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Der Spitzenschleier

Als Edgar Berndt aus der Spiegelgasse in den Graben einbog, tanzte ihm ein riesiger Maikäfer, der mit den blechernen Flügeln schlug, über den Weg. Er blieb stehen und kaufte das Spielzeug.

»Geben Sie mir noch einen,« sagte er.

Er nahm die zwei Pappschachteln, in denen die Maikäfer verpackt waren, unter den Arm und setzte seinen Weg fort. Nach zwanzig Schritten drehte er um und kehrte zu dem Händler zurück, der seinen Maikäfer wieder aufgezogen hatte und ihn neuerdings über den Asphalt tanzen ließ.

»Haben Sie noch einen?« fragte er.

Erfreut öffnete der Mann die große Ledertasche, die er umgehängt trug, und händigte ihm noch eine Pappschachtel ein. Edgar Berndt bezahlte und trug seine drei Maikäfer unter dem Arm davon.

Wenige Minuten später trat er in ein mit erlesenem Geschmack eingerichtetes Empfangszimmer. Frau Lyda, die jugendliche Herrin des Hauses, die allein war, erhob sich und ging ihm bis unter den venezianischen Kronleuchter entgegen, in dessen geschliffenem Kristall die elektrischen Lichter sich hundertfältig widerspiegelten.

»Kann ich die Kinder sehen?« sagte er; »ich habe ihnen etwas mitgebracht.«

Sie lächelte, drückte auf den Klingelknopf und befahl dem eintretenden Diener: »Ich lasse das Fräulein bitten, die Kinder herüberzubringen.«

Mit einer Handbewegung lud sie ihn ein, am Kamin Platz zu nehmen, in dem ein mächtiges Buchenscheit gloste, und setzte sich ihm gegenüber. Sie hatte vor, in die Oper zu fahren, und befand sich in großer Abendtoilette.

»Was haben Sie für herrliche Spitzen!« sagte er.

Sie hob ein Ende des zierlich durchbrochenen, mit Blumen und Ranken übersäten Schleiers, der sich um ihren Nacken und die entblößten Schultern schmeichelte.

»Es ist Brabanter Arbeit. Ein altes Familienstück, das wieder modern wird.«

»Ein Gedicht!« sagte er bewundernd und hob vorsichtig mit zwei Fingern das spinnwebenzarte Kunstwerk gegen das Licht. »So etwas wird heute gar nicht mehr gemacht.«

»Im Museum, wo sie sich auf dergleichen verstehen, bezeichnete man mir das Stück als ein Unikum.«

»Darum paßt es so gut zu Ihnen,« bemerkte er.

»Das meint auch mein Mann,« sagte sie lächelnd; »und von seiten eines Gatten hat solch ein Urteil noch ungleich größeres Gewicht als aus dem Mund selbst des besten Freundes.«

Die Kinder tollten ins Zimmer und begrüßten ihn. Sie hatten Zutrauen zu ihm, sie sahen in ihm etwas wie einen älteren Kameraden. Fröhlich umringten sie ihn, das Kleinste nahm er auf den Schoß, und dann zog er seine Maikäfer auf, einen nach dem andern, setzte sie auf den Boden und ließ sie tanzen. Mit gespreizten Beinen arbeiteten sie sich über den Teppich hin und schlugen mit den blechernen Flügeln. Einer marschierte geradeaus, die andern gerieten aneinander, verstrickten sich, drehten sich im Kreise oder purzelten um, indem sie fortfuhren, die Beine und Flügel zu bewegen. Die Kinder jubelten und lachten, es war eine ganze Maikäferschlacht. Belustigt sahen die Erwachsenen dabei zu und freuten sich über die drei strahlenden Augenpaare unter dem goldigen Lockengeringel.

»Nun aber genug und zu Bett!« mahnte die Mutter endlich.

Die Kinder sagten gute Nacht, jedes trug beglückt seinen Maikäfer in den kleinen Händen mit sich fort.

»Sie verstehen es immer, den Kindern Spaß zu machen,« sagte Frau Lyda dankbar.

Er sah nachdenklich vor sich hin und schien verstimmt.

»Wissen Sie, was mir gerade eingefallen ist?« sagte er. »Daß ich eigentlich auch so ein Maikäfer bin. Er schlägt mit den blechernen Flügeln und kann doch nicht fliegen. Er schlagt so lange mit den blechernen Flügeln, immer matter und matter, bis das Räderwerk abgelaufen ist. Dann ist es aus. Und was ist dabei herausgekommen? Nichts! Alle sind wir so – hier! in dieser scheinbar lebenslustigen, in Wahrheit aber müden Stadt. Es ist bloß ein beständiges Weiterwursteln – auf allen Gebieten. Aufgezogene Maikäfer sind wir, die ein bißchen mit den blechernen Flügeln klappern ...«

Er blickte auf und betrachtete sie aufmerksam.

»Wenigstens die meisten von uns sind so,« sagte er, seine Äußerung von vorhin einschränkend. Und in ihren Anblick versunken, fuhr er fort: »Der Spitzenschleier um den Nacken läßt Ihr Haar dunkler erscheinen, als es ist. Überhaupt sind Sie heute schöner als je.«

»Ein wahrer Freund sollte nur sagen, was fördert, nichts, was uns in unseren kleinen Eitelkeiten bestärkt.«

Der Diener trat ein und meldete, daß das Auto bereit stehe.

»Es soll warten!«

Edgar Berndt hatte sich erhoben.

»Bleiben Sie!« befahl sie. »Ich habe die Manon oft genug gehört, und der erste Akt ist langweilig. Womit haben Sie sich heute beschäftigt?«

»Ich war im Freien,« sagte er, wieder Platz nehmend. »Draußen im Wiener Wald. Der Vorfrühling kündigt sich an. Es war eine jener Stimmungen, wo jedes grüne Moos an einem Baumstamm, jede zarte Flechte an einem dürren Holze eine Ahnung von überquellender Liebe in uns weckt. Die nüchternsten Dinge umkleiden sich mit Poesie, das unscheinbarste wird Offenbarung. Ich stand an einem Teich, der zu den Eiswerken gehört. Die gelblichen Wiesen und die kahlen Bäume zitterten in seinem dunklen Spiegel. Ich kann nicht sagen, wie es mich ergriff, daß das Wasser die Gegenstände so getreulich nachbildet. Sie lächeln? Dann verstehen Sie das Leid nicht, das dem Naturgefühl des Großstädters beigemischt ist. In einer Wiesenrinne sprudelt ein junges Wässerlein. An der Stelle, wo es sich in den Weiher stürzt, stiegen Tausende von Luftperlen auf, vergingen und erneuten sich, hasteten und drängten und rieselten immer wieder aus der Tiefe empor wie aus einem unerschöpflichen Born. Das alles war wie ein Wunder, ich staunte darüber und war bewegt.«

»Ich achte Ihre Eindrücke, weil sie rein sind,« sagte ernst und besinnlich Frau Lyda. »Aber Sie sollten sich nicht in Lyrik verlieren, in Stimmungsseligkeiten. Sie sind jung, voll Fähigkeiten. Sie müßten – die Not kennen lernen.«

»Sie haben kein Verständnis für meine Art,« erwiderte ein wenig verletzt Edgar Berndt.

»Kein Verständnis für Ihre Art? Kann sein. Und doch fühle ich eine Pflicht. Ich kann Sie nicht hinträumen sehen. Des Weichlichen gibt es ohnedies genug bei uns. Was wir Frauen an euch erziehen können, das sollen wir nicht versäumen. Wir tragen auch eine Verantwortung.«

»Nein, Sie haben wirklich kein Verständnis für meine Art!« wiederholte Edgar Berndt ungehalten. »Sie sind häßlich zu mir! ... Die Not kennen lernen! ...«

»Ja, die Not, sage ich! Die schon manchem zum Segen wurde. Die Not mit allem, was drum und dran hängt!«

»Die Not, sagen Sie! Als ob der Hunger die einzige Triebkraft wäre!«

»Wer die Entbehrung nicht kennt, der schafft sich wenigstens eine Herzensnot. Jeder braucht sie, der etwas leisten will!«

»Und glauben sie denn,« fragte er aufgebracht, »daß ich keine Herzensnot kenne?«

»Soviel vielleicht, als nötig ist, um solch einen Maikäfer in Bewegung zu setzen, daß er ein bißchen mit den blechernen Flügeln schlägt. Sind Sie denn ein Uhrwerk? Sind Sie nicht ein Mann, der es in der Gewalt hat, seinen Weg zu bestimmen? Die Wehleidigen, denen die Hühner das Brot wegfressen, sind gottlob überzählig geworden im jungen Österreich. Sehen Sie meinen Mann an! Er ist Ihr Freund. Begnügt er sich etwa damit, mit den Flügeln zu klappern? Warum gelingt es denn ihm, sich vom Boden zu erheben und durch die Luft zu fliegen wie ein wirklicher Maikäfer?«

»Er ist ein ganz anderer Charakter,« sagte Edgar Berndt. »Ich liebe ihn, weil er mein Gegensatz ist. Er ist wie das Eiswerk da draußen, das einem Zwecke dient. Ich aber bin der Weiher, der es widerspiegelt.«

»So greifen Sie hinein ins volle Menschenleben und spiegeln Sie es wider, wo es am bedeutendsten ist!«

»Und wo wär' es bedeutend?« fragte er müde: »Hier bei uns vielleicht?«

»Und warum nicht hier bei uns?« fragte sie dagegen.

»In diesem Chaos von Meinungen und Parteiungen,« rief er bitter, »wo die kleinlichen Vorteile des Tages alles feinere Empfinden verschlingen? Wo stete Hemmungen aller Art sich hartnackig jedem fröhlichen Gelingen widersetzen? Wo nichts vom Flecke kommt und ein fortwährendes Um-den-Brei-gehen, Leisetreten und Unterducken allen Antrieb und allen Schwung vernichtet? In dieser Stadt der aufgezogenen Maikäfer, die ein bißchen mit den Flügeln klappern, damit es halbwegs nach Leben aussieht, und deren dürftiger Mechanismus abschnurrt und matt wird, lange bevor etwas Fruchtbares dabei herausgekommen ist?«

»Da haben wir den echt österreichischen Raunzer!« sagte sie empört. »Und Sie wollen ein moderner Mensch sein? Packen Sie doch an, wenn Ihnen was nicht recht ist! Seien Sie wer, so wird auch Ihre Umgebung etwas sein! Meinen Sie, anderswo bestünde die Menge aus lauter erlesenen Geistern? Was sich in dieser Stadt in einem einzigen Jahr ereignet, ist so viel und groß, daß es in keiner Göttlichen Komödie Platz fände. Hat es in Florenz zur Zeit Dantes vielleicht keine Parteiungen gegeben, keine Gewalttätigkeiten, kein Unrecht, keine Kämpfe, keine Verleumdungen, keine Ränke und Schliche? Sehen Sie die Dinge bedeutend statt kleinlich, frei statt mit Scheuklappen, tätig statt leidend – so spiegelt sich die Ewigkeit in diesem Wassertropfen wie in jedem andern!«

»Wo allen Kraft fehlt,« sagte er, »kann auch der einzelne nicht stark sein.«

»Gerade umgekehrt! Wo der einzelne schwach ist, muß Stärke allen fehlen.«

Sie stützte den Kopf in die Hand, und sah ihn spöttisch lächelnd von der Seite an.

»Sie sind ein großes Kind, Berndt,« sagte sie; »verzogen durch die Verhältnisse, verzärtelt durch die Frauen, durch Kunst, Literatur und Übermaß des Ästhetischen, durch Breittreten von Nichtigkeiten, wie es hier üblich ist, gewöhnt, Gefühlchen zu pflegen, wie alle, die sich für die Geistigen halten in dieser Stadt. Verfeinerte Gefühlchen natürlich, zarte, geistreiche und reizende Gefühlchen – aber doch kein richtiges, wahres, heißes Gefühl! Vielleicht können Sie wirklich nichts dafür. Es liegt so in der Luft.«

»Sie bemitleiden mich förmlich,« sagte Edgar düster.

»Weil Sie bemitleidenswert sind! Weil Sie am Boden kleben und mit blechernen Flügeln klappern ... Besser noch, Sie hätten überhaupt keine Flügel!«

»Das wäre Ihnen lieber? Nun verstehe ich, wie Sie mich möchten: Gewöhnlich, schwunglos, alltäglich!«

»Sie irren!«

»Und wie sonst?«

»Wie es Ihren reichen, künstlerischen Gaben, Ihrem reinen Willen entspräche. Wie Sie zu sein verdienen würden!«

»Und das wäre?«

»Groß!«

Ein Schauer überlief ihn.

»Groß?« rief er berauscht. »Lyda! Und Sie halten es für möglich –?«

»Ich hielte es für möglich – wenn ...« sagte sie kühl. »Aber wissen Sie, was zur Größe gehört? Verzichten können! Opfer bringen! Vieles hingeben, was einem lieb ist, um nur eines zu lieben, nur eines zu wollen. Gerade das aber ist es, wovor Sie zurückschrecken.«

»Opfer bringen?« sagte er enttäuscht. »Niemand opfert gern, woran sein Herz hängt, auch Sie dürften davon keine Ausnahme machen.«

»Wen ich überzeugt wäre, daß ich ein Beispiel dadurch geben könnte? Wenn ich wüßte, daß es ein hohes Ziel gilt?«

»Wer bürgt uns dafür, daß wir es erreichen?«

»Der Glaube daran.«

Sie hatte sich erhoben, plötzlich stand sie mit nackten Schultern in blendender Schönheit am Kamin und ließ ihren Spitzenschleier mit ausgestreckter Hand ins Feuer gleiten.

»Was tun Sie!« schrie er ans.

Man sah das kostbare Zeug sich wie unter Schmerzen winden, eine Flamme schlug daraus empor, einen Augenblick leuchteten die zarten Blumen und Ranken wie aus roter Glut gebildet, dann war alles zu Asche zerfallen.

Er wankte einen Schritt auf sie zu, mit gefalteten Händen, wie entgeistet, bestürzt und hingerissen. Er wäre am liebsten in die Knie vor ihr gesunken, aber das spöttisch überlegene Lächeln, das ihre Lippen kräuselte, hielt ihn davon zurück. Schweigend standen sie einander gegenüber. Endlich langte Frau Lyda ihre langen weißen Handschuhe von einem Mahagoni-Tischchen und begann sie anzuziehen.

»Was haben Sie getan!« stammelte er fassungslos. »Weshalb dies herrliche Stück Spitzenwerk hingeopfert, das Ihnen lieb und teuer war? Wozu? Ist es nicht Wahnsinn?«

»Es wäre Wahnsinn,« sagte sie langsam, während sie sorgfältig das weiche, zarte Leder über ihre Finger streifte; »und es bliebe Wahnsinn, wenn nicht Sie – Sinn daraus machen, Edgar Berndt!«

Und indem sie anmutig das Haupt gegen den Freund neigte, rauschte sie aus dem Gemach.


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