Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Salto mortale

In einer Herrengesellschaft lenkte sich das Gespräch auf eine gerade damals viel erörterte Gerichtsverhandlung, in der ein angesehener Mann, ein Fabrikdirektor, zu einer schweren Gefängnisstrafe verurteilt worden war. Er hatte im Drang der Geschäfte oder aus Unachtsamkeit es unterlassen, in seinem Betrieb eine Schutzvorrichtung anzubringen, die ihm vom Gewerbeinspektorat vorgeschrieben worden. Die Versäumnis erstreckte sich eigentlich nur auf wenige Tage, dann wäre er dem behördlichen Auftrag ohne Zweifel nachgekommen. Aber das Unglück wollte es, daß gerade in diesen Tagen zwei Arbeiter, die sich übrigens der Anbringung jener Schutzvorrichtung hartnäckig widersetzt hatten, weil sie überflüssig und nur hinderlich sei, in die Maschine gerieten, wobei der eine von ihnen eine schwere Verstümmelung erlitt, der andere seine Unvorsichtigkeit gar mit dem Leben büßen mußte.

Indessen gab es, wie sehr man diese Opfer immer beklagen mochte, doch solche, die auch dem Fabrikdirektor ihre Teilnahme nicht versagten. Insbesondere nahm in jenem engen Kreise ein Großkaufmann in mittleren Jahren, der, schon von Haus aus wohlhabend, durch geschäftliche Tüchtigkeit hoch hinaufgekommen war, ihn lebhaft in Schutz, indem er die Ansicht vertrat, der Fabrikdirektor sei zwar gewiß nicht ganz ohne Schuld gewesen, dennoch aber kaum schuldiger als unzählige andere, die sich in nichts von ihm unterschieden, als daß sie weniger Pech gehabt hätten.

Ein höherer Beamter, der für ein Muster von Tadellosigkeit galt und sich ebenfalls in der Gesellschaft befand, widersprach.

»Und selbst wenn Sie recht hätten,« sagte er mit einem Anflug von Ungeduld: »Daraus, daß mancher Leichtfertige durchrutscht, läßt sich doch nicht folgern, daß ein der Leichtfertigkeit Überwiesener straflos ausgehen soll? Oder gehören Sie zu denen, die Schuld überhaupt leugnen, und wollen Sie für alles Geschehen statt der Menschen den bösen Zufall verantwortlich machen?«

»Durchaus nicht!« wehrte sich der andere. »Aber die gesellschaftliche Achtung, wie sie eine Gefängnisstrafe mit sich bringt, sollte nach meinem Gefühl nur da verhängt werden, wo die Absicht keine einwandfreie war. Ein Versehen, ein vorübergehendes Sichvergessen muß nicht notwendig eine Leichtfertigkeit, ein Versäumnis noch lange keine Gewissenlosigkeit sein. Wohl mancher unter uns hat in seinem Leben einmal einen schwachen Augenblick gehabt, in welchem er irgend etwas tat oder unterließ, worüber er, wollte es das Unglück, hätte straucheln, vielleicht sogar den Hals brechen können ... Ich selbst«, sagte er nachdenklich geworden, »erinnere mich einer kitzlichen Sache, deren Folgen gar nicht abzusehen gewesen wären, wenn – ja, wenn sie eingetreten wären. Sie blieben aus, und ich kam mit dem Schrecken davon. Aber es wäre pharisäisch, wollte ich nicht offen bekennen, daß ich damals mindestens ebenso schuldig – nein! viel schuldiger gewesen bin als jener Fabrikdirektor.«

Er lächelte, indem er hellen Auges um sich blickte, von einem zum andern.

»Bloß mehr Glück hatte ich in jenem Falle. Das ist alles!«

*

Jahre sind es her, ich diente zu jener Zeit bei der Feldartillerie und war als Reserveoffizier eingerückt, um das feldmäßige Schießen mitzumachen, als unsere Batterie an einem fast unerträglich heißen Spätsommerabend in einem armseligen Dorfe nahe der ungarischen Grenze ihren Einzug hielt. Die Unterbringung der Pferde und Mannschaft in den nicht zahlreichen und fast durchweg dürftigen Gehöften machte nicht geringe Schwierigkeiten, und der Quartiermacher hatte sich nicht anders zu helfen gewußt, als indem er die einzelnen Teile des zusammengehörigen Truppenkörpers trennte und fast jedes Paar der Bespannungspferde bei einem anderen Bauer einstellte. Der Quartierzettel, den ich für mich selbst in Empfang nahm, wies mich nach einem herrschaftlichen Schlosse, das etwa zwei Kilometer vom Dorfe entfernt lag.

Mein Pferd war übermüdet, aber es mochte ahnen, daß es nun endlich zur Krippe ging, und nahm seine letzten Kräfte zusammen. Eine Viertelstunde später ritt ich in den Schloßhof ein. Ein herrschaftlicher Stallbursche, der bereits auf mich gewartet zu haben schien, übernahm mein Tier und rief ein paarmal in den Flur hinein nach dem »Herrn Haushofmeister«. Darauf erschien ein Mann mit pechschwarzem Krauskopf und scharf ausgeprägten bartlosen Zügen, der eigentlich aussah wie ein Schmierenschauspieler, den man in eine seine Livree mit silbernen Knöpfen gesteckt hatte. Er forderte mich mit großer Würde auf, ihm in den ersten Stock zu folgen, wo mein Zimmer bereitstünde. Ich ließ mir das nicht zweimal sagen, denn ich hatte eine wahre Sehnsucht nach Waschwasser und einem Ruhebett, um meine müden Glieder darauf auszustrecken. Mein erster Blick, als ich das geräumige Zimmer betrat, galt diesen Dingen, und mit Befriedigung bemerkte ich auf dem marmornen Waschtisch ein Becken, das jedem Goliath recht gewesen wäre, nebst einem Krug von der Höhe einer römischen Amphora, nur daß er bedeutend dickbauchiger war. Wer jemals Scheinkrieg spielend eine Woche lang in sengender Hitze auf staubigen Landstraßen umhergeritten ist, um abends in den verschiedenen mangelhaften Unterkünften ein Waschschüsselchen vorzufinden, daß in der Regel kaum viel größer war als eine Kaffeetasse, der begreift mein Entzücken. Auch ein Diwan befand sich in meinem Zimmer, so lang und breit, wie ich es nur wünschen mochte.

»Es ist gut, ich danke,« sagte ich zu dem Haushofmeister in der Absicht, ihn zu verabschieden.

Er verneigte sich und bemerkte mit einem eigentümlich steinernen Lächeln, das mich an das Lächeln der Zirkusleute erinnerte, wenn sie für Beifall danken: »Die Frau Baronin lassen um sieben Uhr zum Diner bitten.«

Ich gestehe, daß ich über diese Einladung nicht eben erfreut war; ein paar Beefsteaks mit Spiegeleiern auf mein Zimmer serviert, und zwar so bald als möglich, sowie ein tüchtiger Krug Bier dazu, das wäre mir in der Verfassung, in der ich mich befand, willkommener gewesen. Indessen behielt ich Lebensart genug, meine Gedanken vor dem sonderbaren Haushofmeister verborgen zu halten, und indem ich ihm meine Karte überreichte, beauftragte ich ihn, bei der Baronin anzufragen, wann ich mir die Freiheit gestatten dürfe, meine Aufwartung zu machen.

Er nahm die Karte in Empfang, stellte sie mit einer Ecke aufrecht auf die Spitze seines Zeigefingers, wo sie merkwürdigerweise ruhig stehen blieb wie eine Kerzenflamme, und sagte mit demselben steinernen Lächeln von vorhin: »Um halb sieben, vor dem Diner,« worauf er sich abermals verneigte und mich allein ließ. Meine Besuchskarte trug er auf dem Zeigefinger mit fort, ohne daß sie heruntergefallen wäre oder auch nur gewackelt hätte, gerade als sei dies die natürlichste und einfachste Art, eine Visitenkarte zu tragen.

Mir konnte es schließlich gleichgültig sein, wie er sie trug, ich legte die verstaubte Bluse ab und tauchte meinen Kopf ins Waschbecken, wobei mir zumute war wie einem Fisch, der nach langem Zappeln auf dem trockenen Sande durch einen glücklichen Sprung den Weg in die Flut zurückgefunden hat. Nachdem ich mich genügend erquickt und aus dem Gepäck, das mein Bursche inzwischen gebracht, einen funkelneuen Waffenrock hervorgesucht und angelegt hatte, streckte ich mich wohlgemut auf den Diwan und ließ den Rauch einer Zigarette zur weißen Decke steigen, die mit lustigem Rokokostuck ausgefüllt war. In dieser Tätigkeit wurde ich bald durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen, ein mir befreundeter Dragoneroffizier trat ein, Oberleutnant von Höchstorff. Meine Batterie war eine reitende, und wir manövrierten gemeinsam mit der Kavallerie. Ich hatte aber nicht gewußt, daß außer mir noch andere Offiziere in diesem Schlosse einquartiert waren.

»Liegt ihr ebenfalls hier?« fragte ich.

»Bloß meine Schwadron,« sagte er; »aber diesem Hause ist Heil wiederfahren: die Gottobersten wohnen unter seinem Dache.«

Wer alles da sei? wollte ich wissen. Und er eröffnete es mir: »Das ganze Oberkommando und der Stab der dritten Brigade.«

Der Gedanke, mich in so glänzender Gesellschaft zu befinden, war mir nicht ganz behaglich, ich wäre lieber mit meinen engeren Kameraden allein gewesen. Aber die lagen eine halbe Stunde entfernt in einem andern Herrensitz, dessen Name mir entfallen ist. Ich wußte, daß Höchstorff den Gotha'schen im kleinen Finger hatte, und erkundigte mich nach der Baronin, die unsere Wirtin war, und ob auch der Baron anwesend sei?

»Der alte Herr ist schon gestorben,« sagte er; »und mit seiner Witwe, der Freifrau, sind das so eigene Geschichten ...«

Was für eine Geborene sie sei? Er lachte; die sei überhaupt keine Geborene, behauptete er.

»Wenigstens nicht adlig, kapierst du?«

Er näherte sich meinem Ohr, und hielt die Hand an den Mund: »Eine vom Brettl ist sie gewesen.«

Eine Ahnung ging mir auf: »Und der komische Haushofmeister, der da herumspaziert?«

»Mit dem soll sie einst gearbeitet haben, wie die Artisten sagen. Ein ehemaliger Kollege – du verstehst? Ich bin gespannt, sie kennen zu lernen.«

Jetzt bemächtigte sich natürlich auch meiner eine gewisse Neugierde. Es war an der Zeit, uns zum Empfang einzufinden, der in einem großen, ebenerdig neben dem Speisesaal gelegenen Salon stattfand. Es glitzerte darin bereits von Orden und goldenen Kragen, ich wurde der Hausfrau vorgestellt und prallte fast zurück. Ein flüchtiges Aufleuchten ihres Auges sagte mir, daß sie mich wiedererkannt hatte wie ich sie. Ich beugte mich nieder und küßte ihre Hand. In demselben Augenblick riß ein Lakai die Flügeltüren auf und meldete, daß serviert sei. Sie erhob sich und rauschte am Arm einer kahlköpfigen Exzellenz in den Speisesaal, wo eine lange glänzende Tafel unter gläsernen Kronleuchtern gedeckt stand, an denen unzählige Wachskerzen brannten.

Als Subalterner von der Reserve saß ich natürlich am untersten Ende und konnte sie nur über Blumenaufsätze hinweg und zwischen Weinflaschen hindurch erblicken, wenn ich mich vorneigte. Sie unterhielt sich lebhaft mit ihren Nachbarn, sah verführerisch aus und schien kaum älter geworden, obgleich sechs oder sieben Jahre verstrichen waren, seit ich sie gekannt hatte, und sie schon damals in der Mitte der Zwanzig gewesen sein mochte. Das reich aufgesteckte glänzende Haar schimmerte unter den vielen Lichtern wie rotes Gold, und von den reizenden Ohrmuscheln wie im tiefen Ausschnitt des Kleides blitzten prächtige Solitärs bis zu mir herüber, funkelnden Tauperlen auf den Blütenblättern einer bleichen Rose vergleichbar – jener unbeschreiblich zarten, mattweißen Haut der Rotblonden. Nicht überflüssig übrigens zu bemerken, daß sie die gewandten Umgangsformen einer vollendeten Dame hatte.

Das Essen war auserlesen und die Weine suchten ihresgleichen. Meine Nachbarn, gleichgültige Truppenoffiziere, deren Gesichtskreis über den alltäglichen Dienst nicht weit hinausreichte, nahmen mich wenig in Anspruch, ich konnte meinen Erinnerungen nachhängen.

Das war auf dem Lido gewesen, da ich sie zum erstenmal gesehen hatte, bei einem Konzert auf der großen Veranda der Badeanstalt. Sie befand sich in Gesellschaft eines hochgewachsenen und vornehm aussehenden alten Kavaliers, dem ein prächtiger weißer Bart bis in die halbe Brust reichte. In meiner Unschuld hatte ich sie zuerst für seine Tochter gehalten. Aber von Zeit zu Zeit traf mich ein seltsamer Blick, einer jener wissenden, auf Abenteuer ausziehenden Blicke, die bereit scheinen, Verrat zu üben. Ich saß ihr gegenüber an einem Tischchen im Anblick des Meeres, während unten die Wogen rauschten und die Badenden Lärm schlugen, und beobachtete sie, wie sie eine Erfrischung zu sich nahm. Nebenbei bemerkt, war ich jung und noch unverheiratet. Sie werden von mir nicht verlangen, meine Herren – na, ich denke, es kann mir niemand übelnehmen, daß ich mich für die Dame interessierte. Sie war damals – ich will nicht gerade sagen eine Schönheit ersten Ranges, aber jedenfalls eine auffallende und pikante Erscheinung.

Ich sah sie dann noch öfter, und einmal, an einem Abend, sah ich das Paar auf der Riva in ein Hotel treten. Von da ab richtete ich es so ein, daß ich manchmal in diesem Hotel speiste. Der Zufall war mir gleich das erstemal günstig, ich kam in ihrer Nähe zu sitzen. Gelegenheit zu unscheinbaren kleinen Gefälligkeiten ergab sich wie von selbst. Der stattliche alte Herr war ein ungarischer Magnat und trug einen klangvollen gräflichen Namen. Er plauderte gern und war leicht zugänglich, ich machte seine Bekanntschaft. Sie galt für seine Frau und ließ sich Gräfin nennen. Ich wurde natürlich auch mit ihr bekannt. Unser Gespräch war oberflächlich und heiter, hie und da blieb ich noch nach dem Essen, und wir saßen im Gesellschaftsraum des Hotels oder auf dem Balkon, oder gingen noch gemeinsam auf dem Markusplatz spazieren, oder fuhren in einer Gondel – kurz, wir hatten uns bald alle drei aneinander gewöhnt und verbrachten manchen harmlosen Abend zusammen, indem wir uns die Zeit vertrieben, wie man es eben als Fremder in Venedig tut.

Einmal war der Graf nicht ganz wohl und zog sich bald nach der Abendmahlzeit auf sein Zimmer zurück. Ich saß mit ihr im Damensalon, da sagte sie unvermittelt: »Haben Sie eigentlich daran geglaubt, daß ich seine Frau bin?«

Ich war ehrlich und verneinte.

»Also brauchen wir uns kein Blatt vor den Mund zu nehmen,« meinte sie wie erleichtert.

Und sie erzählte mir allerlei aus ihrem Leben.

Der Graf hatte sie »ausbilden« lassen. Seit er Witwer geworden, reiste sie manchmal mit ihm, natürlich nur im Ausland.

»Er ist Gentleman durch und durch und ein scharmanter Mensch,« sagte sie; »ich hab ihm viel zu verdanken. Sie müssen nicht glauben, daß bei mir etwas zu holen ist – o nein, so eine bin ich nicht! Höchstens wenn mich einer heiraten wollte – dann könnte aber auch mein Graf nichts dagegen haben. Aufrichtig gesagt, möcht' ich für mein Leben gern in geordnete Verhältnisse kommen. Mit der Gymnastik ist es nicht gar so weit her, und mit dem bissel Singen und Tanzen steckt man schon gar nichts mehr auf – überhaupt die Kunst! ... Und was für eine Konkurrenz heutzutage!«

Sie machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand.

»Wissen Sie, das ist so,« sagte sie: »Wenn man nicht was kann, das sonst keiner kann, so ist die Kunst ein brotloses Vergnügen. Im Orpheum habe ich einmal einen Kollegen gesehen, der ist in ein ganz enges Faß hineingekrochen, das war so hoch wie der ganze Mensch. Ein zweites, ganz gleiches Faß wurde in einiger Entfernung davon aufgestellt. Und jetzt ist der Kerl mit einem großartigen Salto aus seinem Faß ins andere hinübergesprungen. Sehen Sie, das war sensationell, das war eine Attraktion! Es ist aber auch jedesmal vor seiner Nummer eine Tafel ausgehängt worden, darauf stand geschrieben, daß er der einzige Mensch auf der Welt sei, der aus einem engen Faß in ein anderes enges Faß springen könne, und die Leute applaudierten wie nicht gescheit. Weil er eben wirklich der einzige war. Ja, wenn man so etwas kann, dann ist man freilich aus dem Wasser. Ich wollt', ich hätt' auch so eine Spezialität. Aber das ewige Reckturnen und die Luftakrobatik, das wird ja den Leuten schon fad. Und das Singen und Tanzen erst recht – ich bitt' Sie! So ein bißel Stimm' hat bald eine, und die Beine schon gar! ...«

»Dafür besitzen Sie wenigstens einen richtigen Mäzen,« sagte ich belustigt.

»No ja, das ist freilich auch etwas wert,« meinte sie naiv; »man muß halt zufrieden sein. Übrigens hätte er mich ohnedies geheiratet, aber seine Kinder, die schon erwachsen sind, wollen es halt durchaus nicht zugeben, und das begreif' ich auch ganz gut. Überhaupt – Unfrieden stiften in einer Familie, das mag ich nicht; geht's nicht, so geht's nicht, da läßt sich einmal nichts machen. Vielleicht findet sich gelegentlich ein anderer, der anbeißt.«

»Das wäre eigentlich auch so eine Art Salto ans einem Faß ins andere hinüber,« meinte ich.

»Warum?« fragte sie. »Was hat das mit dem Faß zu tun?«

Ich erklärte ihr, wie ich es meinte.

»Der Einzige zu sein auf der Welt, darauf kommt es an – sagten Sie nicht so? Also! Wenn einer sich in Sie verliebt, so sind Sie die einzige für ihn auf der Welt. Und wenn das ein vornehmer oder wenigstens reicher Herr ist, so springen Sie mit der größten Leichtigkeit vom Brettl in den Ehestand und in die gute Gesellschaft hinüber.«

Sie lachte.

»Auf so einen Glücksfall darf man sich halt nicht verlassen,« meinte sie; »inzwischen muß ich schon schauen, daß ich mir auch irgendeine Spezialität zuleg'. Denken Sie einmal darüber nach, wenn Sie Zeit haben, ob Ihnen nichts einfällt. Etwas recht Apartes müßt' es sein, ein Trick, der wirklich Aufsehen macht.«

Ich wußte nicht, wie weit es mit ihrer Kunst her sei, und meinte, ein Salto mortale werde aber darin nicht vorkommen dürfen?

Da maß sie mich ganz gekränkt von oben herab: »Warum denn nicht? Soviel werd' ich doch noch zusammenbringen! Was glauben Sie denn von mir?«

Das alles kam mir jetzt in die Erinnerung zurück, wie ich sie als vornehme Dame und liebenswürdige Wirtin an der Spitze der glänzenden Offizierstafel sitzen sah. Ich hatte seither nichts mehr von ihr gehört und wußte nicht, was sie inzwischen erlebt haben mochte. Nur den Tod des Grafen erinnerte ich mich einmal aus den Tageszeitungen erfahren zu haben. Er war so unglücklich gewesen, bei einem Sturz vom Pferde das Genick zu brechen. Das hatte sich bald nach unserem Zusammensein in Venedig ereignet. Sie selbst war mir ganz aus den Augen entschwunden, ich kannte auch weder ihren richtigen, noch ihren Künstlernamen. Daß es ihr nun wirklich gelungen schien, in den ersehnten Ehehafen einzulaufen, machte mir Spaß. Freifrau war sie geworden, anscheinend sehr wohlhabend und – was unter den gegebenen Umständen vielleicht auch zu den Errungenschaften zählte – Witwe. Eine Exzellenz rechts, eine Exzellenz links machten ihr den Hof. Ich hätte so gern die Bekanntschaft wieder aufgefrischt und mich mit ihr unterhalten. Aber wie fern war ich ihrer Pracht, ich, der Niemand in diesem von Orden strotzenden Kreise! Indessen hoffte ich auf später; nach aufgehobener Tafel wollte ich versuchen, mich ihr zu nähern.

Eben knallten die ersten Schaumweinpfropfen, da rief ein Diener mich ab. In den Flur tretend, fand ich einen Kanonier auf mich warten, der mir das Befehlsbuch überbrachte. Warum er nicht früher gekommen sei? fragte ich. Er entschuldigte sich, er hätte in der Dunkelheit den Weg nach dem Schlosse verfehlt und sei irregegangen. Beim Schein eines Handleuchters, den der Diener hielt, durchflog ich den Befehl und erfuhr, daß ich zum Aufführen der Warnungsposten für das morgige Schießen kommandiert war. Das sind, wie die Herren wissen, jene Posten, die dazu bestimmt sind, Straßen und Wege abzusperren. Denn wenn in einem Gelände scharf geschossen wird, noch dazu auf Entfernungen, wie es die Artillerie tut, so muß natürlich jeder Verkehr davon ferngehalten werden. Jeder Fußgänger, der den verbotenen Raum beträte, jedes Fuhrwerk, das hindurchführe, würde sich der größten Gefahr aussetzen.

Ein ausführliches Verzeichnis aller Punkte, wo Posten aufgestellt werden sollten, lag bei, ich steckte es zu mir, unterschrieb den Befehl und begab mich in den Speisesaal zurück. Ich war entschlossen, diese Nacht überhaupt wach zu bleiben. Die Kanoniere, die unter meinem Kommando zum Postendienst befohlen waren, hatten um drei Uhr morgens im Dorfe drüben unter Führung eines Feuerwerkers bereitzustehn. Ich überschlug, daß ich um halb, spätestens dreiviertel im Sattel sitzen mußte, wollte ich mich rechtzeitig an ihre Spitze stellen. Von der Gasterei bei der Baronin versprach ich mir aber, daß sie gegen Schluß, wenn die hohe Generalität sich zurückgezogen hätte, erst recht fröhlich werden und Mitternacht lange überdauern würde. Um auf keinen Fall zu verschlafen, war es das Klügste, ich ging gar nicht mehr zu Bett. So blieb mir auch noch genug Zeit übrig, die Generalstabskarte zu studieren, bevor ich ausritt. Denn ich kannte Gegend und Gelände nicht und mußte mir unbedingt die Stellen, wo Posten aufzuführen waren, mit Zuhilfenahme der Karte noch gut einprägen, ehe ich an die Ausführung meiner Befehle schreiten konnte.

Als ich wieder den Saal betrat, erschollen gerade stürmische Hochrufe auf die Hausfrau. Alle Offiziere hatten sich erhoben und zogen an ihr vorüber, einer nach dem andern, um mit ihr anzustoßen. Ich ergriff rasch einen Kelch und stellte mich in die Reihe. Als unsere Gläser zusammenklangen, verneigte ich mich leicht, sah ihr fest in die Augen und sagte, so daß nur sie es hören konnte: »Gnädigste Baronin – meinen herzlichen Glückwunsch!«

Sie stutzte, stieß an meinen Kelch und nippte aus dem ihrigen, sagte aber nichts, und ich kehrte auf meinen Platz zurück.

Mit Neid beobachtete ich, wie am oberen Ende der Tafel, rings um die Baronin herum, die Unterhaltung immer angeregter wurde. Die Exzellenzen stießen wiederholt mit ihr an und dachten gar nicht daran, sich zur Ruhe zu begeben. Es wurden ungeheure Mengen Moët und Chandon vertilgt. Schließlich, nach aufgehobener Tafel, begab man sich in den anstoßenden Salon zurück, wo der schwarze Kaffee gereicht wurde. Sie war beständig von einem dichten Kreise goldener Kragen belagert, unmöglich für mich, an sie heranzukommen. Träge schlichen die Viertelstunden hin, bis endlich der Kognak seine Wirkung tat und die Generale anfingen, sich auf ihre Zimmer zurückzuziehen. Mir fiel jedesmal ein Stein vom Herzen, so oft wieder einer verschwunden war.

Jetzt verloren auch die Stabsoffiziere sich nach und nach, und Höchstorff fand, daß es hoch an der Zeit sei für die älteren Herrn, die eine schlaflose Nacht gleich umwerfe. Er war jung wie ich und hoffte ebenfalls noch auf eine kleine Fidelität mit der Baronin. In diesem Alter haben einem durchwachte Nächte noch nichts an, vorausgesetzt, daß sie lustig sind. Für die Herren mit den goldenen Kragen aber war es wirklich schon spät geworden, denn am andern Morgen hatten sie ja alle früh auszurücken, wenn auch nicht gerade so früh wie ich. Ich war am schlimmsten daran, ich war der Pechvogel, denn die Warnungsposten mußten natürlich bis zur Stunde, wo der Beginn des feldmäßigen Schießens angesetzt war, längst aufgestellt sein. Aber gerade ich dachte am allerwenigsten daran, unserer liebenswürdigen Wirtin jetzt schon Gutnacht zu sagen, ich sah Zeit genug vor mir, hatte ich doch beschlossen, gar nicht erst zu Bett zu gehen.

Es fing nun wirklich an, unterhaltsam zu werden. Die meisten Herren hatten sich zurückgezogen, schließlich hielten nur noch fünf oder sechs von den leistungsfähigsten Kameraden mit mir aus, durchweg schneidige Kavalleristen. Es ging toll zu, ein Rittmeister setzte sich an den Flügel und sang Bänkel, die ein bißchen auf der Schneide hintänzelten. Das regte die Baronin sichtlich an, sie gab Chansons zum besten, die immer graziös blieben, wenn sie auch, wie ich zugeben muß, reichlich gewürzt waren.

Sie war ganz nüchtern geblieben, wurde, obgleich oder weil sie so gut wie nichts getrunken hatte, immer aufgeräumter, und als der Rittmeister die Klavierbegleitung übernahm, tat sie sich als Tanzsängerin auf; es war reizend, wie sie das Kleid hob und ihren entzückenden Fuß sehen ließ, und manchmal auch das prachtvoll geformte Bein. Sie tanzte mit großer Anmut, wenn auch etwas wild, und was sie, ich glaube in spanischer Sprache, dazu sang, klang oft kaum wie ein Singen, sondern erinnerte mehr an jene kurzen befeuernden Schreie, welche Zirkusreiterinnen ausstoßen, wenn sie auf einem Nudelbrettschimmel durch brennende Reifen springen.

Bald wurden wir alle von einem förmlichen Wirbel ergriffen, schlugen den Salonteppich zurück und walzten wie die Wahnsinnigen. Die Baronin flog von Arm zu Arm, ihr Atem sengte wie Feuerhauch, ihr Gesicht strahlte vor Glückseligkeit, ihre Augen jauchzten förmlich in toller Lust. Abwechselnd trommelte einer von uns aufs Klavier, die übrigen drehten sich wie verrückt im Kreise, Offizier mit Offizier, wenn es nicht anders ging; bis die, welche es satt hatten, ohne Dame zu tanzen, übereinander herfielen und sich gegenseitig die Baronin aus den Armen rissen, der es ganz gleich war, mit wem sie tanzte. Wie die Weiber in den Urzeiten folgte sie dem Stärkeren und schmiegte sich an jeden, dem es gelungen war, sie den andern abzujagen.

Wie gerade ich wieder einmal dieser Glückliche war, spürte ich auf einmal ihre ganze süße Last in meinen Armen, sie ließ sich einfach fallen, und ich mußte sie halten. Unter fortwährendem Lachen stöhnte sie: »Genug, genug, ich kann nicht mehr, ich kann nicht!«

Ich trug sie zu einem Diwan, setzte mich ihr knapp gegenüber in einen weichgepolsterten Armstuhl und betrachtete sie. Sie kam mir jetzt geradezu schön vor mit ihren geröteten Wangen und den vor Vergnügen feuchtglänzenden Augen. In der Hand bewegte sie einen großen Schildpattfächer mit schwarzem Straußfedernbesatz, während ich mir mit dem Taschentuch Kühlung zuwehte.

»Warum haben Sie mich vorhin, als Sie mit mir anstießen, eigentlich beglückwünscht?« fragte sie jetzt unvermittelt.

»Weil Ihnen der große Salto so gut gelungen ist.«

Sie begriff sofort, wie ich es meinte, und zeigte lachend ihre prachtvollen Zähne.

»Ach, mein Gott, ich bitt' Sie! Es war eigentlich viel lustiger – früher ... Ich hätt' es auch gar nicht mehr notwendig gehabt, das Heiraten. Mein Trick hat immer wieder gezogen, und das Geschäft ist gut gegangen.«

»Sie hatten sich also wirklich eine Spezialität ausgedacht?« fragte ich.

»Ja und ob! Etwas ganz Sensationelles! Das hat ja meinem Baron so imponiert. Glauben Sie, der hätt' mich sonst geheiratet? Sie, das war ein Kenner! Oh, ich hab' mir den Ehestand ehrlich verdient, das können Sie mir glauben!«

Ein Husarenleutnant trat auf sie zu und sagte ihr viel Artiges über ihren spanischen Tanz.

»Da ist gar nichts dabei,« sagte sie, »da kann ich schon noch andere Sachen!«

Ich fragte, worin ihr Trick eigentlich bestehe?

»Das werd' ich Ihnen doch nicht auf die Nase binden?« lachte sie ... »Übrigens – wenn es Ihnen Spaß macht, geb' ich Ihnen einmal eine Sondervorstellung. Ihnen ganz allein, weil wir alte Bekannte sind. Sonst kriegt jetzt niemand mehr etwas von mir zu sehen, es würde sich auch für eine Baronin nicht schicken. Aber zu meinem Privatvergnügen arbeite ich noch immer; man kommt sonst ganz aus der Übung.«

Der Husar, der etwas von einer Sondervorstellung aufgeschnappt hatte, schlug Lärm: »Die Baronin will die Gnade haben, uns eine Vorstellung zu geben – bravo, bravo!« Und alle Offiziere begannen in die Hände zu klatschen.

»Was Ihnen nicht einfällt!« meinte sie lachend; »und heute doch nicht mehr –?«

»Natürlich, natürlich! Heute noch! Wenn Sie nicht zu müde sind? Bitte, bitte!« riefen alle wie aus einem Munde und das Klatschen wurde immer stürmischer.

Sie lauschte lächelnd dem Beifall und sagte mit einem fast wehmütigen Zucken um die Lippen: »Es klingt doch ganz eigen.«

Plötzlich erhob sie sich.

»Also, weil wir schon so lustig beisammen sind! Wenn es euch Spaß macht, meinetwegen – daß keiner sich einbildet, solch kleiner Exzeß werfe mich gleich um. Lang bitten hab' ich mich nie lassen, und eigentlich bin ich auch gerade in der richtigen Stimmung.«

Sie rauschte zur Tür und wendete sich noch einmal gegen uns um: »Bloß Toilette muß ich erst machen, das dauert eine Weile. Also ein bissel Geduld, wenn ich bitten darf. Und dann, meine Herren, selbstverständlich: Diskretion – Ehrensache!«

Darauf verneigte sie sich mit unnachahmlicher Anmut und ließ uns allein. Wir ergingen uns in den abenteuerlichsten Mutmaßungen, was jetzt kommen würde, und waren natürlich furchtbar gespannt. Die Baronin ließ uns so lange warten, daß wir schon zu argwöhnen anfingen, sie hätte uns zum besten. Aber gerade wie unsere Ungeduld ihren Höhepunkt erreicht hatte, erschien ein Diener und meldete, die Frau Baronin lasse sagen, es werde gleich losgehen. Zugleich reichte er uns vorzügliches frisches Pilsner Bier. Wir wurden wieder zuversichtlich, das kühle, prickelnde Getränk regte unsere Lebensgeister an, und wir begannen sechs-, acht- und zehnhändig Klavier zu spielen und ebenso vielstimmig, als wir Offiziere waren, dazu zu singen.

So verging uns die Zeit leidlich rasch, und der Lärm, den wir schlugen, war so groß, daß wir einen Mann, der in den Salon getreten war und sich uns näherte, eine gute Weile gar nicht bemerkten. Es war der Haushofmeister, der Herr in der eleganten Livree mit den Silberknöpfen, dessen Bekanntschaft zu machen ich schon bei meiner Ankunft die Ehre gehabt. Er lud uns ein, ihm zu folgen, und führte uns in einen großen hellerleuchteten Saal, der völlig schmucklos und ähnlich wie ein Turnsaal eingerichtet war. An der einen Schmalseite stand eine Reihe Sessel, auf denen Platz zu nehmen er uns mit jenem steinernen Lächeln, das ich schon an ihm kannte, und einer herablassenden Handbewegung aufforderte.

Kaum saßen wir, so trat hinter einem samtenen, mit Silber durchwirkten Purpurvorhang, der das andere Ende des Saales unseren Blicken entzog, die Baronin hervor. Sie war in weißem Seidentrikot, trug hochgeschnürte weiße Atlasschuhe, Pagenhöschen und Jäckchen aus weißem Atlas, der von Silberflitter glitzerte, und warf uns Kußhände zu. Der Haushofmeister reichte ihr die Hand, sie neigte sich zurück, sprang auf seinen eingekrümmten Arm, seine Schulter und schwang sich im nächsten Augenblick in ein paar Ringen, die hoch an der Decke hingen.

Es folgte nun ein sehr gewandt ausgeführter Luftakt. Sie steckte die Beine durch die Ringe und saß darin, sie ließ sich plötzlich in die Kniekehlen fallen und schwang mit dem Kopfe abwärts hin und her, glitt noch tiefer herab und hing nur mit den Zehen der Füße in den Ringen, schließlich bloß mit den Zehen eines einzigen Fußes. Jetzt zog sie sich wieder empor, hielt die Ringe mit den Händen, ließ im Schwung eine Hand los, ließ beide Hände los und trug die ganze Last ihres Körpers mit dem Kinn. Und dann faßte sie wieder mit den Händen zu, drehte sich wie ein Rad, schwang sich fast bis an die Decke, ließ plötzlich beide Ringe los und flog durch die Luft auf ein anderes Paar Ringe hinüber, ließ im Rückschwung auch diese los und durchschnitt abermals die Luft, um rücklings zu den Ringen zurückzufliegen, auf denen sie sich zuerst geschwungen hatte.

Jedermann kennt die verschiedenen Überraschungen der Luftgymnastik, jedermann hat sie im Zirkus oder in Rauchtheatern von mehr oder minder geschickten Artisten ausführen sehen. Diesmal gewannen sie für uns einen ganz besonderen persönlichen Reiz, wir glaubten nie etwas so Hübsches, so Graziöses, so Halsbrecherisches gesehen zu haben. Die Baronin war unerschöpflich. Von den Ringen ging sie zur Stange über, von der Stange zum Seil, vom Seil zum Schwebereck, auf dem sie die kühnsten Wellen ausführte. In gewissen Zwischenräumen sprang sie aus der Höhe, fast von der Decke des Saales, mit einem kleinen aufreizenden Schrei herunter und stand auf den Schultern des Haushofmeisters, der ihr als sachverständiger Gehilfe bei allen Übungen die nötigen Handreichungen leistete. Dann lächelte sie uns bestrickend zu und sandte mit den etwas gezierten Armbewegungen der herkömmlichen Gebärdensprache Kußhände nach allen Seiten aus. Und im nächsten Augenblick stemmte sie ihre Handballen wieder gegen die emporgehobenen Hände ihres Gehilfen, stand ruhig wie eine Flamme, die Fußspitzen nach oben, erwischte mit der Ferse irgendeinen Halt in der Luft und zog sich wieder an die Saaldecke empor.

Wir kargten nicht mit unserer Bewunderung und klatschten rasend Beifall. Sie saß jetzt hoch oben auf dem Schwebereck still und schaukelte nicht mehr. Der Haushofmeister zog einen länglichen Gegenstand aus der Brusttasche, ließ ihn wie zufällig fallen und schnellte ihn mit einer kaum merklichen Bewegung der Fußspitze aufwärts, daß er wie ein Pfeil gerade in ihre Hand flog. Es war eine niedliche silberne Pistole. Sie spielte lässig damit, zog den Hahn auf, zielte in die Luft hinaus und ließ die kleine Waffe schließlich auf der Spitze ihres rechten Zeigefingers wie einen Kreisel sich drehen, während sie mit der anderen Hand kokett an ihrem Haar ordnete. Sie schien eine kleine Weile ausruhen und neue Kräfte sammeln zu wollen. Der Haushofmeister hing inzwischen eine Tafel aus. Es stand mit großen roten Lettern darauf geschrieben: »Welt-Unikum!«

Wir wußten, daß jetzt das Ganzgroße kam, das Sensationelle. Einer jener Tricks, die auf der Überbrettlbühne die Musik verstummen machen, daß das ganze Haus mit angehaltenem Atem erwartungsvoll lauscht. Und wir saßen gespannt und lautlos, man hätte eine Stecknadel fallen hören.

Jetzt klatschte der Haushofmeister in die Hände. Er war einen Schritt vorgetreten und stand gerade unter der Baronin, die wie erstarrt auf dem Schwebereck saß. Er hatte die Augen emporgerichtet, die aufmerksame Spannung eines Menschen, der Verantwortung trägt, malte sich auf seinen Zügen. Wir sahen, wie die Baronin sich langsam, langsam rückwärts überneigte, sie hob die silberne Pistole behutsam über die Augen und zielte nach hinten gegen den roten Sammetvorhang, der das Ende des Saales abschloß. Plötzlich ein scharfer Knall, der Vorhang rauschte nieder. Sie hatte die Pistole abgedrückt und die Schnur durchschossen, an der er befestigt gewesen, eine reich gedeckte Tafel stand da, von Armleuchtern mit brennenden Wachskerzen bestrahlt, mit Blumen geschmückt, glitzernd von Silber, Porzellan und geschliffenem Glas.

Und wie mit einem Schlag, fast zugleich mit dem Knallen des Schusses und dem Sinken des Vorhangs, hatte die Baronin sich rücklings herabgestürzt. Irgendwie bekam sie die ausgestreckten Hände des Haushofmeisters zu fassen, der die schlanke, geschmeidige Gestalt über seinen Kopf hinweg nach rückwärts schwang. Sie überschlug sich in der Luft und stand im nächsten Augenblick hoch über dem glänzend gedeckten Tisch auf einem Tafelaufsatz, der sich in mehreren Stufen übereinander aufbaute. Es war eines jener Geräte aus zierlich durchbrochenem Porzellan, wie man sie, mit Süßigkeiten und Naschwerk gefüllt, zum Nachtisch herumreicht. Die Kerzenflammen an den Armleuchtern flackerten im Luftzug, und eine leise Erschütterung klirrte durch den Saal, aber nicht ein einziges Glas war umgefallen. Als wären die Gesetze der Schwere aufgehoben, stand die Baronin, ein Figürchen aus Tragant, inmitten der zerbrechlichen Pracht. Sie warf uns, indem sie die Hände mit den herkömmlichen Bewegungen der Tänzerinnen zu den Lippen führte, Küsse zu, und wir brüllten vor Begeisterung.

Plötzlich höre ich den Oberleutnant von Höchstorff neben mir sagen: »Teufel!«

Ich blicke hin und sehe, daß er seine Uhr in der Hand hält, und daß es bald halb fünf am Morgen ist. Wie ich ins Freie gekommen bin, weiß ich nicht. Es war heller Tag, auf einer Wand des Schlosses lag die volle Sonne. Im Hof bereits reges Treiben, Pferde wurde gestriegelt, Sättel und Riemenzeug geputzt. Mein Tier stand gezäumt, mein Zorn entlud sich über meinen Burschen, der behauptete, mich vergebens gesucht zu haben, überall sei er auf versperrte Türen gestoßen. Diesmal traf ihn in der Tat keine Schuld.

Ich sprang in den Sattel, meinen Tschako hatte ich bei mir, aber keine Kartusche und keinen Säbel. Der Bursche rannte auf mein Zimmer und brachte mir beides. Während ich den Säbel umschnallte und den goldenen Riemen der Kartusche über die Schulter warf, galoppierte ich bereits auf der Landstraße hin, in der Richtung gegen das Dorf.

Die Geschütze meines Zuges standen unbespannt neben dem Dorfbrunnen und sahen mit dem festgeschnallten Pfropfen im Maul so friedfertig als nur möglich aus. Die durften heute vom Kriegshandwerk ruhen, ihre Bedienungsmannschaft sollte ja die Warnungsposten stellten. Ein Kanonier war zur Bewachung zurückgeblieben und stand »Hab Acht«, als ich anritt. Ich fragte nach dem Feuerwerker und der Mannschaft. Was ein Feuerwerker sei, wußte er und deutete mit der Hand ins Gelände hinaus. Auf alle anderen Fragen aber erhielt ich nur jene Antwort, die schon Jahrzehnte vor Ausbruch des Weltkriegs in der österreichischen Armee immer häufiger geworden war: »Nix deutsch!«

Ich war erst seit acht Tagen eingerückt und kannte den Feuerwerker noch nicht genauer. Insbesondere, inwieweit auf seine Umsicht und Verläßlichkeit zu vertrauen wäre, darüber hatte ich kein Urteil. Fort war er mit der Mannschaft, das sah ich. Ich wußte nicht, sollte ich zornig darüber sein, daß er mein Eintreffen nicht abgewartet hatte, oder sollte ich die Hoffnung daraus schöpfen, daß er aus eigenem Antrieb nach dem Rechten sehen würde. Diese altgedienten Unteroffiziere, die in derselben Gegend Jahr für Jahr dieselben Übungen mitmachten, wußten oft viel bester, was zu geschehen habe, als unsereins. Sie benötigten, um Avisoposten auszustellen, kein Verzeichnis der dafür in Aussicht genommenen Punkte, wie ich es in der Tasche trug. War mein Feuerwerker ein solches Juwel? Jedenfalls blieb mir nichts anderes übrig, als ihn zu suchen, um, wenn das Nötige nicht vorgekehrt sein sollte, wenigstens noch das Mögliche zu veranlassen.

In rasender Eile sprengte ich dem Übungsgelände entgegen. Zu spät kam ich auf alle Fälle, denn die ganze Postenlinie zu umreiten, deren Sicherheit mir anvertraut war, dazu benötigte man gut zwei bis drei Stunden. Aber zu meiner eigenen Beruhigung hätte ich mir wenigstens durch eine Stichprobe gerne die Gewißheit verschafft, daß die Posten trotz meiner Nachlässigkeit aufgeführt waren. Ich schonte mein Pferd nicht und mäßigte seine Gangart nur, wenn ich zu fürchten anfing, daß seine Kräfte sich vorzeitig erschöpfen könnten. Wo es steil bergauf ging, sprang ich aus dem Sattel und zog das Tier am Zügel hinter mir nach.

Trotz des frühen Morgens begann es schon heiß zu werden, ich war in Schweiß gebadet, die Sonne glühte am Himmel wie ein überheizter Ofen, dessen man sich nicht erwehren kann. Ich hatte die Straße verlassen und Flurwege eingeschlagen, um rascher ans Ziel zu gelangen. Bald ging es an Feldern entlang, bald durch einen Eichenbusch, bald durch Ried und Torfgegend in moorigen Niederungen und jenseits wieder steil hinan in ausgedehnte Föhrenschonungen. Ich hatte eine gewisse Ahnung, ein Gefühl dafür, wo der Bezirk lag, in dem das Schießen stattfinden sollte. Jetzt wurde ich auf einmal unsicher, griff in die Brusttasche, die Generalstabskarte hervorzuholen, und – hatte sie nicht bei mir!

Zu Hause, in meinem Zimmer, lag sie auf dem Tisch, das wußte ich ganz genau.

Auf gut Glück ritt ich weiter, konnte mich aber nicht mehr zurecht finden. Es war eine ganz einsame, waldig-sumpfige Gegend, in die ich geraten war, nirgends ein Gehöft, nirgends ein Ausblick in die Ferne, nach dem ich mich hätte richten können. Ich sah nach der Uhr, es ging auf halb sieben. Um sechs Uhr begann in der Regel das Schießen. Die dienstliche Meldung, daß die Warnungsposten ausgestellt seien, werde manchmal gar nicht abgewartet, hatte ich mir sagen lassen, man nahm als selbstverständlich an, daß es geschehen sei. Die Meldung mochte fast zur Formfache herabgesunken sein, weil es noch nie vorgekommen war, daß ein Postenkommandant seine Pflicht so gröblich vernachlässigt hatte wie ich heute.

An einem seichten Bachlauf, aus dem mein Gaul zu trinken begehrte, hielt ich mit klopfenden Pulsen an und überlegte. Wie leicht konnte ein Bauernwagen, wie leicht irgendein Wanderer sich in das bedrohte Gebiet verirren! Auch die Baronin fiel mir ein. Ich hatte es mit eigenen Ohren gehört, wie sie nach dem Gastmahl mit einem General über das feldmäßige Schießen sprach und dann einen Diener beauftragte, früh am Morgen den Jagdwagen für sie einspannen zu lassen. Sie wollte von einer Höhe herab zusehen, und der General hatte sie noch halb scherzend gewarnt und hinzugefügt, der Angriff würde sich voraussichtlich gerade gegen die hochgelegenen Straßen richten.

Mein Pferd sog in gierigen Zügen das Wasser in sich, ich klopfte ihm den schaumbedeckten Hals und blieb dabei mit der Hemdstulpe am Riemenzeug der Revolvertasche hängen. Ich schnallte auf, nahm meinen Armeerevolver heraus und ließ die Trommel umlaufen, die leer war. Darauf füllte ich sie mit sechs scharfen Patronen aus meiner Kartusche und versorgte die Waffe wieder in der Satteltasche. Es war einfach selbstverständlich, daß ich es nicht überleben würde, wenn heute durch meine Schuld Menschen zugrunde gingen.

Plötzlich glaubte ich Schüsse fallen zu hören. Der Ton kam ganz aus der Ferne, aber ich war sicher, mich nicht getäuscht zu haben. Jenseits eines bewaldeten Höhenrückens, an dessen Fuß ich mich befand, mußte geschossen worden sein. Ich zog die Zügel an, ritt durch den Bach und auf der anderen Seite eine abgeholzte Schräge hinan. Es war nicht gerade ein Weg da, aber doch eine abgeschliffene Eintiefung, durch die man gefällte Stämme herabgeschleift haben mochte. Nach einer Viertelstunde hielt ich auf einer mäßigen Höhe, die mir einen Blick in eine ganz neue Welt gewährte. Ich sah jetzt ein weit ausgebreitetes Gelände, das wellig auf und ab ging, Hügel und Mulden, Felder, Hutweiden und Wiesen, von hellen und dunkleren Waldschachen durchschnitten. Ein Trompetensignal schlug an mein Ohr.

Und in diesem Augenblicke sah ich tief unter mir und in ziemlicher Entfernung etwas aufblitzen und erkannte eine größere Artilleriemasse mit ihren in der Sonne funkelnden Geschützrohren. Wie lange Käfer krabbelten die Bespannungen mit ihren vielen, vielen dunklen Beinen auf einer fast weißen Landstraße, die sich etwas bergan und näher zu mir herauf zog, und auf einmal schwenkten sie ab und warfen sich in die Stoppelfelder zur Seite. Ich erkannte, daß es reitende Batterien waren. Im rasenden Galopp fuhren die Geschütze auseinander. Von meinem erhöhten Standpunkt aus sah ich sie in musterhaft eingehaltenen Abständen in die Gefechtslinie auffahren, nett und ordentlich ausgerichtet wie kleine Bleikanonen, die ein Knabe zum Spiel auf einer Tischfläche aufmarschieren läßt. Die Bespannungen der Geschütze, je drei Pferdepaare vor einem jeden, schienen fast zu fliegen und den Erdboden kaum zu berühren, die Geschütze selbst, als hätten sie gar kein Gewicht, sprangen wie Kinderwägelchen über die breiten Schollen, die Bedienungsmannschaften, in mächtige Staubwolken gehüllt, aber in strengster Ordnung trotzdem, stoben, ihrer sieben Reiter nach jedem Metallrohr, hinter ihnen drein. Und so Geschütz um Geschütz wie ein riesiger, todbringender Fächer, der sich über das ansteigende Gelände unter mir ausbreitete.

Jetzt hörte ich deutlich Kommandorufe erschallen: »Protzt ab! Kehrt euch!«

Wie eine ganze Reihe von Hampelmännern an einem einzigen Faden, so sprang die Bedienungsmannschaft von den Röcken der Pferde, die in einzelnen Koppeln zu den Munitionswagen zurückgeführt wurden, und hob die Geschütze aus den Protzkästen. Ich hörte ein kurzes, scharfes Krachen, das mich bis ins innerste Mark erbeben machte.

Das mir so wohlbekannte Schnurren und Pfeifen ging durch den wolkenlosen Himmel, dann schnalzte ein fernerer, minder scharfer Knall durch die Luft, und über der jenseitigen Höhe, auf der ich eine breite Landstraße hinziehen sah, stand eines jener heimtückischen grauen Rauchwölkchen, die das regelrechte Krepieren eines Schrapnells anzeigen.

Ein Windstoß trug deutlich die grelle Stimme des Kommandanten zu mir herauf: »Nummer zwei – Feuer!«

Und unmittelbar darauf ein neuer Krach und wiederum das Seufzen und Wimmern wie vom Himmel herunter und dann abermals das Schnalzen der krepierenden Granatkartätsche, die in der Luft platzend ihren Hagel von Stahlkugeln und Sprengstücken über die auf der Höhe hinziehende Chaussee streute.

»Nummer drei – Feuer!«

Wie wahnsinnig stieß ich meinem Pferde die Sporen in die Weichen, daß es gleich einem Vogel dahinschoß. Es war nur mehr ein Gedanke in mir: ich mußte jenen Batterien Einhalt gebieten, ihnen meine Schuld entgegenschreien, daß die Warnungsposten nicht aufgestellt seien, daß jeder Schuß arglose Menschen gefährdete, wertvolle Menschenleben kosten konnte!

Im Hinsprengen bohrte und marterte es in meinem Hirn: Die Folgen, die Folgen! Ich war ja militärisch ehrlos nach dieser Meldung – selbstverständlich! Aber hier gab es kein Bedenken mehr. Menschenleben schwebten in Gefahr!

Wie ich an einem Föhrenwäldchen entlang in die unter mir hinziehende Landstraße einbiege – wer kommt mir da in gemächlichem Trab entgegengeritten? Mein Feuerwerker!

Ich reiße mein Pferd herum, er pariert das seine, tut schnell die Zigarre aus dem Mund, legt die Hand an den Tschako und sagt: »Herr Leutnant, ich melde gehorsamst, die Avisoposten sind aufgestellt.«

Wenn wir beide in diesem Augenblicke nicht zu Pferde gesessen, sondern einander zu Fuß gegenübergestanden hätten, ich glaube, ich wäre ihm um den Hals gefallen und hätte ihn geküßt. Der pockennarbige häßliche Mensch mit der eingequetschten Hunnennase und dem lächerlich sich sträubenden Roßbusch, der wie ein Tüncherpinsel an der linken Seite seines Tschakos in die Luft starrte, hatte für mich das Aussehen eines gottgesendeten Himmelsboten, der mir die Erlösung aus unsagbarer Seelenqual verkündete.

Indessen faßte ich mich rasch und erinnerte mich, daß ich der Vorgesetzte war. Sehen Sie, so ist der Mensch...

Und indem ich zwei Finger an den Rand meines Tschakos legte, sagte ich gemessen: »Ist gut!«


 << zurück weiter >>