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Schicksal

»Ein semmelbrauner Pinscher, ziemlich reine Rasse, preiswürdig zu verkaufen.«

Diese Ankündigung brachte das Morgenblättchen.

Die Leute saßen noch beim Frühstück, da kam schon ein Herr und fragte nach dem Semmelfarbenen. Eigentlich war's nur ein Mann, aber er sah vertrauenerweckend aus in seinem anständigen Rock, mit seinem gutmütigen, runden Gesicht.

»Bei dem wird er's gut haben,« dachte die Eigentümerin des Pinschers. »Soll ich mit mir reden lassen? Zwanzig Schilling dacht' ich, wär' doch nicht zu viel.«

Schnauzer wurde gerufen. Aus der Ecke eines grünen Sofas, wo er zusammengerollt lag, entwickelte er sich allmählich, dehnte sich, sprang herab und kam mißtrauisch näher. Mit der »ziemlich reinen Rasse« war es freilich nicht weit her. Wer weiß, was für Romane sich in seiner Familie abgespielt hatten! Vermutlich hatte irgendein verführerischer Pudel und vielleicht auch einmal ein verliebter Dachs in seinem Stammbaum einen Ehrenplatz einnehmen müssen, vorausgesetzt, daß Stammbäume dazu da sind, die volle Wahrheit zu berichten. Aber sind sie wirklich dazu da?

Übrigens besaß Schnauzer keinen anderen Stammbaum als den ganz offenkundigen, der aus seinem Gesicht und aus seiner ganzen, etwas vertrackten Gestalt abzulesen war. Warum man sich entschieden hatte, ihn gerade einen Pinscher zu nennen? Vermutlich wegen seiner nicht abzuleugnenden semmelbraunen Farbe und dann wohl auch darum, weil der Kopf doch der wichtigste Bestandteil eines Wirbeltieres ist und Schnauzers seiner mit dem struppigen Schnurrbart, den gestutzten Ohren und runden braunen Augen in der Tat einige Ähnlichkeit mit dem Kopf eines Pinschers zeigte. Der langgestreckte, walzenförmige Leib und die stämmigen etwas zu kurzen krummen Beine paßten freilich zu diesem Kopf wie die Faust aufs Auge. Und das war der guten Frau, die den Hund verkaufen wollte, noch nie so stark aufgefallen als gerade jetzt, wo sie die Blicke des fremden Mannes kritisch prüfend, wie sie meinte, auf ihren Liebling gerichtet sah.

»Ganz rein ist er gerade nicht ...« sagte sie kleinlaut und ließ im Geiste einen Schilling vom Preise nach.

»Macht nix,« meinte der dicke Mann, der ihre Bemerkung mißverstand; »gann man ihm abgewennen.«

Sie begriff, was er meinte, und fühlte sich in ihrem Stolz als Hausfrau und Hundemutter gekränkt.

»Oh, zimmerrein ist er schon!« rief sie eifrig und schlug rasch den Schilling wieder auf. »Was glauben Sie denn? Ist beinah' ein Jahr alt, und ich hab' ihn selber aufgezogen! Gell, Schnauzer? Und er ist so ein williges, braves Hunderl! Die gute Stund' selbst! Was er einem an den Augen absehen kann, tut er. Oh, zimmerrein ist er schon lange, da fehlt nichts! Aber mit der Rasse – ja, das versteh' ich freilich nicht so genau, das muß ich schon sagen. Unehrlich will ich nicht sein, wenn ich ihn schon hergeben muß. Die Mutter, die war wohl ein Pinscherl, aber vom Vater – von dem wissen wir halt nichts.«

Der fremde Mann schien es mit der Rasse nicht besonders genau zu nehmen. »Macht nix, macht nix!« wiederholte er gewissermaßen tröstend. »Hauptsach' ist: was soll Hund gosten?«

»Ja, wissen Sie,« sagte die Frau, »der Schnauzer ist halt mein Nadelgeld. Als ganz kleiner hat ihn mein Mann geschenkt bekommen. Ziehst ihn auf, sagt er, richtest ihn ab, sagt er, was du dann dafür bekommst, sagt er, ist dein Nadelgeld, sagt er. Schwer wird's mir eh, daß ich ihn soll hergeben. Wie ein eigenes Kind hab' ich ihn gern, den Schnauzer!«

Sie führte den Zipfel ihrer Schürze an die Augen und liebkoste das Tier, das ernst und zweifelnd zu ihr aufblickte.

»Überhaupt ein gutes, treues Hunderl!« fuhr sie fort. »Und gelehrig ist er Ihnen – wie ein Pudel. Schnauzer, schön Pratzerl geben! – Nein, das rechte Pratzerl! – So! Schön! Brav! – Schnauzer, wie spricht der Hund? – Na, brav's Hunderl sein! – Schnauzer, wie spricht der Hund?«

Schnauzer bellte ein paarmal schüchtern und sah dabei furchtsam nach dem fremden Manne hinüber, ob er es nicht am Ende übelnehmen würde.

Der nickte beifällig mit dem Kopfe und murmelte halb verlegen einige anerkennende Worte.

»Gann vielleicht auch aufwarten?« fragte er höflich, wie um der Frau etwas Verbindliches zu sagen.

Die Frau legte bedauernd die Hände ineinander und ließ im Geiste den Schilling wieder nach. »Da muß ich schon die Wahrheit reden,« sagte sie, »aufwarten kann er nicht, das Sitzen, das bringt er halt einmal nicht zusammen. Geplagt haben wir uns ehrlich, er und ich – gelt, Schnauzer? – aber es ist halt nicht gegangen. Ja, das sag' ich offen, wie es wahr ist, lügen mag ich nicht, und wenn ich ihn schon hergeben muß, bei der Wahrheit bleib ich deswegen doch. Sonst ist er wohl sehr gelehrig, aber aufwarten kann er halt nicht.«

Der dicke Mann schien aber auch auf das Aufwarten keinen besonderen Wert zu legen. »Macht nix! Macht nix!« sagte er abermals. »Hunderl war mir grad recht, ob aufwarten gann, oder net. Was soll gosten?«

»So einer, der ihn aus lauter Lieb' nimmt,« meinte die Frau gerührt, »wär' freilich das richtige Herrl für den Schnauzer.« Und sie ließ endgültig einen weiteren Schilling nach, als sie den Preis nannte.

Der dicke Mann war es zufrieden und zählte das Geld auf den Tisch. Die Schnauzer-Mutter fand es nobel, daß er nicht gefeilscht hatte, und freute sich, daß ihr Liebling einen so wenig knickerischen Herrn bekam.

Soweit wäre also alles in schönster Ordnung gewesen. Als aber der Käufer sich anschickte, dem Hunde eine Schnur um den Hals zu binden, um ihn fortzuführen, da kam erst der Trennungsschmerz bei der guten Frau zum Ausbruch. Sie kniete auf den Boden nieder, drückte ihren Schnauzer ans Herz und nahm unter strömenden Tränen von ihm Abschied.

»Daß ich dich hergegeben habe, du liebes Hunderl!« rief sie schluchzend; »und viel zu wohlfeil hab' ich dich verkauft, viel zu wohlfeil! Denk nur auch manchmal ans Frauerl und vergiß mich nicht ganz, hörst, Schnauzer? Und schön brav sein! Dem Frauerl keine Schand machen! Jesses, mir ist, als ob ich ein Kind verlieren müßt!«

»Na, in Gott's Nam'!« sagte sie dann zu dem dicken Mann, indem sie aufstand und ihre Tränen trocknete. »Wenn Sie nur recht auf ihn schauen, daß er's gut bei Ihnen hat?«

Der Dicke hatte mit feierlicher Miene den rührenden Abschied mit angesehn. Das Wasser war ihm in die Augen gestiegen. Jetzt wurde er ganz rot im Gesicht und sagte stockend: »Ja, bei mir hätt' schon gut, aber hab' ich net für mich 'gauft. Hab' ich für Professor 'gauft, aus Klinik, wissen S'. Bin ich Diener in Labradurium.«

Er nannte auch den Namen des Professors. »Das war doch der berühmte Arzt und wissenschaftliche Forscher, über den manchmal sogar in der Zeitung geschrieben wurde?« Die gute Frau stand rein wie geblendet.

»Für einen solchen Herrn!« rief sie überrascht. »Nein, so eine Ehre! Du, Schnauzer, da kannst dich zusamm'nehmen! In so ein Haus zu kommen! Da wird er es freilich besser haben als bei uns gewöhnlichen Leuten!«

»Ja, wenn wahr ist,« meinte der dicke Mann bedenklich. »Besser als bei Ihne wird Hunderl ninderscht ham. – Wissen S' was, behalten S' Hunderl, wenn schon an ihm hängen tun.«

Soweit reichte nun aber die Liebe der guten Frau zu Schnauzer doch nicht. Wer weiß, ob sich sobald ein anderer Käufer fand, noch dazu ein so wenig wählerischer. Auch war, wie in so manche Menschenmutter, wenn sie von einer glänzenden Partie für ihre Tochter hört, auch in diese Hundemutter der Eitelkeitsteufel gefahren, seit sie wußte, daß ihr Liebling in das Haus des berühmten Gelehrten kommen sollte. Schon rühmte sie sich dessen im Geiste ihren Nachbarinnen gegenüber, und nun wollte dieser Mensch auf einmal alles wieder rückgängig machen? Was fiel ihm eigentlich ein? Gekauft war gekauft! Aber so hatte es der Dicke ja gar nicht gemeint. Von ihm aus – er war es zufrieden, wenn's nur ihr recht war.

»Gut, wenn net wollen,« sagte er, nahm seinen Hut und schickte sich an, fortzugehn.

Nein, sie wollte wirklich nicht. Sie konnte sich ja keinen Hund halten, schon wegen der hohen Hundesteuer. Und so schwer es ihr fiel – der Schnauzer war ihr Nadelgeld. Man muß doch auch vernünftig sein.

»Schenn, schenn,« sagte der Labraduriumsdiener. »'Pfell mich Ihne! Gumm, Hunderl, gumm!« Und er entfernte sich, Schnauzern hinter sich herziehend. Der wehrte sich, was er konnte, und stemmte sich mit steifen Beinen entgegen. Ach, wie pflegte er sonst vor Freude zu tanzen und sein gestuftes Schwänzlein gleich dem Pendel einer jener Uhren, die man »Zappler« nennt, hin und hergehen zu lassen, wen er merkte,, daß er »äußerl gehn« durfte. Aber diesmal stemmte er sich. Da würgte ihn die Schnur am Halse, und er mußte einsehen, daß jeder Widerstand nutzlos sei. Was blieb ihm übrig? Ohne weiteres Widerstreben ließ er sich aus dem Hause führen.

Nun trottete er still hinter dem fremden, fürchterlichen Manne auf der Straße. Nicht ohne Unbehagen hatte er die Unterredung zwischen diesem und seinem Frauerl mit angehört. Er wußte, daß von ihm gesprochen wurde, und es ahnte ihm nichts Gutes. Aber daß es so enden würde...!

Offenbar hatte er etwas Schlimmes angestellt. Aber seine Kunststücke hatte er dem Fremden doch vorgemacht, wie ihm geheißen worden, wenn auch mit innerem Widerstreben. Sollte der Mensch das bescheidene Bellen mißverstanden haben? Es gehörte sich doch auf »Wie spricht der Hund?« Wie wäre es ihm, dem kleinen Schnauzer, in den Sinn gekommen, den großen, starken Mann anzubellen! Und doch mußte der es so gedeutet haben. Sonst hätte er ihm nicht eine Schnur um den Hals gebunden wie einem bissigen Köter! Daß ihm eine Schnur um den Hals gebunden worden, noch dazu von einem Fremden, das empfand Schnauzer als schwere Kränkung. Seine Herrin hatte ihn doch stets ein »braves Hunderl« genannt.

Er wußte genau, was ein »braves« und was ein »schlimmes« Hunderl war. Und er wußte auch ungefähr, was es bedeutet, wenn Menschen weinen. In seiner Angst und Verwirrung war es ihm gänzlich dunkel geblieben, warum sein Frauerl ihn an sich gedrückt und dabei geweint hatte. Nur eine bange Ahnung, daß etwas Schlimmes bevorstand, hatte sich gesteigert. Nun aber war es da, das Schreckliche, daß ein fremder Mann ihn hinter sich herzerrte, immer weiter fort vom Hause. Was ihm sonst Spaß zu machen pflegte auf der Straße, das ließ ihn setzt gleichgültig. Mochten andere Hunde an ihn herankommen, um sich mit ihm zu unterhalten – er blickte zur Seite und tat, als sähe er nichts.

Er konnte an nichts anderes denken als an den Menschen, der vor ihm herschritt. Dieser neue Herr, dieser große, breite Unbekannte, von dem hing nun alles ab, das fühlte er. Ihn nicht herauszufordern, nicht gegen sich aufzubringen, das mußte sein oberstes Sinnen und Trachten sein. Auch den leisesten Schein von Störrigkeit galt es vermeiden. Nur durch Gefügigkeit konnte er vor dieser unbeschränkten Macht, die hier über ihn gesetzt war, bestehen. Darum trabte er emsig und willig hinter dem Manne drein, als sei dieser von jeher sein rechtmäßiger Herr gewesen. In seinem Herzen aber wohnte eine grenzenlose Traurigkeit. Wenn seine Ohren nicht gestutzt gewesen wären, so hätte er sie hängen lassen, so tief sie hängen mochten.

An einer Straßenkreuzung, wo viele Fuhrwerke und Menschen sich drängten, blieb der Dicke plötzlich stehen und wendete sich gegen Schnauzer zurück. »Jetzt kommt's,« dachte dieser; »jetzt wird er mich schlagen!« Er krümmte demütig den Rücken und wand sich um Gnade flehend zu den Füßen seines neuen Herrn. Am ganzen Leibe zitterte er. Aber der fremde Mann schlug ihn nicht, sondern sprach ihm freundlich zu, ein paarmal nannte er ihn sogar beim Namen. Das tat dem verängstigten Tier unendlich wohl, schüchtern wedelte es ein wenig mit seinem Schwanzstummel.

Dann setzten sie ihren Weg fort und gingen durch viele menschenreiche Straßen, Gegenden, die Schnauzer ganz unbekannt waren, sodaß er sich wie verstoßen fühlte in eine fremde Welt. Nach langer Wanderung bog der dicke Mann auf einmal in einen geräumigen Hausflur ein. Schnauzer stand unwillkürlich einen Augenblick still, aber ein Ruck an der Schnur, die um seinen Hals geschlungen war, mahnte ihn an seine Pflicht.

Nun ging es eine Treppe hinan, und bald darnach fand er sich in einem großen, lichten Zimmer, das ganz anders aussah als die Stube, in der er mit seinem Frauerl gewohnt hatte. Schnauzer war hundemüde von dem weiten Weg, den er unter Seelenqualen zurückgelegt hatte, aber da befand sich nirgends ein Sofa wie das grüne zu Hause, in dessen Ecke er sich so gerne zusammengerollt hatte. Er näherte sich dem Ofen, neben dem sonst das Kissen gelegen hatte, auf welchem er so warm zu ruhen pflegte; aber es war nicht da, und auch der gewohnte Wassernapf fehlte. Ein nagendes Heimweh überkam ihn. Unruhig schlich er hin und her, trotz seiner müden Glieder. Niemand hinderte ihn, seine Umgebung zu mustern, denn der fremde Mann hatte ihn allein gelassen. Aber er fand nur unverstandene Einrichtungsstücke und Geräte in dem Raume, Dinge, die er nicht kannte, die ihn finster und drohend anzuglotzen schienen. Dazu herrschte ein durchdringender, widerlicher Geruch, der sich betäubend auf seine Lungen legte.

Nach einer Weile erschien der fremde Mann wieder und brachte ein Schüsselchen mit Futter, das er auf den Boden stellte. Gierig machte sich Schnauzer über die Speisen her, allein kaum hatte er einen Bissen ins Maul genommen, so spürte er, daß er jetzt nicht imstande sein würde, etwas zu genießen. Die Kehle war ihm wie zugeschnürt, der Brocken quoll ihm im Munde, sodaß er ihn wieder fallen lassen mußte. Dazu der scharfe Geruch in der Luft – es wurde ihm schwach zumute, er fürchtete, sich übergeben zu müssen, und drückte sich scheu aus der Nähe des Mannes gegen den Ofen. Denn wenn es wirklich soweit käme, dann setzte es Prügel, das wußte er.

In diesem Augenblicke wurde die Türe aufgerissen, und ein anderer Mann kam herein, viel kleiner und schmächtiger als der erste, aber mit einem Schritt! ... Schon als er den Schritt des neuen Mannes vor der Türe gehört, noch ehe er ihn selbst gesehen hatte, wußte er: dies ist der eigentliche Herr!

Dieser eigentliche Herr wechselte einige Worte mit dem andern und ging rasch auf Schnauzer zu, der bis ins innerste Mark zusammenschrak. Dann bückte er sich zu ihm nieder und blickte ihn an mit jenem gewaltigen kalten Menschenauge, vor dem jede Kreatur erzittert. »Jetzt wird es heißen: Schön aufwarten!« dachte Schnauzer. »Und gerade dies eine kann ich nicht!« Um aber gleich zu zeigen, daß er doch etwas gelernt hatte, und auch um seinen guten Willen zu beweisen, wollte er wenigstens »Pratzerl geben« und hob schüchtern und verlegen die rechte Pfote auf, sie dem Herrn entgegenzustrecken. Der gab ihm aber einen leichten Klaps darauf, faßte ihn geschickt mit beiden Händen am Kopf und zog ihm die Augendeckel hoch hinauf, daß es fast schmerzte. Schnauzer hätte am liebsten gewinselt, wagte es aber nicht, denn die kurze, rasche Art des neuen Herrn machte ihm den Eindruck unerbittlicher Strenge. Der dicke Mann kam ihm jetzt wie die Güte und Milde selbst vor im Vergleich zu jenem andern, der ihn ohne weitere Begrüßung am Kopf packte, als wär' er eine falsche Katze oder eine gemeine Ratte.

Schließlich ließ der strenge Herr ihn wieder los und trat von ihm weg an einen Tisch, an dem er sich zu schaffen machte. Man hörte ein Klappern und Rasseln wie mit Ketten. So ungefähr, wie die Kette des großen Wachthundes gerasselt hatte, den Schnauzer manchmal im Hof zu besuchen pflegte. Das Geräusch war ihm höchst unheimlich und peitschte seine Nerven. Ging es am Ende ihn an? Fast schien es so, denn plötzlich sah er die Blicke der beiden Männer auf sich gerichtet. Der neue Herr streckte sogar die Hand gegen ihn aus und sagte dabei etwas. Der Dicke aber zog den Rock aus, band eine weiße Schürze vor und auf einmal näherte er sich. Er sah noch fremder aus in seinen weißen Hemdärmeln und mit seiner weißen Schürze. Ganz zum Schrecken sah er aus, wie er entschlossen heranschritt. Da gab es keine Rettung als die Flucht.

Von wahnsinniger Angst gejagt, rannte Schnauzer an die Tür, winselte und jammerte, aber niemand machte ihm auf. Schon hörte er den Dicken hinter sich drein, der schmeichelnd seinen Namen rief. Aber er erkannte aus dem Ton der Stimme, daß es Verstellung war, Falschheit, Hinterlist. Geschickt bog er unter dem Griff des Mannes aus und flüchtete in die andere Ecke des Zimmers unter einen langgestreckten Tisch. Der Dicke hinter ihm her, kroch ihm auf allen vieren nach, streckte die Hand aus, um ihn am Balg hervorzuziehn. Aber wie ein Aal entglitt ihm Schnauzer abermals und drückte sich an allerhand Hindernissen vorbei in die Fensterecke, hinter eine Verschanzung von Gerümpel und übereinandergeschichteten Brettern.

Zitternd am ganzen Leibe saß er im Dunkeln. Schon hörte er sie beide herankommen, den einen von links, den andern von rechts. Jetzt war an kein Entrinnen mehr zu denken. Ein drohendes Knurren entrang sich Schnauzers Kehle, und nach der ersten Hand, die hereinlangte, schnappte er, daß sie sogleich wieder zurückzuckte. Aber in demselben Augenblick hatte ihn auch schon die zweite Hand am Nacken gepackt. Mit unwiderstehlicher Kraft fühlt er sich aus seinem Schlupfwinkel hervorgezerrt und in die Luft gehoben. Zugleich wurde ihm etwas Großes, Nasses vor die Schnauze gedrückt, das einen fürchterlichen Geruch ausströmte. Er fühlte, wie seine Beine ihm heruntersanken, wie er willenlos hingelegt wurde auf einen harten, kalten Tisch. Er riß das Maul auf und schnappte nach Atem, er riß die Augen auf, aber er konnte nicht einmal mehr sehn. Und dann wußte er nichts mehr von sich.

Eine Uhr schlug mit langsam schnarrenden Schlägen, als Schnauzer aus seinem dumpfen Schlaf erwachte. Es war ihm furchtbar elend zumut, besonders im Schädel bohrte ein rasender Schmerz. Da stieß er ein leises Wimmern aus, um sein Frauerl zu rufen, denn sie würde ihm helfen, hoffte er. Aber das Frauerl kam nicht. Mit Anstrengung erhob er den Kopf, um zu sehen, wo sie blieb! Allein es herrschte nur trübes Lampenlicht rings um den Korb, in dem er gebettet lag, und die Augen waren ihm halb verbunden. Doch merkte er, daß er sich nicht in der gewohnten Umgebung befand. Er spürte ein warmes Bächlein über seine Nase sickern, und als er darnach leckte, witterte er, daß es Blut war. Und dann vermochte er den Kopf nicht länger hoch zu halten. Wie ein Stück Holz fiel er ihm herunter.

Nach einer Weile stumpfen Dahinliegens vernahm er Schritte, aber es war noch immer nicht das Frauerl, sondern der dicke Mann, von dem er sich jetzt erinnerte, daß er ihn in die Fremde, in die Gefangenschaft geschleppt hatte. Am Geruch erkannte er ihn sogleich. Der Mann streichelte ihn recht zärtlich und sanft und redete ihm freundlich zu. Hilfeflehend leckte Schnauzer seine Hand. Sachte hob der Mann Schnauzers Kopf hoch und hielt ihm ein Schüsselchen mit Wasser vor die Nase. Und das arme Tier, das von argem Durst gepeinigt war, freute sich über die ersehnte Labung. Es war ihm, als ob auf einmal alles sich bessern müßte, wenn er nur erst einen tüchtigen Trunk getan hätte. Aber schon nach den ersten Tropfen, die er aus dem Gefäß schlürfte, befiehl ihn ein Ekel, sodaß er nicht imstande war, einen ordentlichen Schluck zu sich zu nehmen.

Der fremde Mann streichelte ihm nochmals über den Rücken, breitete behutsam eine warme Decke über ihn und entfernte sich dann. Da war es plötzlich ganz dunkel und still. Eine gähnende Einsamkeit dehnte sich rings um Schnauzer. Das Qualvollste, was er in seinem Leben erlitten hatte, war dieses gänzliche Verlassensein. Kein Trost, kein warmes Anschmiegen, keine Hoffnung auf Hilfe. Dazu der unerträgliche Schmerz im Kopf, der marternde Durst, die Zerschlagenheit aller Glieder. Schauer um Schauer lief ihm über den Rücken, teils schüttelte ihn Frost, teils beängstigte ihn trockene Hitze. In seiner dämmernden, halb irren Einbildung sah er sich bald im tiefen Schnee erstarrt und erfroren, bald wieder in der Glut eines Ofens, in den die beiden fremden Männer unablässig Scheiter nachschoben. Jedesmal, wenn er halb und halb zu Bewußtsein gekommen war, winselte er kläglich und jammervoll, in der schwachen Hoffnung, irgendeinen barmherzigen Menschen auf sich aufmerksam zu machen. Sie konnten ja alles, was sie wollten, die Menschen, waren unbeschränkte Herren über Leben und Tod, über Freud und Leid. Aber Schnauzers erbarmte sich keiner. Unendlich lang dehnte sich die Nacht. Wie eine Ewigkeit. Manchmal meinte er, es nicht mehr ertragen zu können, wollte aufspringen und entfliehen, flüchten, gleichviel wohin, nur diesem entsetzlichen Zustand entrinnen. Aber die Knochen waren ihm wie gebrochen, die Beine rührten sich nicht, auch wenn er wollte, gehorchen ihm einfach nicht mehr, gerade als ob sie gar nicht sein gewesen wären.

Endlich begann ein matter Frühschein sich an das Schmerzenslager des gequälten Tieres zu schleppen. Nach einer Weile erschien auch der dicke Mann von gestern, warf einen Blick auf Schnauzer und kraute ihn sanft am Rücken. Er nahm ihm die Tücher vom Kopf, wusch ihn sorgfältig mit stark riechendem Wasser und band ihm dann ein neues Tuch über. Willenlos und ergeben ließ Schnauzer es geschehen, ohne ein Lebenszeichen von sich zu geben. Nur einmal, als die Hand des Mannes sich zufällig seiner Schnauze näherte, leckte er dankbar darnach. Der Mann wollte ihm doch Gutes erweisen, das fühlte er. Wenn es auch keine Linderung brachte; schon die Absicht tat ihm wohl.

Später brachte der Mann ein Schälchen Milch. Aber wiederum war es Schnauzern unmöglich, etwas zu sich zu nehmen. Er wurde immer stiller und winselte gar nicht mehr. Mit geschlossenen Augen lag er da. Wie ein Feuerquell sagte das Blut durch seine Adern, und von den ruckweisen Stößen des Herzens erbebte der ganze Leib. Er wußte nicht mehr viel von sich. Nur ab und zu schreckte er auf. Ein riesiger Hund hatte ihn in den Kopf gebissen. Oder seine Herrin mit der brennenden Kerze ins Auge gestoßen. Das waren seine Fieberträume.

Auf einmal hörte er feste Schritte und eine laute Stimme neben sich. Nie ein jäher Riß ging es ihm durch alle Nerven. Das war der Herr, der neue, der strenge! Was würde man jetzt von ihm verlangen? Vielleicht »Pratzerl geben« oder »Wie spricht der Hund?«

Und richtig, man vergönnte ihm nicht einmal mehr sein jammervolles Dahinliegen! Der dicke Mann hob ihn aus dem Korb und nahm ihn in seine Arme, sorgfältig zwar, aber doch tat Schnauzern jeder Griff so weh, daß er geheult hätte, wäre er nicht zu schwach dazu gewesen. Sachte ward er auf den Boden niedergelassen, und da lag er jetzt auf der harten Diele, mehr tot als lebendig und rührte sich nicht, konnte sich nicht rühren. Aber auf einmal war es, als ob hundert Stricke ihn aufrissen, hundert Fäuste ihn zögen und höben. Wie Zuckungen und Krämpfe fuhr es ihm durch die Muskel und Nerven. Gegen seinen Willen, ganz von selbst, fingen plötzlich seine Beine zu arbeiten an und trugen ihn in taumelnden Sätzen im Kreise herum, dann riß es ihn zu Boden, und kopfüber stürzte er mit einknickenden Knien vor den Füßen des gestrengen Herrn nieder. Sein letzter Gedanke war: »Das ist nun doch einmal dein Herr!« Und mit äußerster Anstrengung machte er noch einen schwachen Versuch, ihm die Stiefel zu lecken. Dann verschied er.

*

Der dicke Mann stand bewegungslos und blickte auf den toten Schnauzer nieder. Wie angewurzelt stand er und rührte sich nicht.

»Wir sind fertig, Nabredal,« sagte der Professor. »Legen Sie die Elektroden aus der Hand und tragen Sie das Versuchstier hinaus.«

Damit trat er an einen Tisch, auf dem Papiere und Bücher gehäuft lagen, ergriff die Feder und trug mit Eifer Notizen in ein dickes Manuskript ein. Als er fertig war und aufblickte, bemerkte er zu seiner Überraschung, daß sein Diener noch immer unbeweglich neben dem toten Schnauzer stand und sich mit dem Rücken der Hand über die Nase wischte.

»Mir scheint, Sie sind ein bißchen sentimental?« sagte der Professor gutmütig, indem er sich eine Zigarre anzündete. »Na, trösten Sie sich! Wenn Sie einmal länger bei mir sind, werden Sie sich an solche Dinge schon gewöhnen.«

»Waß net, ob ich werd' gewennen,« sagte Nabredal, während zwei große Zähren ihm langsam über die dicken Backen herabkollerten. »Werd' ich nie gewennen, arm's Hunderl zu Tod martern!«

»Zu meinem Vergnügen bring' auch ich keinen Hund um, lieber Freund. Aber, wenn Sie krank sind, oder Ihr Weib, oder Ihre Kinder, dann soll man euch helfen, nicht wahr? Glauben Sie, daß wir das aus den Fingern saugen können? Wenn man einen Zweck erreichen will, muß man manchmal auch etwas tun, was einem nicht gerade leicht wird.« »Aber warum grad' Schnauzer hat sein müssen?« sagte Nabredal, indem ihn der Bock stieß. »War so a lieb's, folgsam's, arm's Viecherl und hat niemand nix 'tan.«

»Ja, warum es gerade der Schnauzer hat sein müssen,« sagte der Professor, »das weiß ich freilich auch nicht. Aber haben Sie eine Ahnung, Nabredal, was Schicksal ist?«

Er wurde ernst und tat ein paar starke Züge ans seiner Zigarre.

»Sehen Sie,« sagte er nachdenklich, »das ist genau so wie bei uns Menschen: den einen faßt's beim Schopf, den andern läßt's laufen ... Wahllos! Wenn es sich noch die Überständigen aussuchte, die Untauglichen, die Schlechten! – Aber nein! Wahllos! So wie Sie gerade dieses arme Vieh beim Kragen erwischt haben. So greift es den Nächstbesten ... oder die Nächstbeste ... heraus und zerrt sie an einer Schnur um den Hals von seinen Lieben und martert sie zu Tode.«

Er war aufgestanden und schritt mit gesenktem Haupt im Zimmer auf und nieder. Eine Erinnerung, etwas, das ihn selbst betraf, etwas Schweres, Trübes schien über ihn gekommen. Seine Züge hatten sich verändert, seine Stimme, seine Haltung. Wie wenn plötzlich ein dunkler Wolkenschatten über eine Gegend zieht, so war es.

»Und wozu?« sagte er bitter, in heftiger innerer Bewegung hin- und herschreitend. »Ja, hier kann man mit Recht fragen: Wozu? Wir Menschen sind ja gar nicht so arg grausam! Mild und engelsgut sind wir im Vergleich mit jener unbekannten Macht, der wir sterbend noch die unerbittlichen Hände küssen! Denn uns leitet doch immer ein Zweck, manchmal gar ein liebevoller, hilfreicher Gedanke. Aber dies andere geschieht oft rein wie aus teuflischer Grausamkeit, ohne jeden Sinn, ohne jeden vernünftigen Zweck ...«

Plötzlich, wie aus Träumen auffahrend, brach er sein Hin- und Widerschreiten ab und kehrte an seinen Schreibtisch zurück. Und indem er die Asche seiner Zigarre fortschnippte, setzte er in seiner gewöhnlichen, ruhig überlegenen Art hinzu: »Das heißt – ohne Sinn und Zweck ... Scheinbar allerdings. Schließlich können wir's gar nicht bestimmt wissen. Der Schnauzer wußte auch nicht, warum ich ihm ein Stück Hirnrinde herausgeschnitten habe ...«

Er blickte nach der Uhr. »Und jetzt Schluß!« sagte er mit einem leichten Anflug von Ungeduld. »Tragen Sie endlich den Kadaver hinaus und lassen Sie den Wagen vorfahren. Ich muß zu einem Konsilium.«


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