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Der Umweg

Gut eine halbe Stunde mußten sie suchen, ehe sich unter der Sträflingswäsche ein Hemd fand, das genügende Halsweite für den Jöbstl hatt. Und als sich endlich eins fand und der Jöbstl es anzog, da stellte sich heraus, daß der Kragen immer noch zu eng war. Der Aufseher versuchte den Knopf mit Gewalt zuzumachen, weil es sich für einen Sträfling nicht gehört, daß ihm der Hemdkragen offensteht. Und der Jöbstl hielt still und ließ es sich gefallen. Er schmunzelte sogar, denn er dachte, nützen würd' es doch nichts, und der Knopf halt einfach nicht zugehn. Aber schließlich gelang es doch, und der Knopf war zu. Nur daß jetzt der Jöbstl geschwollene Adern an den Schläfen und auf der Stirn bekam, dick wie Regenwürmer. Rot und blau wie der Kopf eines Truthahns wurde sein Gesicht, und zu arbeiten fing es an in seiner Brust, als ob er die drei Holzsägen, die daheim in seinem Dorfe standen, verschluckt und ins Strafhaus mitgebracht hätte.

»Rochezen tut er – rein wie eine Sau!« sagte der Strafhausaufseher ärgerlich.

»Wenn mich vielleicht«, bemerkte der Jöbstl bescheiden, »zufällig ein Schlagel treffen sollt' – mein Josel, ich kann nichts dafür!«

Jöbstls Tod wollte der Aufseher aber doch nicht auf dem Gewissen haben. Also machen wir lieber den Knopf wieder auf, dachte er. Der Knopf kam ihm zuvor und hüpfte ihm mit einem Freudensprung entgegen. Es war nichts zu machen, das Hemd mußte offen bleiben. Ohnedies zog der Jöbstl nur wie durch einen Strohhalm Luft in sich ein, auch wenn der Hemdkragen sperrangelweit offenstand. Weil er nämlich, um es möglichst schonend auszudrücken, einen etwas dicken Hals hatte.

Gut, so bleibt das Hemd offen, strangulieren darf man einen Sträfling nicht, der nicht dazu verurteilt ist. Der Aufseher drückte ein Auge zu und suchte unter den übrigen Kleidungsstücken etwas Passendes. Das fand sich geschwind; mit Ausnahme des Halses war der ganze Mensch z'nicht. Auch die kleinste Nummer schlotterte noch an ihm, aber zu weit tut nichts, nur zu eng bereitet Verlegenheiten. Also bekam der Jöbstl einen Anzug ans leichtem grauen Drell an, der war so luftig und angenehm in dieser warmen Jahreszeit, wie kein Baron es sich besser wünschen konnte. So nett beisammen war er überhaupt noch nie gewesen, meinte er, in seinem Leben nicht! Nirgends ein Flicken, nirgends ein Loch. Ordentlich ging es zu in der Anstalt – alles, was recht ist. Als er aber unwillkürlich mit gewohnheitsmäßiger Bewegung in die Seitentasche fuhr, um nach der Schnupftabaksdose zu greifen, zog er enttäuscht die leere Hand zurück. Seinen Samprell Sanspareille, eine Sorte Schnupftabak. hatten sie ihm weggenommen! Da wurde er traurig.

»Vorwärts!« sagte der Aufseher und ließ ihm den Vortritt – ein scharmanter, ein höflicher Herr! Ins Erdgeschoß führte er ihn hinunter, wo die Werkstätten waren. In der Tischlerwerkstatt arbeiteten ihrer drei, auch Sträflinge natürlich. Ein großer Hobel lag da, das war dem Jöbstl gerade recht. Sogleich fing er an, das Hobeleisen auf dem Schleifstein zu wetzen, und begann zu arbeiten, daß die langen glatten Hobelspäne sich wie Schmachtlocken ringelten.

Die andern drei, die früher miteinander geschwatzt hatten, waren seit Jöbstls Erscheinen stumm geworden wie die Fische. Der neue Kamerad machte sie befangen. Emsig handwerkten sie drauflos. Der Aufseher hatte sich entfernt, kaum der schärfste Beobachter hätte erraten können, daß diese zufrieden aussehenden, schweigsamen Männer, die ihre Arbeit anscheinend mit so viel liebevoller Sorgfalt und Hingebung verrichteten, Kerkersträflinge waren. Nur die schweren Gitter vor den Fenstern, die grauen Drelluniformen der emsigen Schreiner sowie ihre kurzgeschorenen Köpfe hätten es ihm verraten.

Auf einmal fing der Jöbstl an leise vor sich hinzusingen – wenn man es singen nennen konnte; eigentlich hatte er keine Stimme, weil er keine Luft hatte. Aber so ein bißchen Gröhlen und Johlen in der heimatlichen Art, das ging gerade noch, ein Schelm macht's besser als er kann. Und so sang er sich also, während er ruhig weiterhobelte, eine alte Weise aus seiner lieben Heimat. Da hielt der schwere, grobknochige Bursch, der an der Säge stand, ein wenig mit der Arbeit inne und horchte. Er neigte seinen Kürbiskopf, fast war es, als bewegten sich lauschend seine riesigen Ohrmuscheln, dann machte er plötzlich den Mund auf und fiel mit der zweiten Stimme ein, wahrend er gemächlich seine Arbeit wieder aufnahm. Bald spitzte auch der andre, der Blasse mit dem gedunsenen Gesicht, das wie eine unausgebackene Semmel aussah, die Ohren und lauschte. Seine stumpfen Augen fingen Feuer, im Takt pochte sein Holzschlegel auf den Griff des Stemmeisens, Und auf einmal erwischte er die Melodie beim richtigen Zipfel und hielt die dritte Stimme, ganz wie es sich gehört. Da konnte auch der noch übrige, ein langer hagerer Mensch mit silbergrauem Schädel, nicht länger zurückhalten, das Lied verführte und lockte. Sein Organ war breit und wuchtig, wie niemand es ihm zugetraut hätte, es gab dem Ganzen Kern und Körper. Nun bekam der Gesang erst etwas wie ein festes Rückgrat, da der Baß zu den anderen Stimmen stieß und sie auf seine Schultern hob, gleichsam wie der starke Stützpfosten vor einem großen Bauernhaus, der drei kunstvoll übereinandergebaute Holzsölder trägt.

Ein rascher Blick aus Jöbstls kleinen roten Augen schoß aufleuchtend zu den Genossen hinüber, als sich so die ruhiggetragene Weise siegreich über das einförmige Geräusch der Arbeit emporschwang. Es wurde ihm warm ums Herz, er wußte, daß er sich unter Landsleuten befand, nur Kartner (Kärntner) können so singen! Er strengte sich an, die führende Melodie recht laut und gefühlvoll herauszubringen, und wurde rot dabei wie eine Pfingstrose, weil er auch noch hobeln mußte dabei. Aber er lachte vergnügt vor sich hin, er fühlte sich rein wie berauscht, im siebenten Himmel. Kein Ton ging fehl, wie eine Orgel stimmten sie zusammen, daß es eine helle Freude war.

Der Aufseher trat ein. Er hörte ihnen eine Minute lang zu, legte vier Schnitten Kommisbrot hin und entfernte sich wieder, leise auftretend. Sie hatten sich nicht stören lassen und sangen ihr Lied zu Ende. Langsam und feierlich ließen sie den letzten Akkord verklingen, dann erst legten sie die Werkzeuge aus der Hand und bissen ins Brot.

»Tun wir jetzt unsere Jause kropfen,« sagte der lange Hagere, der den Baß gesungen hatte.

Darauf der junge Bursch mit dem Kürbiskopf: »Kropfen tut der Habicht; beim Manschen heißt's fressen ... Alleweil muß er wie ein Jäger reden!«

»Wenn ich kein Wildbratschütz wär',« sagte der Lange, »so könnt' ich jetzt wo anders sitzen als in dieser Sommerfrischen.«

Der Gesang hatte das Fremde, das anfangs zwischen den drei Erbgesessenen und dem neuen Ankömmling war, aus dem Weg geräumt. Das Band der Landsmannschaft verknüpfte sie, als Kameraden und Leidensgefährten saßen sie beisammen und aßen.

»Wie heißt denn du?« fragte der Baßsänger.

»Jöbstl.«

»Und was hast angestellt?«

Eine Zeitlang kam nichts als ein gesteigertes Rasseln und Keuchen aus Jöbstls Hals.

»Gar nichts!« sagte er endlich. »Nichts, als daß ich einen Weg gegangen bin, der immer ein Weg ist gewesen. Die ältesten Leut' im Dorf wissen ihn schon als an Weg.«

»Wird doch wohl ein Verbotsweg gewesen sein?«

»Das wohl. Ein Verbotsweg schon. Das war nämlich so. Der Weg geht mitten durch den Schloßhof. Beim herentern Tor hinein, beim entern wieder hinaus. Jetzt auf einmal fällt's unserm Baron ein und sperrt alle zwei Löcher zu.«

»War denn eine Tafel da?«

»Freilich war eine Tafel da. Die hat er aber herunternehmen lassen, weil er ein Karniffel ist.«

»Und was ist auf der Tafel aufgeschrieben gewesen?«

»Aufgeschrieben war: Bis auf Widerruf freiwillig gestatteter Weg.«

Der lange Baßsänger lachte.

»Also war der Baron in seinem Recht!« entschied er.

»Freilich war er im Recht!« ereiferte sich der Jöbstl; »aber jetzt haben wir halt nicht mehr durchgehen können, wenn wir vom oberen Dorf in die Kirche haben wollen.«

»War denn kein anderer Weg in die Kirche?«

»Freilich war noch ein anderer Weg. Wer mag, kann auch auf der Straße gehen.«

»Also –?«

»Mein Josel! Das ist aber gut fünf Minuten um!«

»Deswegen also hast barduh wollen durch den Schloßhof gehn?« fragte der Baßsänger.

»Bin auch gegangen!« gröhlte Jöbstl und spuckte vergnügt aus.

»Wenn das Tor zugewesen ist!«

»Sind ja ihrer zehn, zwölf starke Bursche mit mir gegangen.«

»Aha!« machte der mit dem Kürbiskopf. »Jetzt kenn ich mich aus! Also habt ihr es eingehaut, das Tor?«

»Freilich haben wir es eing'haut. Und mit einem Mordslärm durch den Schloßhof durch und beim entern Tor wieder hinaus.«

»War denn das entere Tor nicht auch zu?«

»Freilich war es zu. Das haben wir auch eingehaut.«

Jöbstl griff in den Hosensack um eine Prise Samprell. Als er die Dose nicht fand, zog er enttäuscht die Hand zurück und seufzte.

»Wieviel haben sie dir denn zudiktiert?« forschte der Baßsänger.

»Stücker fünf Jahrln,« sagte Jöbstl kleinlaut.

»Da ist etwas nicht in Ordnung,« bemerkte der Bursch mit dem Kürbiskopf, der ein Rechtsverständiger war und alles genau studiert hatte. »Dein Paragraph ist Nummer 83: Verbrechen des gewaltsamen Einfalls. Wenn du besserungsfähig und nicht vorbestraft bist, so kannst du höchstens fünf, sechs Monat' kriegen.«

»Freilich wohl, das war schon richtig,« meinte der Jöbstl und kraute sich hinterm Ohr.

»Hat sich der hohe Gerichtshof doch nicht am Ende geirrt?«

»A belei! Aber leider ist halt der Herr Verwalter dabeigestanden.«

»Wo?«

»Beim entern Tor.«

»Und –?«

Jöbstl war ganz still geworden und schnarchte nur mit offenem Mund nach Atem.

»Hast ihn niederg'stochen?« rief frohlockend die unausgebackene Semmel.

»Mein Josel! Nein!« wehrte sich der Jöbstl entsetzt. »Erstochen werd' ich einen haben! Was glaubst denn von mir?«

»Also, was dann?«

»Lei – niederg'haut hab' ich ihn. Mit einem Schwartling.« Schwartling, derber Holzspan mit noch anhaftender Baumrinde, wie er zu Zaunstecken verwendet wird.

»Kommt auf dasselbe hinaus,« sagte die unausgebackene Semmel.

»Gar nit!« wehrte der Jöbstl sich eifrig. »Gar nit auf dasselbe kommt es hinaus! Indem, daß du nämlich ein Messer absichtlich in die Hand nehmen mußt, verstehst? Einen Schwartling aber kannst du zufällig erwischen, und weißt nit wie.«

Da lachten sie alle und erhoben Widerspruch.

»Geh, hör mir auf! Jetzt will er sich schönmachen! Als ob er was Feineres wär als unsereins. Das bleibt aber allweg ein Ding: Niederg'schlagen, niederg'stochen, niederg'schossen!«

Jöbstl schwieg.

»Siehst es,« sagte der lange Baßsänger, »jetzt kannst fünf Jahrln Umweg machen. Hättest fünf Minuten Umweg gemacht, wär's g'scheiter gewesen!«

»Freilich wär's g'scheiter gewesen,« sagte der Jöbstl; »aber wenn der Schloßherr schon so ein Karniffel ist – soll einer sich da nicht wehren dürfen, he? Und der Verwalter, das Liatl, Liatl, dämlich nichtiges Leutl, das keinen Puffer aushält. daß der gleich umfallen muß, wenn man ihm mit einem g'ringen Zaunstecken ein bissel aufs Dach klopft – das hat doch im voraus niemand wissen können!«

Er hatte sein Brot verzehrt, faßte mit beiden Händen den Hobel und fuhr fort mit mächtigen Strichen über das Holz hinzugleiten. Auch die anderen drei nahmen ihre Werkzeuge wieder zur Hand, und es dauerte nicht lang, so war die kleine Werkstatt mit den vergitterten Fenstern wieder von dem gleichmäßigen Geräusch der Arbeit erfüllt, über dem, wie ein Hauch von Berg und Wald und Freiheit, vierstimmig gesungen das Lied vom »Scheanen Karntnerland« schwebte.


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