Otto Ernst
Semper der Jüngling
Otto Ernst

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XXVI. Kapitel.

Mister Belly und der geheimnisvolle Zimmermann.

Mister Bellys Stunden waren freilich in einer gewissen Hinsicht lauter Feste. Mister Belly war eines jener Wunderkinder gewesen, die schon mit drei Jahren Englisch sprechen, weil sie in England geboren sind, und das war sein Hauptverdienst. Zu diesem Englisch hatte er nur noch zweierlei hinzugelernt: ein Französisch mit englischer Aussprache und Betonung und ein für einen Ausländer recht passables Deutsch. Auf weitere Anforderungen aber reagierte er nicht. Es ist nie ans Licht gekommen, ob er von Goethe, Schiller und Lessing irgend etwas kannte; das aber stand fest, daß er von der nachgoethischen Literatur nur den »Königsleutnant« von Gutzkow kannte. Ein Engländer gesteht dergleichen ganz kaltblütig ein und hält es für Nationalbewußtsein. Von Zeit zu Zeit fragten ihn die Seminaristen:

»Mister Belly, wie heißt noch das deutsche Drama, das Sie kennen?« und dann antwortete er mit dem unschuldigsten Gesicht von der Welt:

»Also mal »The King's Lieutenant«, denn er leitete jeden Satz mit den Worten »also mal« ein.

Wenn nun aber auch Mr. Belly recht gut deutsch sprach, so sprachen es die deutschen Seminaristen doch besser, und als Lehrer ohne imponierende Kräfte unter übermütige Kinder einer fremden Sprache versetzt sein, das ist gerade so schön, wie als Taubstummer unter Kannibalen geraten. Da beim englischen Unterricht eine Grammatik von Gurcke gebraucht wurde, so sagte der unglückliche Belly eines Tages: »Bringen Sie zur nächsten Stunde Ihre Gurke mit« und an solchen und ähnlichen Gurken hatte der Gute natürlich lange zu kauen. Unter der gütigen Leitung Mr. Bellys mußte unser Asmus etwa hundertmal die Geschichte von Robin Hood lesen (Mr. Belly wollte auf solche Weise bei seinen Schülern eine gute Aussprache erzielen); aber dennoch brachte jede Stunde eine Abwechslung. Heute war es ein Hampelmann, der hinter Mr. Belly an der Wand hing und durch einen dünnen, bei dem Seminaristen Stelling endigenden Faden dirigiert wurde, morgen war es ein Seminarist, der in den Kartenschrank eingesperrt wurde und dort während der Stunde gespenstische Geräusche hervorbringen mußte, übermorgen ein Seminarist, der aus Turnjacken, Turnhosen, Turnschuhen und einer Mütze hergestellt, dann in ein kleines Kabinett gesetzt und für »eingeschlafen« erklärt wurde, so daß Mr. Belly hinging, um ihn zu wecken, und so mit und ohne Grazie ins Unendliche. Ein Rouleau, das hochgezogen werden sollte, entwickelte sich regelmäßig zu einer ganzen komischen Oper; denn natürlich fiel der Vorhang, wenn er endlich nach langen Mühen aufgewickelt war, mit furchtbarem Gerassel wieder herab, und je mehr hilfreiche Hände herbeikamen, desto unmöglicher erschien natürlich die Bändigung des heimtückischen Vorhangs. Der eigentliche Belly-Spezialist aber war jener Stelling.

Stelling war ein glänzend begabter Bursche, der aber am Unterricht eigentlich nur als wohlwollender Zuhörer teilnahm und eine unüberwindliche Abneigung gegen Bücher und Hefte hegte. Was er an solchen Dingen mit sich führte, beschränkte sich für gewöhnlich auf ein kleines Heftchen, das er, um seine ganze Verachtung des Buchstaben zu zeigen, zusammengerollt in der hinteren Hosentasche trug. Kraft seiner vorzüglichen Anlagen war er trotzdem immer so ziemlich auf dem Laufenden; nur in der »Charakterbildung« schien er sich auf der Stufe des »großen Jungen« so wohl zu fühlen, daß er an einen Fortschritt nicht dachte.

Eines drückend heißen Sommertages brachte der nämliche Stelling einen Hammer mit in die Klasse, und gerade las ein Schüler mit halb entschlummerter Stimme die erschütternden Verse:

»Here underneath this little stone
Lies Robert Earl of Huntingdone;
Ne'er archer was as he so good,
And people called him Robin Hood . . .«

als in der Gegend Stellings ein ungemein rhythmisches Klopfen ertönte.

»Also mal: was ist das?« fragte Mr. Belly.

Stelling trat an das offene Fenster, neben dem er saß, und sagte trocken:

»Das ist also mal ein Zimmermann, Mr. Belly.«

»Also mal: ist gut, setzen Sie sich,« sagte Belly, dem schon schwül wurde, wenn Stelling sich einer Sache annahm.

Stelling setzte sich und klopfte.

»Das ist aber doch sehr störend!« rief jetzt der Nachbar Stellings mit einem abgefeimten Lerneifer im Gesicht.

»Soll ich den Mann also mal bitten, daß er also mal aufhört?« fragte Stelling bescheiden.

Belly, der der suggestiven Frechheit dieses Jünglings nicht gewachsen war, sagte: »Also mal: bitte, wenn Sie durchaus wollen –?«

Stelling trat wieder auf Fenster und rief mit der Stimme eines versoffenen Feldwebels: »Hören Sie auf!!!«

»Also mal bitte, was ist das für ein Ton!« rief Mr. Belly erschrocken; »also seien Sie mal höflich, nicht wahr?«

»Ganz, wie Sie wünschen, Herr Belly,« erwiderte Stelling und begann zu singen:

»Wackrer Zimmermann,
Hast ja Freude dran,

aber uns stört es; möchten Sie nicht die Gewogenheit zeitigen, mit diesem frevelhaften Geballer aufzuhören? – Wie meinen Sie?«

Stelling wandte sich wieder ins Zimmer zurück und sagte mit dem ruhigsten Gesicht:

»Er antwortet: ›Pett di man keen Hoor in'n Foot!‹«

»Also mal, das ist Plattdeutsch,« bemerkte Belly sehr richtig, »was heißt das?«

»Das heißt: »Don't run a hair into your foot!«

»Also mal: Das versteh' ich nicht.«

»Das verstehen Sie also mal nicht? Das ist eine Beleidigung! – Wie heißen Sie?!« schrie Stelling zum Fenster hinaus mit zornrotem Gesicht.

»Also mal bitte: seien Sie nicht so erregt!« rief Belly ängstlich.

»Er sagt, er heißt Hummel!«Name eines in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts in Hamburg verstorbenen komischen Originals. Die Hamburger pflegen auf den Zuruf »Hummel« mit einem sehr derben Ausruf zu antworten. berichtete Stelling. »Was soll ich ihm sagen?« Natürlich wollte die Klasse sterben vor Lachen.

Mr. Belly erhob sich endlich, um selbst mit dem Manne zu sprechen.

»Da – eben geht er ins Haus!« rief Stelling. »Vor Ihnen hat er natürlich Angst.«

Als Mr. Belly an sein Pult zurückgekehrt war und das Klopfen von neuem anhub, sprang Stelling auf und schritt nach der Tür: »Ich werde also mal hinuntergehen und mit dem Mann sprechen.«

»Also mal: Stelling, bleiben Sie also mal hier,« sagte Mr. Belly.

»Ja aber, Herr Belly, soll man sich denn das gefallen lassen?«

»Also mal: wollen Sie sich jetzt setzen?«

»Yes, mister« sagte Stelling und ging an seinen Platz.

»Also mal: Sie sagen: Yes, mister! Heißt es so?«

»Yes, gentleman!«

»Also mal: Sie wollen es nicht richtig sagen! Sie sind also ein Heuchler!«

»Herr Belly,« sagte Stelling kaltblütig, »ich nehme an, daß Sie die wahre Bedeutung dieses Wortes gar nicht kennen, sonst würde ich Sie fordern.«

»Aber, Herr Belly,« riefen jetzt viele durcheinander, »wie konnten Sie so etwas sagen: das ist ja eine tödliche Beleidigung!«

»Also mal: ich habe Sie nicht beleidigen wollen,« lenkte Belly ein, es heißt also mal: Yes, Sir!«

»Na ja, wenn einem das in Güte und Freundlichkeit gesagt wird . . . .«

Inzwischen war aber in Mr. Bellys Kopfe etwas wie Morgendämmerung angebrochen, und als das Klopfen wieder ertönte, belauerte er den Übeltäter und sah ihn schnell etwas unter den Tisch legen.

Nun ging er ruhigen Schrittes auf Stellings Platz zu, klappte den Tischdeckel hoch, nahm den Hammer, ging damit wieder nach vorn, legte ihn auf's Pult und sagte: »Lesen Sie weiter, Müller.« Er tat das alles ohne jedes Zeichen der Erregung, nur mit dem Ausdruck einer stoischen Geringschätzung, ja, einer leisen Verachtung im Gesicht. Und diese Art, dergleichen Bubenstreiche abzutun wie Dinge, die an die Würde eines Gentleman nicht heranreichen, diese Art, die der guten englischen Erziehungsregel: Be a gentleman! entspringt, nahm Asmus doch immer wieder für ihn ein. Man sah es dem guten Belly an, daß solche Ruchlosigkeiten ihm weh taten, daß sie ihm aber zu kindisch waren für seinen Zorn, und das ging nicht nur Asmus, es ging schließlich auch anderen Jünglingen zu Herzen. In einer Pause fand eine feierliche Beratung statt mit dem Ergebnis: Da Mr. Belly nicht imstande sei, Disziplin zu halten, so müsse man selbst für Disziplin sorgen, und von nun an wolle man sich vernünftig benehmen. Das ging auch einige Stunden ganz gut. Als aber ein Seminarist einen Stiefel ausgezogen hatte, weil er ihn drückte, und sein Nachbar diesen Stiefel mit einem kräftigen Stoß nach vorn befördert hatte, Mr. Belly den Stiefel als corpus delicti konfiszierte und damit die Klasse verließ, der Einstiefler, der von Natur eine rote Nase hatte, ihm protestierend nachhumpelte und Mr. Belly endlich sagte: »Also mal: Sie verfolgen mich: Sie haben eine rote Nase, also Sie sind ein Nihilist!« da brachen ob dieser rätselhaften Ideenverbindung alle Dämme der guten Zucht zusammen, und der jugendliche Übermut nahm wieder freien Lauf.


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