Seite wandten, Sittenrichter, die ihr angemaßtes Amt mit so heiligem Eifer erfüllte, daß sie nicht umhin konnten, in der warmen Pracht edelgeformter Glieder, in der freien Schönheit der dem Licht und der Luft hingegebenen Körper Unheiliges zu wittern. Es nahm mich manchmal wunder, daß solch lüsterne Entrüstung nicht vor der Keuschheit des Meeres erröten mußte. Und ich bemitleidete alle engen Herzen, denen das Gefühl für jene jauchzende Seligkeit fehlt, mit der wir den Zwang einer tausendjährigen Heuchelei von Scheinkultur und Modetorheit abschütteln, um uns ein paar, ach so flüchtige, Augenblicke lang in den Himmelslüften eines erträumten paradiesischen Zeitalters zu erquicken und reinzubaden.

Das Meer macht uns freier, seine Unendlichkeit erlöst den Blick und die Seele aus ihrer Beschränkung, die großartige Ruhelosigkeit seiner ewig an den Strand rollenden Wogen beruhigt die kleingläubigen Sorgen und die nichtige Unruhe unseres eigenen Herzens. So nahe den salzigen Tiefen, aus denen die abenteuerlichen Urgestalten ans Land gekrochen sein mögen, auf die wir irgendwie unseren Stammbaum zurückführen, überkommt uns das Gefühl, der Mutterschoß alles Lebens näher zu sein als sonst. In dem eintönigen Rauschen, das die Gedanken unseres Alltags einschläfert, raunt das Geheimnis der Schöpfung. Und es fallen wie ein unnatürlich beengendes Gewand alle Beziehungen von uns ab, die nur durch Zwang und Not bestanden und mit der göttlichen Nacktheit unseres Wesens nichts gemein haben. Dann lachen wir des ängstlichen Mückenfluges, zu dem die Gesellschaft uns erziehen wollte, irgend etwas in unsrem Blut erinnert sich halbverschollener Verwandtschaften, spreitet Flughaut und Flossen und segelt mit der mastodontischen Unbekümmertheit riesenhafter Pterosaurier, mit der fröhlichen Verwegenheit ungestümer Ichthyopterygier durch Luft und Wasser...

In solcher Stimmung ungefähr kam ich den Strand entlang dahergegangen, und der feine Sand war von der Sonne so durchglüht, daß ich ein paarmal stillstehen und den Bademantel vor mich hinwerfen mußte, um die Fußsohlen abzukühlen. Unter einem leichten Zeltdach aus gestreiftem Zeug, das im scharfen Seewind knatterte wie eine pludernde Flagge, fand ich Frau Agathe und ihren Freund, während die Kinder unfern in den seicht auslaufenden Wellenrändern wateten und nach Muscheln suchten. Der Länge nach in die Düne hingestreckt und halb darunter vergraben, hatten die beiden ihre Aufmerksamkeit irgendeinem kleinen Lebewesen zugewendet, das auf dem Sande kroch. Als ich näher trat, luden sie mich ein, an ihren Beobachtungen teilzunehmen. Und neugierig, was es da wohl zu sehen geben sollte, gesellte ich mich zu ihnen.

Ein Skarabäus von jener fremdwüchsigen Gattung, wie sie den Ägyptern heilig waren und auch hier vorkommen, bemühte sich mit äußerster Anspannung seiner Kräfte, eine Kugel, größer als er selbst, durch den Sand zu wälzen.

Als ob er dafür bezahlt würde, schob er und stemmte sich und spannte sich vor und zog, wie ein Packträger etwa, der im Schweiße seines Angesichtes daran arbeitet, ein allzu schwer beladenes Handwägelchen vom Fleck zu bewegen. Bald tauchte er mit dem breiten Halsschild an wie ein stoßender Bock, bald packte er die Kugel mit den kleinen Krallen der Hinterfüße und rollte sie eifrig weiter, auf den vier freibleibenden Beinen verkehrt gehend und kräftig rückwärts hastend. Oder er faßte sie mit der Freßzange und schleifte sie leidenschaftlich hinter sich her wie ein Hund, der ein ungewöhnlich großes Stück Fleisch erbeutet hat und in Sicherheit bringen will. Der Trieb der Unterhaltung schien seine Kräfte zu verzehnfachen. Es ist bekannt, daß diese Kerfe ihre Eier in solche kleine Kugeln oder Klöße ablegen, die sie aus Tang und anderen verweslichen Stoffen herstellen, und daß sie ihre Lebensaufgabe nicht früher für erfüllt betrachten, als bis ein sicherer und trockener Aufbewahrungsort dafür ausfindig gemacht ist, der es den ausschlüpfenden Larven später ermöglicht, sich mit allem Behagen an den von den Eltern fürsorglich aufgespeicherten Vorräten zu nähren.

Gespannt sahen wir zu. Es war kurzweilig, das entschlossene Tier zu beobachten. Unglaublich rasch kam es vom Fleck und wälzte seinen Kloß wie einen Spielball immer weiter vom Wasser fort, gegen die ansteigende trockene Düne. Ohne es aus dem Auge zu lassen, verfolgten wir es, krochen ihm nach, auf allen vieren, zwischen den Stranddisteln, nur mit dem einen Gedanken beschäftigt, was es nun fürder anstellen, welchen Fortgang seine Arbeit nehmen, wie es sich etwa auftauchenden Hindernissen gegenüber verhalten würde. Sieh, da stand es vor einer Sandwächte still und konnte nicht weiter. Die Sandwächte war vielleicht nicht höher als eine Spanne, hatte aber einen steilen Abfall, der dem winzigen Geschöpf wie eine zum Himmel ragende Felswand vorkommen mochte.

Ratlos schien es zu überlegen, dann begann es unsicher umherzulaufen.

»Es läßt die Kugel im Stich!« klagte Frau Agathe enttäuscht.

Der Architekt, der mit aufgestemmten Armen im Dünensand lag, wendete keinen Blick von dem Käfer.

»Geduld, er muß sich bloß erst die Umgebung näher betrachten.« Wirklich schien es, als hätte das Tierchen sich entschlossen, vorerst einmal einen Augenschein aufzunehmen. Es lief seitlich um das Verkehrshindernis herum, umging es und kletterte den First der kleinen Sandstufe entlang. Dann kehrte es zurück, kletterte von der anderen Seite abermals hinauf, blieb stehen, drehte sich ein paarmal um sich selbst, putzte und scheuerte sich und reckte die Beine. Und schließlich fing es über der Stelle, wo die Kugel liegen geblieben war, zu wühlen an, daß der seine Sand von der oberen Kante herabrieselte und ins Rutschen geriet.

»Er gräbt die Stufe ab, um eine schräge Böschung herzustellen!« jubelte Frau Agathe.

Sie rief die Kinder herbei, ihnen das Wunder zu zeigen, und der wackere Skarabäus hätte sich nicht wenig geschmeichelt gefühlt, hätte er die anerkennenden Urteile belauschen können, die über ihn laut wurden. Denn alle bestaunten wir die Klugheit dieses unscheinbaren kleinen Lebewesens, das entschlossen grabend immer mehr und mehr seines Geriesel vom First der Sandwächte zum Abrutschen brachte, bis eine absteigende Böschung die Verbindung zwischen oben und unten herstellte. Und nun nahm es wirklich seine Last wieder auf, um sie unentwegt die zwar steile, aber immerhin gangbare Straße emporzuwälzen, die sich durch das Herabrieseln des Sandes gebildet hatte.

Wie so oft schien auch hier der bequeme und viel mißbrauchte Begriff des Instinkts unzulänglich. Oder sollte er wirklich eine ausreichende Erklärung für einen Vorgang zu liefern imstande sein, der so augenscheinlich ein Erkennen des Zusammenhangs zwischen Ursache und Wirkung voraussetzt?

Noch hatten wir beobachten können, wie das kleine Wundertier auf dem obersten, der Sonne am meisten ausgesetzten Kamm der Düne eine Höhle aushob und die kostbare Kugel, die soviel Zukunftshoffnungen barg, sorgsam darein versenkte. Damit war das Endziel erreicht, die Sendung erfüllt. Jetzt spreitete es die metallenen Flügel und surrte befriedigt durch die Sonne davon.

Weniges später, als wir wieder unter dem Zeltdach im Sande lagerten und uns am Anblick der unendlichen Bläue erquickten, kehrten unsere Gespräche noch einmal zu dem kleinen Erlebnis zurück. Es gewährt dem Menschen Genugtuung, die Erkenntnis der Tiere an seiner eigenen zu messen. Weniger hoffentlich aus Überhebung, die uns den Abstand von vornherein so unüberbrückbar erscheinen ließe, daß wir keine Beschämung unserer Eitelkeiten zu fürchten brauchen. Mehr gewiß und öfter deshalb, weil wir in der Tierseele die Anfänge und urtümlicheren Formen des menschlichen Geistes mit Dankbarkeit und Ehrfurcht wiedererkennen. Dann fühlen wir die innige Zusammengehörigkeit mit allem, was unter der Sonne atmet. Und ein Gefühl der Frömmigkeit hebt die Gedanken hoch hinaus über das begrenzte Ich und macht sie zu Ausstrahlungen einer göttlichen Allheit.

In jedem Wort, das damals gesprochen wurde, schwang diese Frömmigkeit mit. Und sie war echt und erlebt. Es bedarf keiner großartigen Himmelserscheinungen, sie auszulösen, das Unscheinbarste genügt, wenn die Saat bereiteten Boden trifft. Unsere Herzen standen weit offen, das Einssein des Menschen mit der Natur als beglückende Wirklichkeit zu empfinden. Ein Garten Eden, breitete rings das grüne Land sich bis zu den Bergen, das dunkelblaue Meer rauschte zu unseren Füßen, ein scharfer Wind von unbeschreiblicher Reinheit wehte Kühlung über die auf glühender Düne hingestreckten Leiber. Alles Denken erschöpfte sich restlos im Sein, kein Sollen beengte uns ...

Als schließlich das Gespräch eine Wendung ins Scherzhafte genommen hatte, kam der Architekt nochmals auf den Skarabäus zu sprechen. Und indem er seiner übermütigen Laune die Zügel schießen ließ, erging er sich in uferlosen Behauptungen und weit hergeholten Vergleichen.

»Er handelt schließlich nicht viel anders,« sagte er mit der ernsthaftesten Miene von der Welt, »als wie ein Weib, daß sich guter Hoffnung fühlt und entsprechende Vorbereitungen trifft.«

»Pfui, schweigen Sie!« lachte Frau Agathe auf. »Wollen Sie uns daran erinnern, um wieviel besser die Natur für das geringste aller Geschöpfe sorgt als für den Menschen?«

»Die Menschenmutter,« beharrte er, »ist nichts anderes als die Natur selbst, die für die Nachkommenschaft sorgt. Sie versieht sich mit dem nötigen Weißzeug und was sonst zur Kinderausstattung gehört, schaut nach einer gesunden, sonnigen Wohnung aus, wenn die ihrige im Schatten liegt, und sucht sich allenfalls noch rasch einen Trauschein zu verschaffen, falls sie zufällig noch keinen besitzen sollte.«

In seiner Ausgelassenheit fuhr er fort, den Vergleich noch weiter auszuspinnen, uns reizte es, ihn zu überbieten, alle drei wurden wir immer kühner, verblüffender, unmöglicher. Lachend sprangen wir schließlich auf und rannten in tollen Sätzen über die heiße Düne. Wie aus Rand und Band geraten, liefen wir gegen das Wasser. Und indem wir uns jauchzend in die heranrollenden Wellen stürzten, überließen wir uns einer himmlischen Heiterkeit.

*

Gelegentliche Ausflüge ins Hinterland waren voll Zauber. Die Weinrebe blühte rings um die schon goldig reifen Kornfelder, ihre üppigen Ranken schwangen sich den Maulbeerbäumen entlang, die jedes Geviert umsäumten, von Stamm zu Stamm, wie festliche Laubgewinde.

Einmal standen wir an einer Römerbrücke, die der Zeit trotzend mit kecken Sprüngen den Fluß übersetzt. Eine jener endlosen Heerstraßen zieht darüber hin, in deren weitmaschigem Netz eine rücksichtslos unterjochte Welt zappelte. Staub wirbelt auf, hüllt Menschen, Tiere und Ferne in Wolken von weißem Dunst, schlägt sich auf Kleider, Wimpern und Lippen. Wußtest du nichts von der Reinheit des Meeres, altersgraue Geschichte, nichts vom Frieden des Strandes?

Ein andermal, bei sinkender Sonne, suchten und fanden wir zwischen üppigen Kulturen, den heiligen Symbolen von Brot und Wein, das ragende Mal aus Stein, vom frühen Christentum wie für die Ewigkeit gefügt. Alte Feigenbäume, in dunkelblaues Laub gekleidet, stehen als Trauerwachen herum, ein blühender Granatbaum, vom roten Blut Odoakers bespritzt, schreit nach Rache. Die Granatbäume blühen so durch das ganze Land, Blut forderte Blut. Amalaswintha hat für Odoaker bezahlt, und Theoderich, ihr heldenhafter Vater, schlummert längst nicht mehr unter dem riesigen Monolithen, den Rosen und Glyzinien umranken. In alle Winde gestreut, schweben die letzten Atome seiner Asche vielleicht in jener endlosen Wolkenbank aus weißem Staub, den ein sausendes Automobil quer durch die grüne Ebene türmt.

Der Architekt hatte seinen Maßstab mitgebracht und wollte sich davon überzeugen, ob die bronzenen Gitter von Aachen wirklich in die betreffenden Steinfugen von Theoderichs Fürstengruft passen und Raubstücke sind, die irgendein Karolinger dem wehrlos gewordenen Helden aus dem Grabmal reißen ließ. Die absichtliche Geschäftigkeit, mit der er sich an die Arbeit machte, schien Frau Agathe zu verstimmen. Vielleicht beeinträchtigte sie ihr die Weihe des Ortes, der wie erfüllt von süßen Elegien war.

Oder sehnte sie sich aus der vom Moder der Geschichte umwitterten Umgebung in die sonnige Unberührtheit des Strand-Paradieses zurück?

Alle Mutmaßungen waren außerstande, die grauen Schleier von Niedergeschlagenheit zu lüften, die sie an diesem Abend umhüllten. Aber wie sie jetzt, vom Grabmal des Sagenkönigs sich abwendend, zur fernen Gebirgswand ausblickte, über der gerade der letzte Strahl des sinkenden Gestirns funkelte, erschrak ich. Was sich in den schärfer gewordenen Zügen spiegelte, war nicht mehr harmloses Sein, es war krampfhaftes Sollen. Hier gab es Seelenkämpfe. Und ich fragte mich, ob die Allzuwachsamen, die allerlei flüsterten, am Ende doch recht behalten würden? Bösartiges und Nachsichtiges war mir zu Ohren gekommen. Aber auch die Nachsichtigsten, die blinde Verdächtigungen verschmähten, hatten die gangbare Scheidemünze der öffentlichen Meinung zur Hand: »So etwas tut man doch nicht!« Und auf die Frage: »Warum nicht? Weshalb nicht?« die Antwort: »Wer sich in Gefahr begibt ...«

Schließlich sind Sprichwörter Durchschnittserfahrung, Durchschnittsweisheit. Also doch Erfahrung? Immerhin Weisheit?

Ich wüßte es kaum zu erklären, warum ich anfing, mir schwere Gedanken zu machen. Zum Tugendwächter war ich nicht bestellt, und der Gatte, den ich nicht einmal kannte, ging mich nichts an. Vielleicht bangte mir um die Reinheit als solche. Um die kindlichen Freuden, an denen wir uns gemeinsam gefreut hatten. Die einen gewissen Seltenheitswert vor jenen anderen voraus haben, für welche jeder Nächstbeste augenzwinkerndes Verständnis aufbringt. Die ungetrübte Erinnerungen hinterlassen und niemals in Reu und Leid enden. Vielleicht bangte mir um jenes harmlos kindliche Fröhlichsein, das ein zu himmlischer Freiheit und Wunschlosigkeit gesteigertes Menschentum ankündigt.

Frau Agathe selbst war es, die mir jetzt den Schlüssel zu ihrem Herzen reichte, indem sie, vom Heldengrab fortstrebend, mit einem Schauer, der über ihre Gestalt lief, sagte: »Lassen Sie uns weitergehen! Geschichte ist Menschenwerk, und wo man auf ihren Spuren wandelt, wird man an Schuld erinnert.«

Und während wir Seite an Seite zwischen Feigengesträuch und Zypressen, zwischen Granathecken und Maisfeldern hinschlenderten, fuhr sie zu sprechen fort, wie sie den Strand liebe, den feinen Dünensand aus winzigen Stäubchen von Quarz, Basalt und Glimmer, der wie ein Brünnlein auf die Haut rieselt, wenn man ihn durch die Hand gleiten läßt.

»Er ist so rein wie Wind und Wellen,« sagte sie. »Und die Stranddisteln, die Tamarisken und das See- und Landgetier, das sich dort umtreibt, die gehören alle zum Meer und sind ohne Vorwurf. Weiter herein, wo Menschen wohnen oder wohnten, beginnt die Qual...« Und sie wiederholte: »Überall, wo sie ihren Schritt hinsetzen, erhebt sich etwas wie eine stumme Anklage. Wie Blumen aus den Fußstapfen des heiligen Franziskus wächst unter ihren unseligen Tritten, man weiß nicht wie, die Schuld. Das Meer ahnt nichts von alledem, es rauscht und rollt gegen den Strand.«

Das konnte schließlich in dem Sinne verstanden werden, als drückten die blutigen Greuel der Geschichte sie nieder, von denen die Granatbüsche um Theoderichs Grabmal und sonst durch die ganze Gegend hin so rot sind. Als beängstigte sie das wilde Heldentum, das den Dolch des Meuchelmordes zückt, der grausame Glaubenskampf, welcher waffenklirrend neben der frommen Eselin schreitet, auf deren Rücken das Bekenntnis der Liebe fruchtlos den Palmzweig schwingt. Und vielleicht tat es ihr wirklich weh, daran erinnert zu werden, wie die Kurzlebigkeit, die wir Historie nennen, mit immer erneutem schuldanhäufenden Wüten den heiligen Gottesfrieden der Ewigkeit bricht. Aber welche Frau wird durch Mahnungen der Geschichte so tief bewegt, wenn nicht die Seelenverfassung, in der sie sich gerade befindet, auf das ferne Flüstern der toten Vergangenheit mit dem lauten Echo des Lebens antwortet?

Nein, nun ahnte ich, was in ihr vorging. Warum sie die Stätte fliehen wollte, wo Menschen schuldig wurden. Warum sie sich nach dem einsamen Branden der Wogen wie nach einer verlorenen Heimat zurücksehnte... Sie selbst war schuldig geworden!

Vielleicht nur in Gedanken, aber sind Gedanken nicht mehr wir selbst als die Tat, die losgelöst von uns als ein Fremdes dasteht? Drücken Gedanken unser Wesen nicht ungetrübter aus als unsere Handlungen, die von hundert Zufälligkeiten beeinflußt werden? Genügen nicht schon Gedanken für ein verlorenes Paradies? Und rein wie Seewind und Wellen und wie der Sand der Düne sind Gedanken nicht mehr, die von Vorwurf und Anklage wissen. In dem Augenblick, wo sie den großen Widerspruch empfinden, der von allen Kreaturen den Menschen allein innerlich auseinanderreißt, den Widerspruch zwischen Sein und Sollen, in demselben Augenblick haben sie den paradiesischen Zustand eines völligen Sicheinsfühlens mit der Natur schon verscherzt. Es ist der Augenblick, mit dem die Kultur einsetzt und – die Schuld. Frau Agathe hat recht: Wo immer Menschen ihren Fuß hinsetzen, beginnt die Qual, erheben Vorwurf und Anklage ihr Haupt. Das Meer, in dessen salzigen Fluten noch die Ungebrochenheit der Urwelt haust, ahnt nichts von alledem. Es rauscht – und rollt gegen den Strand.

Ein Landmädchen kam den Pfad zwischen den Maisfeldern entlang gegangen. Mit zwei großen Wasserkrügen kehrte sie vom Brunnen zurück, von denen sie den einen in der herabhängenden Hand trug, wahrend sie den anderen, ohne den Henkel zu berühren, auf die Hüfte stutzte und mit dem nackten braunen Arm umklammerte. Diese Haltung, die man hier so oft beobachten kann, gibt der schreitenden Gestalt etwas Antikes, und wir blieben stehen, sie zu betrachten, wie sie sich langsam näherte. Als sie vollends herangekommen war, verwickelte Frau Agathe sie in ein Gespräch. Einen Augenblick anhaltend, gab sie unbefangen Auskunft, wir erfuhren, daß sie Bauernmagd sei. In einem nahen Gehöft, das sie uns mit einer Bewegung des Kinns wies, war sie vom Waisenamt untergebracht worden. Denn sie hatte weder Vater noch Mutter.

»Aber doch wohl einen Liebsten?«

Fröhlich lachte sie übers ganze Gesicht, eher stolz als verschämt, während sie sich anschickte ihren Weg fortzusetzen. Es war ein ganz junges Blut, nur durch die südliche Reife über das Kindesalter hinaus, aber schlank gewachsen, üppig und unverkennbar guter Hoffnung. Wie ein edles Griechenbildwerk hob die mit bewegten Gewändern hinschreitende Gestalt sich gegen den klaren Abendhimmel ab. Wie eine Königin trug sie die doppelte Bürde der Arbeit und der Liebe, den Krug im Arm, das Kind unter dem Herzen.

»Was tun Sie,« fragte ich verwundert, als ich bemerkte, daß Frau Agathe eine Art Hofknix hinter ihr drein machte.

»Ich neige mich! ...«

*

Und wieder ein andermal, da war der Boden, auf dem wir standen, tausend Jahre jünger geworden. Die Wildheit des germanischen Barbaren, die sich mit der Abgefeimtheit des Römers gekreuzt hatte, zeugte ein neue Erscheinungsform. Aber die Greuel blieben die alten, und nach wie vor brannten die Granatblüten blutrot durch das Land.

Es ist eine gesegnete Erde, durch den Untergang ganzer Geschlechter, mit dem Blute ganzer Völkerschaften gedüngt, unter stetem Fruchtwechsel sich verjüngend. Immer lebt man dort Großes, in welche Zeit man tauchen mag, und immer watet man in Blut. Das alte graue, halbverfallene Gebäude, das heute als Gefängnis dient, und in das wir irgendwie durch klingende Überredung Einlaß fanden, weckt die Erinnerung an eines jener zähen und verruchten Kondottierengeschlechter, in denen sich antike Bildung und Kultur so wunderlich mit dem kriegerischen Abenteurertum der Langobarden, Goten und Heruler mengt.

Ob wirklich schon jener Gianciotto Malatesta, den sie den Lahmen nannten, in diesen Mauern gehaust hat – ich weiß es nicht und bezweifle es fast. Die abgelegeneren Städtchen in ihrer Eifersucht helfen dem geschichtlich Beglaubigten manchmal durch Mythenbildung nach, und wenn die Erfindung lange genug gelebt hat, wird sie zur mündlichen Überlieferung der Kustoden. Der unsrige, der seinen Berufsgenossen hierin nichts nachgab, führte uns in den Saal, wo jener grauenhafte Doppelmord stattgefunden haben sollte, der die Zeitgenossen so tief erregte, daß Dante ihm einige der schönsten und innigsten Verse seines Gedichtes widmet. Ja, er zeigte uns die Stelle, wo Paolo Malatesta il Bello mit Francesca da Rimini gesessen hätte, als sie gemeinsam in dem Buche lasen, das ihnen zum Verführer wurde. Und er zeigte uns die Tür, aus der der lahme Gianciotto mit gezücktem Schwert hervorstürzte, nachdem er die verbrecherische Liebe zwischen Bruder und Gattin belauscht hatte.

Mit der schauspielerischen Gewandtheit seines Volkes schilderte unser Führer den Vorgang. Und in jener achtenswerten Begeisterung für den Dichter und die Sprache der Nation, die den Romanen auszeichnet, vielleicht auch bloß, weil er uns für freigebig hielt, trug er schließlich die berühmten Verse vor, die sich darauf beziehen. Dabei erfuhr ich zu meiner Überraschung, wie süße Verführung, vom Dichter dem Leben abgelauscht und durch Schönheit verklärt, über die Kluft von Jahrhunderten hinweg fortwirkt und unter ähnlichen Umständen neues Leben gewinnen, neue Verführung stiften und neues Unheil zeugen kann.

Als Paolo il Bello mit Francesca da Rimini den Liebesroman Lanzelots vom See las, da kamen sie auch zu der Stelle, wo ein Lächeln über Königin Ginevras Züge gleitet. Das Lächeln, das Lanzelot ersehnt. Das Lächeln, das den höfisch Zurückhaltenden ermutigt, die Königin zu umarmen. Das süße stumme Lächeln, das heimlicher und doch deutlicher als Worte ihm zuflüstert: Küsse mich, Liebster! Und wie sie von diesem Lächeln lesen, da leuchtet dasselbe Lächeln auch über Francescas Antlitz, verführerisch, hingebend, eine stumme Verheißung. Und Paolo Malatestas verhaltene Leidenschaft lodert auf. Er reißt die heimlich Geliebte an sich und küßt sie auf den Mund.

Und wiederum dasselbe Lächeln sehe ich jetzt aufs neue aufleben, ruchlos bestrickend über das Antlitz einer schönen Frau huschen und rasches Verständnis wecken in dem leidenschaftlich aufflammenden Auge eines liebetrunkenen Mannes.

Gerade als der Kustode jenen bekannten Vers vortrug, der das Lächeln Ginevras schildert:

»... das Lächeln, das Sehnsucht verrät,
Geküßt zu werden von solchem Liebsten ...«

gerade in diesem Augenblick verriet wie ein Blitz, der mit einem einzigen Aufzucken eine dunkle Landschaft erhellt, das verheißungsvolle Lächeln, das über Frau Agathes bleich gewordenes Antlitz flog, dieselbe Sehnsucht. Und im gleichen Augenblick wußte ich auch, daß das Buch von Lanzelot zum zweitenmal zum Verführer geworden war ...

Wer wollte es dem Buche oder seinem Dichter nachtragen? Gehört das Lächeln Ginevras, das sträfliche Liebe gesteht, indem es sich nach dem Kuß des Geliebten sehnt, dem Buch oder dem Leben? Und gehörte nicht auch Frau Agathe dem Leben, wie ihm Francesca da Rimini gehört hatte, bevor sie Literatur und die Beute beflissener Kustoden wurde?

Die Verse waren sicher nicht die Ursache, daß die Flammen der Liebe aufloderten, sie waren bloß der Anlaß dazu. Vielleicht auch nur der Anlaß, daß sie so hoch aufloderten, sich zu verraten. Denn geheime Liebe ist behutsam wie ein Mörder, solange sie noch Widerstände in sich selbst zu überwinden hat. Erst wenn die Herzen ganz davon ergriffen, wenn sie einmal dazu entschlossen sind, Pflicht, Ehre, Familie, ja das Leben selbst um den kurzen Rausch der Erfüllung hinzugeben, dann kommt das königliche Gefühl lachender Gleichgültigkeit über sie, und das Bewußtsein eines unveräußerlichen Rechtes, das sie auszuüben glauben, macht sie leichtsinnig und kühn.

Denselben Tag noch konnte ich beobachten, wie die Verführung weiterfraß, ein Feuerbrand auf regenlechzender Erde. Im Tempel Ghismondo Malatestas zu Rimini war es, in der dämmerigen Grabkapelle, die der kunstliebende Gewaltmensch und Heide seiner Geliebten Isotta mit fürstlicher Pracht wie ein für die Ewigkeit bestimmtes Boudoir eingerichtet hat. Über dem Altar steht ein gepanzerter Erzengel, der die lebensvollen Züge jener geistreichen und liebreizenden Mätresse trägt, Isotta in einer Hosenrolle. Ich hatte in der anstoßenden Kapelle eine Inschrift zu entziffern versucht, die mich fesselte, und war etwas zurückgeblieben. Als ich jetzt ahnungslos in jenes Brautgemach des Todes eintrat, sah ich eben noch, wie Frau Agathe und der Architekt, aus einer Umarmung aufgeschreckt, auseinanderfuhren.

Unter dem Standbild Isottas, der schönsten und leichtfertigsten aller Schutzheiligen, hatten sie ihre junge Leidenschaft wie üblich im Sinne jenes Verses besiegelt, der dem Lächeln Ginevras auf dem Fuße folgt:

»Und bebend küßte mich ihr süßer Mund ...«

Und Isotta über dem Altar segnete die sündige Liebe. War doch auch diesem weiblichen Erzengel, ehe er in die himmlischen Heerscharen aufgenommen wurde, nichts Menschliches fremd geblieben.

*

Zwei oder drei Wochen verstrichen, im Gefühl meiner Entbehrlichkeit hatte ich mich mehr und mehr zurückgezogen. Immer wieder wurde ich in der liebenswürdigsten Weise aufgefordert, an diesem oder jenem Ausflug teilzunehmen, und immer wieder konnte ich merken, daß meine Absage keine Spur von Verstimmung zurückließ.

Der überzählige Dritte zu sein, reizte mich nicht. Die niedlichen Elefanten aus spiegelglatten grauem Marmor, die in der Grabkapelle neben der heiligen Isotta die Familiengrüfte der Malatesta bewachen, konnten mir zur Warnung dienen, welch unerwünschte Rolle ich hätte spielen müssen, wäre ich blind genug gewesen, den freundschaftlichen Umgang in der bisher gewohnten Weise fortzusetzen. Die Toten, die den Elefanten im Wappen führen, müssen sich solche Bewachung gefallen lassen. Unter Lebenden wird, wenn Francesca einmal jenes berühmte Lächeln gelächelt hat, ein Ehrenkavalier gemeiniglich als überflüssig empfunden.

Auch am Strande sahen wir uns fast nicht mehr. Ich hielt mich abseits und hatte den Eindruck, daß die beiden es nicht einmal bemerkten. In jene wohltätige Wolke völliger Weltentrücktheit gehüllt, die die Liebe in ihren Anfängen umgibt, lebten sie nichts als eins das andere. Eine Umgebung gab es für sie nicht mehr. Sicher war das verlorene Paradies noch süßer als das unschuldsreine, das bloß aus Sand und Wasser, Stranddisteln und Skarabäen bestanden hatte. Wenigstens für den Augenblick. Und an eine Zukunft denkt Liebe nicht, gerade sie, die Mutter aller Zukunft im Guten wie im Schlimmen.

Mir aber war bange, als sei der Zustand des Einsseins mit der Natur zerstört, der uns sonst beglückte. Wie aus einer anderen Welt, von der Landseite her, wo Menschen wohnten und Staubwolken trieben, hatte eine befleckte Hand herübergegriffen auf die einsame Düne, über die unter glühender Sonne der Seewind strich, von unbeschreiblicher Reinheit. Und die unbewußten Geschöpfe, die wir gewesen, die meerentstiegenen, urweltlich unbekümmerten, die waren wir nicht mehr. Irgendeine dunkle Gewalt hatte uns zurückgestoßen in die Scharen der Menschen ...

Oder waren wir nur Schatten, die in ungezählten Scharen rings auf der stauberfüllten Erde, diesseits und jenseits des Meeres, der ewige Wirbel der Leidenschaft umtreibt? Einmal, da der Himmel sich umwölkt hatte, der Sturm die Tamarisken in den Sand zwang und die Wellen mit flatternden weißen Mähnen wie wilde Rosse an den Strand sprangen, da sah ich sie umhergerissen in den Lüften, die Heerscharen schuldig gewordener Liebe, denen kein Augenblick der Ruhe gegönnt ist:

»Der Hölle Wirbelsturm, der niemals ruht,
Reißt mit die Geister, sich im Flug zu drehen,
Und peitscht sie in erbarmungsloser Wut ...«

Paolo Malatesto und Francesca da Rimini in enger Umschlingung werden herangeweht, und ich beschwöre sie bei ihrer Liebe, mir Rede zu stehen. Klagend erzählt die Verklärte, ewig Gepeinigte, von süßer Sehnsucht und Begier, die sie zusammenführte, vom holden Zwang, der sie einander in die Arme stürzte. Und wie das Seufzen einer zerspringenden Saite bebt das Wort vom gemeinsamen Tod mir durch die Seele, den ihnen die Liebe bereitet hat:

»Amor condusse noi ad una morte ...«

Der Liebestod, damals so einzig, daß er in der Dichtung ewiges Leben gewann, wie alltäglich ist er heute geworden! Die Spalten jeder Zeitung enthalten Liebestragödien mit tödlichem Ausgang, und schon das folgende Blatt verdrängt die Erinnerung daran durch ähnliche Vorfälle. Man hat sich längst gewöhnt, über diese Dinge hinwegzulesen. Aber gerade in jenen Tagen flog eine Nachricht durch die Zeitungen, die meine Aufmerksamkeit erregte, weil sie mich in mancher Hinsicht an das Verhältnis zwischen Frau Agathe und dem Architekten erinnerte und die Ereignisse, die in solchen Fällen hereinbrechen können, in ein grelles Licht rückte. Es handelte sich um ein Trauerspiel, das sich gleichfalls an einer Meeresküste, in einem vornehmen Hotel, wenn auch fern von hier, auf der Insel Wight, abgespielt hatte und gewisse Dunkelheiten enthielt, die zum Nachdenken reizten.

Eine schöne junge Frau, die in jenem vornehmen Strandhotel Aufenthalt genommen hatte, wurde eines Abends bei der gemeinsamen Mahlzeit vermißt. Die Gesellschaft wollte sich ihr Fehlen mit der Annahme erklären, daß sie sich auf einem Ausflug verspätet hätte, ein junger Lord Soundso dagegen, ein eleganter Lebemann, den die Dame hier kennen gelernt, und der sie manchmal auf Spaziergängen begleitet hatte, zeigte sich mehr und mehr beunruhigt und erklärte schließlich, es sei Pflicht, sich auf die Suche zu machen. Man rief das Personal auf, zog mit Laternen und Fackeln den Strand entlang und fand die schöne Frau tot zwischen steilen Klippen im seichten Wasser.

Unwillkürlich mußte ich, als ich von diesem Vorfall las, an Frau Agathe denken. Denn daß auch dort Liebe im Spiel gewesen und die schöne Engländerin freiwillig aus dem Leben geschieden sei, wurde durch den Umstand wahrscheinlich gemacht, daß jener Lord, der sich sonst stets tadellos benommen, und dem niemand unerlaubte Beziehungen zu der Dame zugetraut hatte, sich beim Anblick der Leiche wie ein Rasender gebärdete, was die Augenzeugen begreiflicherweise stutzig machte. Auch ich teilte ihren Verdacht und wartete nicht ohne Spannung auf weitere Nachrichten. Als sie eingetroffen waren, steigerten sich meine Vermutungen zur vollen Gewißheit. Die Behörde, die annahm, daß Selbstmord vorliege, hatte eine Untersuchung eingeleitet; als sie aber den Lord, den einzigen, der in jenem Badeort mit der Dame näher verkehrt hatte, einvernehmen wollte, war er verschwunden. Am andern Morgen fand man ihn mit durchschossener Schläfe in der Nähe derselben Klippen, zwischen denen die schöne Frau ihr junges Leben geendigt.

Damit stand es für mich fest, daß zwischen jenem Paare auf der Insel Wight ein ähnliches Verhältnis bestanden haben mußte, wie ich es zwischen Frau Agathe und dem Architekten gewissermaßen unter meinen Augen sich hatte entwickeln sehen, und nicht ohne ein leises Gefühl von Verantwortlichkeit sagte ich mir, daß ebenso unvorhergesehen wie dort auch die kleine Liebesgeschichte, die sich hier in meiner nächsten Nähe abspielte, eines Tages zu einer aufsehenerregenden Liebestragödie aufwachsen könnte. Aber die gelinden Sorgen, die ich mir machte, schwanden bald wieder angesichts des Wohlbefindens, dessen sich alle Beteiligten zu erfreuen schienen. Auch stellten sie sich in der Folge als gänzlich überflüssig heraus. Der kleine Roman, den ich an jenem gesegneten Strande, unter der südlichen Sonne, als unfreiwilliger Zeuge miterlebte, hat – soll ich sagen zum Glück? – einen von jenem tragischen Ereignis auf der Insel Wight gänzlich verschiedenen Abschluß gefunden. Hier führte die Leidenschaft nicht ins Verderben, wie es dort der Fall gewesen. Es ist alles, wie man zu sagen pflegt, »gut ausgegangen.« Heiter sogar. Allzu heiter...

Nicht jede, die das Lächeln Ginevras lächelt, ist zu sterben bereit. Es gibt Mittel, sich abzufinden, Geheimbündnisse zwischen Lüge und Gewissen, die im gewöhnlichen Leben, wie es nun einmal ist, sich oft als recht brauchbar erweisen. Nur gesteigertes Menschentum, wenn es mit dem Sollen in Kampf gerät, hat ein Leben in die Waagschale zu werfen, das Goldeswert genug enthält, die Schönheit eines höheren Seins damit zu erkaufen.

Aus dem Rauschen der Wogen und dem lauteren Wehen des Seewindes flüchtete diese Liebe ins Hinterland, wo Menschen wohnen und Staubwolken treiben. Geschickt bog sie im letzten Augenblick vor dem Tragischen aus und lenkte mit Grazie ins Satirspiel ein.

*

Es gibt immer Menschen, denen es Vergnügen bereitet, einem über Dinge Auskunft zu geben, um die man sie nicht gefragt hat. Ein solcher erzählte mir, der Architekt trage, wenn auch zuzeiten keinen Ring, so doch für die Dauer das Joch einer mit Kindern gesegneten Ehe. Er kenne ihn aus einiger Entfernung und verbürge sich dafür. Wenn es der Wahrheit entsprach, so verwickelte es die Lage und erschwerte eine befriedigende Lösung unendlich. So legte ich mir's wenigstens in meinen Gedanken zurecht, die damals noch an tragische Möglichkeiten dachten. Aber ich täuschte mich. Es lösten sich alle Schwierigkeiten auf die einfachste und natürlichste Art. Nachträglich muß ich lächeln, wenn ich denke, was für grundverschiedene Lose das Schicksal aus ein und demselben Sack zieht. Hier war das Ende, soweit ich davon Kenntnis nehmen konnte, für alle Beteiligten gleich schmerzlos. Ja, der in gewissem Sinn Geschädigte schwamm schließlich in eitel Wonne.

Bis der Wein sich soweit klärte, mußte freilich Zeit verstreichen, einstweilen gab es noch verborgene Gärungen, und niemand wußte, ob der Most nicht die Dauben sprengen würde.

Einmal des Morgens traf ich zufällig mit Frau Agathen beim Frühstück zusammen. Sie sah blaß aus, war nervös und erwartete eine Nachricht, die die Entscheidung darüber bringen sollte, ob sie noch länger bleiben, oder nach Hause zurückkehren würde.

Im stillen darüber verwundert, daß sie an Abreise dachte, erkundigte ich mich, ob etwa ihr Mann plötzlich erkrankt sei?

Nein, oh, der war gesund, ihm fehlte nie das geringste! Wenn er sich nur in seine Geschäfte vergraben konnte! Aber wozu hat man schließlich einen Mann – um keinen zu haben? Seit drei Monaten reist sie in der Fremde, wegen der beiden Mädchen, die kränklich gewesen. Heißt das nicht Opfer bringen? Seit drei Monaten hat er sich um Frau und Kinder nicht mehr umgesehen. Soll man sich da nicht schließlich sehnen? Jawohl, sehnen – leider! Denn verdienen würde er's nicht, aber man hat eben ein Herz, anders als so ein Mann und Berufsmensch. Ist es etwa eine Kleinigkeit, drei Monate vom Hause fortzubleiben, kein Heim, kein Familienleben mehr zu kennen? Müßte er das einem nicht erleichtern, und von Zeit zu Zeit nachsehen kommen, daß man sich wieder einmal aussprechen könnte? Gegen die Geschäfte will ich nichts sagen, aber es gibt doch auch Pflichten gegen die Familie, das wird jeder zugeben. Schließlich verliert man eben die Geduld, ewig kann es nicht so weitergehen, es bleibt nichts übrig, als andere Saiten aufzuziehen. Darum hat sie ihn mit bezahlter Rückantwort vor die Entscheidung gestellt. Entweder er kommt, oder sie geht. Mit anderen Worten: Wenn er sich nicht für ein paar Tage wenigstens frei macht, sie und die Kinder zu besuchen, so packt sie ihre Koffer und reist heim.

Mit offenem Munde hatte ich zugehört. Woher plötzlich die Sehnsucht nach dem Gatten? Hatte sie je von ihm gesprochen? Auch nur durch eine Silbe verraten, daß sie an ihn dachte? Und überhaupt –? Francesca, die sich nach Gianciotto sehnt? Erkläret mir, Graf Oerindur ...!

Damals ahnte ich eben noch nicht die Gründe, die Francesca bestimmen können, Gianciottos Anwesenheit für wünschenswert zu halten.

Noch war ich damit beschäftigt, mir eine so merkwürdige Tatsache zurechtzulegen, als ich Paolo il Bello erblickte, der sich vom Hause her näherte. Er schwenkte ein flatterndes Papier durch die Luft, es war ein Drahtbrief, den er sogar schon erbrochen hatte. Gespannt streckte Frau Agathe die Hand darnach aus und überflog den Inhalt. Ihr Antlitz, das einen erlösten Ausdruck annahm, erglühte im flüchtigen Rot einer freudigen Bewegung.

»Also doch! So brauche ich wenigstens nicht zu reisen!«

Kaum merkbar, wie leiser Spott, der mit dem Gedanken an ihren Mann im Zusammenhang stehen mochte, huschte für einen halben Augenblick ein Lächeln über die Züge der schönen Frau, das aber nicht dem Lächeln Ginevras glich und kein liebendes Frauenlächeln war. Und dem Architekten offen ins Gesicht blickend, sagte sie: »Ich bleibe noch so gern! Es ist nett von ihm, daß er Vernunft annimmt.«

Der Architekt, der mir die Hand gereicht hatte, schien es für nötig zu halten, Erklärungen zu geben.

»Der Herr Direktor depeschiert, daß es ihm gelungen ist, sich für einige Tage freizumachen. Morgen abend dürfen wir ihn erwarten. Sie begreifen, daß die gnädige Frau ... nach so langer Trennung ... Es ist mehr als begreiflich ... nicht wahr?«

Wie in stillem Einverständnis nickte er lächelnd zu Frau Agathe hinüber und sagte noch: »Ich muß gestehn, auch ich bin entzückt, daß sich mir unerwartet Gelegenheit bietet, Ihren Herrn Gemahl kennen zu lernen.«

Es hatte ganz den Anschein, als freute er sich wirklich. Paolo, der sich darüber freut, daß Gianciotto kommt! Ich beschloß, mich in Hinkunft über nichts mehr zu wundern.

Gianciotto kam. Er blieb ein paar Tage und entfaltete hervorragende Eigenschaften als guter Gesellschafter. Er veranstaltete Ausflüge, Picknicks, Abendfeste, Segelfahrten, einen Schwimmwettbewerb, eine Wohltätigkeitsakademie und ein Tanzkränzchen, mit einem Wort, er brachte Leben und Bewegung in den stockenden Blutkreislauf des Badehotels. Im übrigen war er klein und gedrungen, kahlköpfig und beweglich wie Quecksilber, ein vielgereister und umgänglicher Bankdirektor, der alle Welt mit Aufmerksamkeiten bedachte und jedermann durch sein ebenso witziges wie zuvorkommendes Wesen bezauberte. Gegen seine Frau war er die Ritterlichkeit selbst, aus seinen glatten Mienen strahlte das bürgerliche Glück des legalen Besitzes. Und Frau Agathe hing freudestrahlend an seinem Arm, übermütig, ausgelassen wie ein Teufelchen, über ihn, über sich, über die ganze Welt lachend, während der Architekt wie ein wohlerzogenes Hündchen bescheiden an der Seite des ungleichen Paares einherzog.

Ich aber dachte an die Insel Wight, Die tragische Wendung fordert Ehrfurcht, wo sie im Wesen der Menschen begründet ist. Würden wir nicht nach und nach allen Adel einbüßen, wenn sie überall so gänzlich überflüssig wäre wie hier?

Ehe der Bankdirektor unseren schönen Strand verließ, nahm er dem Architekten und mir als liebwerten Freunden seiner Gattin noch das heilige Versprechen ab, einen Besuch in seinem Hause auf keinen Fall zu unterlassen, wenn wir in die Stadt zurückgekehrt sein würden. Und es war fast niemand, den er nicht mit der gleichen Einladung beehrte. Mitternacht und damit die Stunde der Abreise rückte heran, da nahm er geräuschvoll Abschied, von einem zum andern, dann zog er die Uhr, hatte gerade noch fünf Minuten Zeit, setzte sich noch einmal an den Abendtisch, erklärte nach genau fünf Minuten, daß er jetzt »effektiv« aufbrechen müsse, fuhr nach dem Bahnhof und legte sich befriedigt in das bestellte Schlafwagenabteil.

Kaum war er fort, so hatte sich der Wirbel auch schon besänftigt. Jeder ging wieder seine eigenen Wege. Frau Agathe mit dem Architekten, ich für mich allein. Auch mein Aufenthalt näherte sich dem Ende. Der Gedanke, daß niemand mich hier vermissen würde, machte mir den Abschied – schwer. Wie gern hätte ich mich noch länger einsam im Sande gesonnt! In vollen Zügen genoß ich die letzten Tage, abseits am Strande liegend, mit urweltlichen Gefühlen dem Rauschen der Wogen, dem leisen Pfeifen des scharfen Seewindes lauschend, der in unbeschreiblicher Reinheit über die glühende Düne strich. Einmal beobachtete ich auch noch einen Skarabäus, wie er mit kluger Geschicklichkeit seine Kugel wälzte und in Sicherheit brachte ...

Und dann schlug auch für mich die Stunde, wo das Schlafwagenabteil bereit stand.

Als ich mich verabschiedete, war Frau Agathe so liebenswürdig gewesen, die Einladung ihres Gatten zu wiederholen. Und sie sah mich so gewinnend dabei an, so unverhohlen aufrichtig bekennend, so überlegen heiter um Nachsicht werbend, daß ich nicht umhin konnte, dankend zuzusagen. Indessen fand ich den ganzen Winter nicht Gelegenheit, mein gegebenes Versprechen einzulösen. Immer kam mir etwas dazwischen. Erst als der Frühling schon weit vorgeschritten war, erinnerte ich mich wieder daran und entschloß mich endlich, den versäumten Besuch nachzuholen. Freudestrahlend kam mir der Herr des Hauses entgegen, umarmte mich fast, nötigte mich einzutreten und Platz zu nehmen und quecksilberte wie halbverrückt in der Stube umher.

Sein sehnlichster Wunsch hatte sich erfüllt, ein Stammhalter war ihm geboren worden. Ganz kürzlich erst, vor wenigen Tagen, er konnte sich noch gar nicht fassen, er war noch ganz außer sich, überwältigt durch Verwirklichung des lange gehegten Glückstraumes.

»Und was die Hauptsache ist,« sagte er keuchend vor Wonne: »obgleich das freudige Ereignis um einen ganzen Monat früher eingetreten ist, als wir eigentlich erwartet hatten – die Mutter befindet sich den Umständen angemessen wohl, und der Bub, sag' ich Ihnen, der Bub, das ist ein Prachtkerl, ein wahrer Bär!«

Und als ich ihm glückwünschend die Hände drückte, fügte er mit einem listigen und gleichsam geschmeichelten Lächeln noch hinzu: »Es war doch gut, daß ich damals den Wunsch meiner Frau erfüllte und für ein paar Tage da hinunter kam, nach dem Süden, an den Strand ...«


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