Otto Ernst
Semper der Jüngling
Otto Ernst

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XL. Kapitel.

Was? hinkt der Kerl auf einem Fuß? Asmus lernt einen dummen und einen klugen Doktor kennen.

Asmus vertrug sich mit seinem Dienste ausgezeichnet; der »langsame Schritt« und die Gewehrgriffe waren ja nicht brennend interessant und mit Rousseau- oder Kantlektüre nicht zu vergleichen; aber er sagte sich, das Leben kann nicht immer kurzweilig sein, und wenn er eine Arbeit anfaßte, so machte er sie so gut wie möglich. Er hatte denn auch die ausdrückliche Anerkennung des Herrn von Birkenfeld und des magister magistrorum Greifenberg gefunden. Und die Marsch- und Felddienstübungen waren nun geradezu ein Vergnügen und eine Lust. Sie lehrten ihn seine körperliche Kraft und Ausdauer kennen, die er weit unterschätzt hatte. Wenn er sah, daß er es bei voller feldmarschmäßiger Belastung im Laufen und Springen hügelauf und hügelab den Längsten und Dicksten gleichtat, ja länger aushielt als mancher Schlagetot – denn die Größten sind nicht die Stärksten – dann hob seine Brust ein unaussprechliches Glücksgefühl, das Gefühl eines Siegers, der sich selbst überwand und seine ganze eigene Welt beherrscht. Oft klopfte ihm wild das Herz, und nicht immer ward es ihm leicht, dies Vorwärtsstürmen und Niederwerfen und Wiederaufspringen und Wiedervorwärtsstürmen; aber wie ein Rausch entzückte ihn das Gefühl, seine Kraft bis auf den letzten Rest und aus den verborgensten Quellen hervorzurufen und durch ein bloßes »Ich will« jede Schwierigkeit zu überwinden. Und zu allem hatte noch dies Kriegsspiel, dies Streifen durch Feld und Heide, dies auf Feldwache liegen und Patrouillengehen seine Schönheit, seinen Zauber, seine Poesie. Aber trotz alledem lahmte er eines Morgens; er hatte es mit dem langsamen Schritt und Parademarsch so gut gemeint, daß er sich eine Zerrung der Achillessehne am linken Fuße zugezogen hatte. Gleichwohl versuchte er regelrecht zu marschieren und den Schmerz zu verbeißen; aber er machte es damit nur schlimmer.

»Melden Sie sich revierkrank?« sagte Herr v. Birkenfeld.

Im Revier saß der Assistenzarzt Dr. Rheinland. Er würdigte die kranken Partien der Patienten kaum eines Blicks, im übrigen sah er sie überhaupt nicht an. Er kurierte ohne Ansehen der Person. Er drückte kräftig mit dem Finger auf die geschwollene Ferse des Musketiers Semper, und dieser zuckte zusammen.

»Was fällt Ihnen ein!« schnauzte der Herr Doktor. Asmus wußte noch nicht, daß ein Soldat niemals zuckt. Er wußte freilich auch nicht, wie der Arzt sonst von seinen Schmerzen erfahren sollte, da er weder fragte, noch sich irgendwie auf eine weitere Untersuchung einließ. Er erklärte Sempern für dienstfähig; denn er gehörte zu jenen Militärärzten, die die Krankheiten wegmachen, ehe sie sie erkannt haben. Man macht auf diese Weise einen schneidigen Eindruck, schreckt die Simulanten ab, erzielt eine gute Gesundheitsstatistik und reicht weiter mit seinen Kenntnissen.

Natürlich hinkte Asmus weiter.

»Semper, hol' Sie der Deubel! Sie hinken ja noch immer!« schrie der Leutnant.

Asmus berichtete, wie es ihm ergangen.

»Treten Sie aus und gehen Sie morgen wieder hin!« entschied Birkenfeld.

Am andern Morgen erschien Asmus wieder im Revier. Diesmal drückte Herr Rheinland nicht einmal mit dem Finger; er warf einen verächtlichen Blick auf die gemeine Soldatenferse und schrieb, daß der Musketier Semper dienstfähig sei.

Beim Parademarsch exerzierte der Musketier Semper genau wie ein Musketier Hephästos oder Mephistopheles.

»Semper!« brüllte v. Birkenfeld. »Herr Semper, ich befehle Ihnen, daß Sie das Hinken lassen; ich verbiete Ihnen einfach das Hinken, Herrrr!«

Die Befehle des Herrn Leutnants waren aber der Achillessehne nicht maßgebend.

»Musketier Semper!« schrie Herr v. Birkenfeld. Asmus faßte das Gewehr an und lief hinkend zu seinem Vorgesetzten. »Was hat denn der Arzt gesagt?«

»Er hat mich ohne Untersuchung und ohne ein Wort zu sprechen, dienstfähig geschrieben.«

»Also geh'n Sie nach Hause, legen Sie sich aufs Sofa und fragen Sie 'n studierten Mediziner. Wegtreten!«

Das tat Asmus. Der »studierte Mediziner« legte einen Verband an, und in zwei Tagen war die Sehne geheilt.

Im übrigen schied er von dieser Zeit mit unvergleichlich freundlicheren Gefühlen, als er sie beim Eintritt empfunden hatte. Freilich, das Leben in der Kaserne hatte er nur sehr flüchtig kennen gelernt und wenn er sich vorstellte: drei Jahre in der schrecklichen Banalität dieser Räume, in der erdrosselnden Prosa dieses »inneren Dienstes« verbringen – dann lief es ihm eiskalt den Rücken hinunter. Aber wenn er gerecht sein wollte, dann mußte er bekennen, daß in seiner Erfahrung die guten und heilsamen Eindrücke überwogen. Nicht wenig trug zu dieser Stimmung ein gehobenes Gesundheitsgefühl bei. Er war immer ein gesunder Mensch gewesen; aber jetzt ward ihm seine Gesundheit förmlich bewußt; er fühlte wie in einem Rausch seine Adern strotzen und seine Muskeln schwellen. Von trüben Seminarzeiten abgesehen, hatte er auch immer einen gesegneten Appetit bekundet; aber nie hatte er solche Wonnen verzehrender Andacht empfunden, wie nach strammem Dienste vor den Würsten und Bierflaschen der Kantine. Wenn er nach vierstündigem Marsche solch eine Literflasche voll Braunbier an den Mund hob – denn der Soldat hat nicht immer ein Glas zur Hand – und minutenlang nicht wieder absetzte, dann schloß er fromm die Augen, und auch das war ein brünstiges Dankgebet an die Macht, die ihn gesund erschaffen und solcher Freuden fähig gemacht hatte. Überhaupt waren diese sechs Wochen ein Leben im Fleische; ihn interessierte nur Körperliches, und wenn er an sein Bücherbrett trat und auf den Rücken der Bände Namen wie »Lessing«, »Comenius« und »Euripides« las, dann kamen ihm diese Zivilisten wie Leute vor, von denen er in längst vergangenen Zeiten einmal hatte reden hören; der Gedanke, ein Buch herauszunehmen und zu lesen, erschien ihm vollkommen absurd. Der Körper ließ dem Geiste nur so viel Kraft übrig, als zu einer sanften Verblödung unbedingt nötig war: Asmus vegetierte in diesen sechs Wochen, und daran änderte selbst das geistige Moment des Dienstes, die Instruktionsstunden über Gewehrputzen, Rangverhältnisse und Kriegsartikel nichts Wesentliches, so schön sie auch manchmal sein mochten. Sergeant Greifenberg, der Lehrer von die Lehrers, wußte selbst die einfachsten Dinge für die gescheitesten Köpfe unklar zu machen, und wenn er über das Schloß des Infanteriegewehres Modell 71 instruierte, dann hätte der Erfinder des Schlosses, wenn er zugehört hätte, seine eigene Erfindung nicht mehr verstanden. Herr von Birkenfeld hingegen betrieb die subtilsten logischen Sonderungen, besonders wenn er Kognak geladen hatte.

»Was ist Mut und was ist Tapferkeit?« fragte er eines Tages den Musketier Semper.

Asmus mußte sich einen Augenblick besinnen und sagte dann: »Mut und Tapferkeit sind wohl im wesentlichen dasselbe; eine Gemütsstimmung, die sich durch eine erkannte Gefahr nicht schrecken läßt. Man könnte sagen, daß der Mut mehr eine Sache persönlicher Veranlagung und mehr impulsiver Natur ist, während die Tapferkeit ein pflichtbewußtes Ausdauern in der Gefahr in sich schließt . . . . .!«

»Nee, nee, das is nichts,« rief Herr von Birkenfeld abwinkend. »Gemütsstimmung, was Gemütsstimmung! Der Soldat hat keine Gemütsstimmungen! Wenn es heißt: die Mauer da muß hinuntergesprungen werden, dann springt er, und das ist Mut. Tapferkeit is hingegen ganz was andres. Tapferkeit zeigt der Soldat den feindlichen Kugeln und Bajonetten gegenüber!«

Von solchen Stunden kam Asmus immer sehr vergnügt nach Hause, und wenn dann seine Brüder Reinhold und Adalbert dastanden und Front machten, dann dankte er ganz von oben herunter, etwa wie ein alleroberster Kriegsherr oder wie der Assistenzarzt Rheinland, wenn man ihm eine Achillesferse zeigte. Dann schrien Reinhold und Adalbert: »Seht den Hanswurst, er spielt sich auf!« Und dann zog Asmus das Seitengewehr und rief: »Bei Angriffen auf seine Soldatenehre darf der Soldat von der Waffe Gebrauch machen!« und nahm Aufstellung zum Brudermord.

Und noch an einem der letzten Nachmittage seiner Dienstzeit machte Asmus eine höchst sympathische Bekanntschaft. Ein Leutnant der Reserve erläuterte Plan und Idee der am Morgen unternommenen Felddienstübung, und er machte das so fein, so frisch und so klar, daß Asmussens Schulmeisterherz vor Freuden hüpfte. »Wenn das kein Schulmeister ist, so will ich Erzbischof sein,« dachte Asmus, und als die Entlassung aus dem Dienste in der Kantine mit einem gemeinsamen Trunk gefeiert wurde, kam Asmus in die Nachbarschaft desselben Leutnants, der sich bald als Gymnasiallehrer Dr. Rumolt zu erkennen gab.

Man sang das gefühl- und weihevolle Lied:

»Nach so viel Kreuz und ausgestandenen Leiden, ja!
Erwarten euch die himmlischen Freuden, ja!«

»Ja, ja, die himmlischen Freuden!« sagte Rumolt. »Jetzt geht's wieder in die Schulstube.«

»Ja!« versetzte Asmus mit Fröhlichkeit.

»Freuen Sie sich darauf?«

»O ja!«

»Dann sind Sie ein glücklicher Mensch.«

»Sind Sie nicht gern Lehrer?«

»O,« machte Rumolt, »ich wüßte nichts Schöneres als Lehrer sein – wenn man es nur sein könnte.«

»Wie meinen Sie das?« fragte Asmus begierig, und nun kamen sie in ein Gespräch über moderne Erziehung, und Asmus machte in diesem Manne einen Fund, der ihm in den kommenden Kämpfen mit dem System Drögemüller ein Labsal werden sollte.


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