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Herr Drögemüller als Einkassierer des Schicksals.
So groß sein Mitgefühl mit den Kindern der Enterbten und Verachteten war, so schien ihm doch seine Aufgabe um so schöner und lockender, je schwieriger sie war. Die wohlgepflegten Kinder reicher und »guter« Familien erziehen, das war keine Kunst – so dachte er wenigstens damals; er sollte noch anders darüber denken lernen – aber hier galt es, Knoten zu lösen und Hindernisse zu überwinden. Und schon nach wenigen Tagen sollte ihn ein »Riesenerfolg« in seinem Glauben an sein Werk bestärken. Am vierten oder fünften Tage seines Lehrertums kam Herr Drögemüller mit einer Liste in die Klasse und fragte: »Ist Heinrich Lohmann hier?«
Jawohl, Heinrich Lohmann war da; es war derselbe, den am ersten Tage die Sehnsucht nach den Klößen seiner Mutter ergriffen hatte und der dies Gefühl in reinstem Plattdeutsch unverhohlen zum Ausdruck gebracht hatte. Er gehörte in eine Nachbarschule und war irrtümlich in Sempers Klasse gekommen.
»Du gehörst in eine andere Schule, mein Sohn,« sagte Herr Drögemüller. »Pack' deine Sachen und komm mit.«
»Nee,« sagte Heinrich Lohmann munter, »ick will hier blieben.« Selbst Herr Drögemüller mußte lachen.
»Ja, mein Junge, das geht nicht,« sagte er, »komm nur schnell.«
»Ick will ober leever hier blieben,« wandte Lohmann mit schwächerem Widerstande ein.
»Na, nu' mach flink, Junge, mach flink!« drängte der Hauptlehrer.
Lohmann packte widerstrebend seine Sachen und folgte Herrn Drögemüller; aber als er nun Sempern die Hand zum Abschied geben sollte, warf er alles, was er trug, auf den Boden, umklammerte Asmussens Bein und schrie: »Ick will bi di blieben! Ick will bi di blieben!«
Asmussen wurde es wunderlich ums Herz.
»Kann er denn nicht hier bleiben?« fragte er den Hauptlehrer.»Vielleicht kann ja ein anderer – –?«
»Nein. das geht nicht!« versetzte Drögmüller kurz. »Er wohnt ja nicht in unserm Bezirk. – Jetz komm, Junge, sonst – –«
Asmus klopfte dem Kleinen die Wangen und sagte: »Na, Heinrich, dann geh nur mit. Wenn die Schule aus ist, besuchst du mich mal, was? Und ich besuch' dich auch mal, ja?«
Da gab sich Heinrich Lohmann zufrieden, sammelte unter Tränen seine Bibliothek zusammen und schlich davon.
Asmus Semper war glücklich. Also schien ihm die Kraft gegeben zu sein, die Herzen der Kinder zu gewinnen, und darüber war er unsäglich froh. Überhaupt lebte er wie in einem Rausche. Diese tausendfältigen, rückhaltlosen Offenbarungen der Kindesseele überwältigten seine Beobachtungskraft; er wußte nicht, wie er diesen Reichtum in die Scheuern bringen und verwerten sollte. Und viel zu früh schloß er den Kindern den Mund durch regelrechten Unterricht; seine Taten hinkten noch weit hinter seinen Ideen her. Er hätte noch länger die Eigenart jedes einzelnen Kindes hervorlocken sollen, wenn er den Wegen Pestalozzis folgen wollte; aber er fürchtete, die Kinder würden nicht lernen, was sie nach dem »Pensum der Klasse« lernen sollten, wenn er nicht den stundenplanmäßigen Unterricht beginne. Herr Drögemüller hatte sich ohnedies schon bemerkbar gemacht. Als Asmus eines Tages einen Knaben ein Märchen erzählen ließ, war Herr Drögemüller, der es nicht für ein Gebot der Höflichkeit hielt, anzuklopfen, in die Klasse getreten, hatte durch seine blaue Brille auf den an der Wand hängenden Stundenplan geblickt und gesagt:
»Sie haben jetzt eigentlich Rechnen, nicht wahr?«
»Jawohl,« hatte Asmus gesagt.
»Hm,« hatte dann Herr Drögemüller gesagt, und er war wieder hinausgegangen. – – Ja, Asmus war glücklich; aber wie es das Schicksal gewöhnlich mit ihm gehalten hatte, so tat es auch diesmal; von dem vollen, hundertprozentigen Glück, das es ihm gegeben, zog es neunzig Prozent Wucherzinsen ab, und der Exekutor, der die neunzig Prozent einkassierte, war diesmal Herr Drögemüller.
Herr Drögemüller war Junggeselle, und so hatte er zu viel Zeit für seinen Beruf. Man hat immer dann zu viel Zeit für seinen Beruf, wenn man sie zur Auffindung neuer und fruchtbarer Gedanken aus einem gewissen inneren Mangel nicht anwenden kann, sie vielmehr mit der Erfindung immer neuer Reglements-Paragraphen verbringen muß. Jedesmal, wenn Herr Drögemüller ein paar freie Stunden gehabt hatte, trug alsbald danach ein Knabe durch alle Klassen eine Verfügung, unter die jeder Lehrer sein »Vidi« setzen mußte. Herr Drögemüller wußte auf der Arithmetik, daß, wenn man unablässig addiert, zuletzt eine hohe Summe herauskommen muß, und so hoffte er durch unermüdliche Hinzufügung von »Verbesserungen« seine Schule auf den Gipfel der Vollendung zu bringen. Wenn ihm aber jemand mit umwälzenden Methoden oder gar mit neuen Lehrzielen kam, dann bekam er Entrüstung mit Fieber. Welche Anmaßung, wenn ein Lehrer es besser wissen wollte als Drögemüllers Seminardirektor! Seine Berufsanschauung ruhte auf drei Axiomen als auf drei unerschütterlichen Säulen:
und seine Berufsanschauung war auch seine Weltanschauung; denn er war der Meinung, ein Lehrer habe sich weder um Kunst und Literatur, noch um Politik, noch sonst um etwas anderes als allein um seinen Beruf zu kümmern.
Er verbrachte denn auch seine Tage am Schreibtisch seines Bureaus; seine Wohnung war eigentlich nur Schlafstelle, und in seiner bescheidenen Bibliothek stand kein neues Buch. Trotzdem hielt er sich für einen gewissenhaften Beamten.
Daß er mit diesem Mann nicht lange in Frieden leben werde, davon hatte Asmus eine deutliche Ahnung. Schon wenn er ihn sprechen hörte, wurde ihm unbehaglich. Er war immer so empfindlich gewesen für menschliche Stimmen; die Stimme war ihm der Mensch, und besonders wahr und schön war's ihm immer erschienen, daß der wahnsinnige Lear von der Stimme der toten Cordelia sprach. Drögemüller aber heulte durch die Nase und sprach, als wenn er einen zu schmal gewölbten Gaumen hätte.
Gleich am ersten Tage sah Asmus etwas, was ihn geradezu erschreckte. Kinder während der Schulpause – das war ihm immer ein Bild befreiter, sprudelnder Jugendlust gewesen. Es war ihm gar nicht der Gedanke gekommen, daß das anders aussehen könne. Und hier sah er die Kinder, zu Vieren geordnet, langsam hintereinander hertappen, wie Gefangene, die man gerade so viel lüftet, wie zur Erzielung einer guten Gesundheitsstatistik unbedingt erforderlich ist. Und in der Mitte des Schulhofs ging ein Lehrer auf und ab, der darauf achten mußte, daß keiner aus der Reihe trat. Nun bemerkte Asmus freilich bald, daß der größere Teil des Kollegiums die Verfügung des Chefs nicht mehr sonderlich ernst nahm; die Herren ließen denn auch den spazierenden Kindern die Zügel leidlich locker. Dann freilich tauchte gelegentlich Herr Drögemüller auf und verwies laut scheltend die zuchtlosen Elemente in ihre Reihen zurück, um dem Aufseher zu demonstrieren, daß er seine Pflicht verletze. Die Herren, meistens ältere, wohlverdiente und zum Teil ihrem Chef bei weitem überlegene Männer, aßen ihr Frühstück ruhig weiter und taten nach wie vor, was sie für gut hielten. Aber jetzt waren drei junge Herren ins Kollegium gekommen, und die wollte Herr Drögemüller gleich richtig an die Kandare nehmen, damit sie ihm nicht über den Kopf wüchsen.
Als Asmus zum erstenmal die Aussicht führte, freute er sich über jeden, der die Ordnung der Sektionen verließ. Aber siehe, schon war Herr Drögemüller da und heulte durch die Nase und trieb die Schwarmgeister an ihren Platz.
»Das geht aber nicht, Herr Semper; achten Sie bitte strenge darauf, daß die Schüler zu vieren gehen.«
»Ja, da kann dann freilich von Erholung nicht mehr die Rede sein,« bemerkte Asmus.
»Ooh, das wollen wir doch nicht sagen!«
»Ja, für siebzigjährige Spittelleute mag das ja eine genügende Erholung sein; aber junge Körper, wenn sie stundenlang in der Bank gesessen haben, wollen sich gehörig tummeln und die Lungen reinpumpen.«
»Herr Semper, wenn wir das einreißen ließen, dann würden wir jeden Tag blutige Nasen und gebrochene Gliedmaßen und hinterher die Klagen der Eltern haben.«
»Herr Drögemüller, wir haben uns als Jungen auf dem Schulhof geschlagen wie Hunnen und Nibelungen, und blutige Nasen habe ich mehr als eine davongetragen; ich habe aber Blut genug übrig behalten, vielleicht noch zuviel. Nach Ihren Grundsätzen müßte man den Kindern das Spiel überhaupt verbieten; denn Unfälle, sogar tödliche, sind freilich niemals ausgeschlossen.«
»Was anderswo passiert, ist mir einerlei, in meiner Schule soll aber so etwas nicht vorkommen, und darum muß ich darauf dringen, daß meine Anordnungen befolgt werden.«
In Asmus wirbelte etwas empor; aber der Vorgesetzte hatte bereits den Rücken gewandt und war gegangen.