Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Handelt von Balladen und Präparanden, Gendarmen und hebräischen Handschriften, zum Glück auch von Präparandinnen.
Asmus Semper, der halbwegs sechzehnjährige Schüler des Hamburger Präparandeums, schwamm bis über die Augenbrauen in Seligkeit. Vor seinen Blicken wogte eine warme, goldene Flut. Herr Tönnings, der Ordinarius, der genau so aussah wie die Geometrie mit einem Stehkragen und von dem ein Gerücht ging, daß er vor sieben Jahren den einen Mundwinkel zu dem Versuch eines Lächelns verzogen habe, Herr Tönnings also hatte soeben verkündet, daß u. a. auch Asmus Semper eine Hospitantenstelle erhalten solle. Man denke, was das heißt: eine Hospitantenstelle! Jeden Morgen von 8–12 Uhr sollte er in einer Volksschule dem Unterricht der Kleinen zuhören dürfen, und dafür bekam er noch obendrein ein jährliches Gehalt von dreihundertundsechzig Mark! Jeden Morgen sollt' er aus nächster Nähe hineinhorchen dürfen in die Werdestatt der Seelen, in die Wiege der Erkenntnis; das hohe Wunder sollt' er nun begreifen: wie der Geist des Menschen Nahrung aufnimmt, wächst und sich vollendet!
Und noch dreihundertundsechzig Mark! Er hatte ja nichts von dem Geld, wollte auch keinen Pfennig davon, haha – aber auf das Gesicht seiner Eltern freute er sich, daß ihm die Augen heiß wurden. Er wollt' es ihnen nicht eher sagen, als bis er sie beide beisammen hatte, und dann wollte er die Wirkung beobachten; aber die kleine Wohnung der Semper betrat man durch die Küche, und in der Küche briet Frau Rebekka die Abendkartoffeln, und als er seine Mutter sah, konnte Asmus sich nicht mehr halten, und weil er wußte, was seine Mutter am meisten freute, rief er: »Ich kriege dreihundertundsechzig Mark das Jahr!«
Im nächsten Augenblicke war Frau Rebekka schon in der anstoßenden Zigarrenmacherstube, schwang das Messer, mit dem sie die Kartoffeln umgerührt hatte, hoch in der Luft und rief: »Freude war in Trojas Hallen!« Aber da stand auch schon Asmus neben ihr, und damit sie ihm nicht zuvorkommen könne, rief er: »Laß, Mutter, laß, ich will es Vater sagen! – Ich krieg' eine Hospitantenstelle mit dreihundertundsechzig Mark das Jahr!«
Und da hatte Asmus wieder den Anblick, der ihm vielleicht von allen aus der Welt der liebste war: in dem weißumwallten Jupiterantlitz Ludwig Sempers gingen zwei Sonnen auf und verbreiteten Licht durch die ganze Welt.
»Ach nein – es ist ja wohl nicht möglich!« rief der Vater, indem er den Kopf zurückwarf.
»Ganz gewiß!« rief Asmus. »Nun verdiene ich mehr, als wenn ich Handwerker geworden wäre. Seht mal, wenn ich Tischler oder Hutmacher lernte, dann kriegte ich das erste Jahr gar nichts oder vielleicht drei Mark die Woche, und dies sind beinahe sieben Mark die Woche, und das geb' ich natürlich alles euch!«
Da schlug Ludwig Semper heftig das linke Bein über das rechte, wie er immer tat, wenn er in seinem Innern sehr zornig oder sehr lustig war, und redete fast den ganzen Rest des Abends mit stumm bewegten Lippen zu sich selber. Und hin und wieder lachte sein Gesicht laut und hell auf, ohne daß man einen Ton gehört hätte, und unzählige Tabakblätter verschnitt er an diesem Abend und warf sie in die Abfallschürze, weil er mit seinem Messer immer wieder sausend über die sonnigen Felder und Weiden seiner Jugend fuhr. Ach, er hatte ja auch studieren sollen; aber dann war der finanzielle Zusammenbruch seines Vaters gekommen, und dann die Sorge, dann der Krieg mit den Dänen, dann seine Träumerei und sein erhabener Leichtsinn, und dann die Liebe, und dann immer ein Kind nach dem andern. Und so machte er mit 58 Jahren noch immer Zigarren. Aber mit einem Schlage war jetzt seine Jugend wieder da – da stand sie vor ihm, fünfzehnjährig, rotwangig – nichts war verloren; denn ob nun Ludwig Semper oder Asmus studierte, das war ja vollkommen dasselbe.
Rebekka aber, als sie von »sieben Mark die Woche« hörte, vergaß all ihre Sparsamkeit, lief in die Küche und schob noch ein Stück Rindertalg unter die Kartoffeln, und als sie auch da noch ziemlich trocken ausschauten, griff sie leichtsinnig nach dem Teekessel und goß einen gewaltigen Strahl Wassers in die Pfanne, daß eine mächtige Wolke wie eines Dankopfers zu den Himmlischen emporstieg.
Dann kam die Pfanne auf den Tisch, und sieben Semper versammelten sich andächtig um das zentrale Heiligtum. Sie waren alle gesund, das sah man an den Bewegungen der Gabeln; aber Adalbert, der Jüngste, war so gesund, daß Frau Rebekka nach einer Weile ausrief: »Halt, mein Junge, du hast jetzt genug. Es wird kein Fresser geboren, es wird einer gemacht!«
Adalbert wollte sich melancholisch zurückziehen, da sprach der Vater: »Laß doch den Jungen essen!« und trat seine Ansprüche an die Allgemeinheit ab.
Und nach dem Essen – obwohl die Semper über das Abendbrot hinaus bis gegen Mitternacht zu arbeiten pflegten – warf Ludwig Semper Messer, Tabak und Rollklotz in die Ecke, holte den stark zerlesenen und vergilbten »Faust« vom Bücherbrett und las und warf das linke Bein über das rechte und bewegte die Lippen und lächelte. Und alle waren still, und Asmus wußte: Nun kommt eine heilige Stunde. Und wirklich, es währte nicht lange, da klang es durch den Raum:
»Erhabner Geist, du gabst mir, gabst mir alles, Warum ich bat. Du hast mir nicht umsonst Dein Angesicht im Feuer zugewendet. –« |
In einem wunderlieben Dorfe, das sich jetzt zu einer großen, häßlichen Vorstadt Hamburgs ausgewachsen hat, damals aber noch im heitern Frieden seiner Kindheit lag, in einem Garten mit Rosen und Apfelbäumen fand Asmus die Schule, an der er hospitieren sollte. »Ich habe zuviel Glück,« dachte er, als er sie nach einstündiger Wanderung vor sich liegen sah. Gewöhnlich, wenn er solch ein stummes Dankgebet in den Himmel hinaussandte, zog ihm gleich darauf das Glück etwas ab, als wenn es dächte: Der ist auch mit weniger zufrieden. Das erste nämlich, was er tun mußte, war: sich im Portal der Schule aufstellen und alle Schüler aufschreiben, die zu spät kamen. So hatte sich Asmus das Belauschen der Kindesseele nicht gedacht. Aber da es nun einmal sein Amt war, so notierte er gewissenhaft alles, was an Buben oder Mädchen den letzten Glockenschlag versäumte, obwohl es ihm bei den Mädchen mitunter schwer wurde. Anfangs empfand er wohl so etwas wie die Würde einer obrigkeitlichen Stellung, namentlich als ein Vater, der mit dem Schulgeld im Rückstande war, an ihn herantrat und bat, daß man noch ein wenig Geduld mit ihm haben möchte, und ihm heimlich ein paar Zigarren in die Hand drücken wollte. Asmus wich zwar ängstlich zurück und rief: »Darüber habe ich leider gar nichts zu sagen!« – aber als deutscher Jüngling fühlte er sich doch geschmeichelt, daß man ihn für eine Behörde hielt. Diese Reize indessen verflüchtigten sich schon nach wenigen Tagen. Dann kam eines Morgens ein blasses, frierendes, von Regen durchnäßtes Mägdelein, das weinte.
»Warum weinst du?« fragte Asmus.
»Ich konnte nicht eher kommen; mein Vater hat meine Mutter 'rausgeschmissen.«
»Warum das denn?«
»Och, er is all wieder duhn (betrunken).«
»So früh schon?«
»Ja, er säuft immer 'rum.«
Asmus erschrak. Gab es Kinder, die so über ihren Vater reden konnten?
»Geh' nur zu,« sagte er. Das war ja selbstverständlich, daß man die nicht anschrieb. Er sah ihr nach und dachte daran, daß sie fror. Und dachte, wie er als Junge gefroren, wenn ihm der Wind unter die dünne Jacke fuhr.
Von nun an fragte er öfter nach dem Grunde der Verspätung, und er notierte immer weniger. Und eines Tages sagte er sich: Entweder man muß alle aufschreiben oder keinen. Und nun ließ er alle vorbeilaufen und arbeitete an seiner ersten Ballade, die handelte von einem Fischer, der aufs Meer fuhr, um seinen Sohn zu retten, und der dann mit seinem Sohne ertrank. Das Schönste an dieser Ballade war eine Refrainstrophe, die mit den Zeilen schloß:
»Drunten klingt verworrner Klang, Tönt es nicht wie Grabgesang?« |
Alles, was nach Grab und Unglück klang, das fand der glückliche Asmus jener Tage ohne weiteres schön.
»Warum notieren Sie nicht die Zuspätkommenden?« fragte schließlich der Oberlehrer.
»Ich mag das nicht,« sagte Asmus verlegen.
»Ja, danach geht es nicht,« rief der Vorgesetzte. Aber bald darauf wurde die ganze Einrichtung aufgehoben, und der Posten des Kulturgendarmen wurde eingezogen.
Der Oberlehrer schätzte den jungen Semper wegen anderer Fähigkeiten. Leider, dachte Asmus. Denn wenn die Wache am Portal vorüber war, mußte er im Amtszimmer des Schulleiters dickleibige Schülerregister anlegen und auf dem Laufenden halten, Schulgeldrechnungen schreiben, sie mit den Hebeprotokollen »kollationieren« und endlose Kolonnen von Schulgeldern addieren. Auch das führte den Begierigen nicht in die Tiefen der Kindesseele. Es waren fünf Präparanden da: zwei junge Mädchen und drei junge »Männer«, sie alle mußten Protokolle schreiben und Rechnungen addieren. Unter den jungen Herren war aber einer, dessen Handschrift man zunächst immer für hebräische Schriftzeichen hielt; erst nach und nach kam man dahinter, daß es die bekannten deutschen Buchstaben sein sollten. Da Claus Münz überdies ohne jedes Schamgefühl addierte, so wurde er schon nach drei Tagen in die Klassen zum Hospitieren geschickt. Asmus hingegen, weil er eine gute Handschrift hatte, seine Rechnungen sogar mit einem gewissen Schönheitsbedürfnis schrieb und es nicht über sich gewann, falsch zu addieren, Asmus durfte im Bureau sitzen bleiben. Ihm fielen die Verheißungen des Herrn Rösing, seines alten Lehrers ein, der jeden Morgen gesagt hatte: »Jungens, schafft euch 'ne schöne Handschrift an; wer 'ne schöne Handschrift hat, kommt überall fort!«
Freilich: sein Schönheitsbedürfnis hatte auch schon in den ersten Tagen das Glück herausgefunden, das auch mit dieser Schreibstube wieder verbunden war, und dieses Glück war eine der Präparandinnen, die sehr hübsch war und noch obendrein brünett. Asmus schrieb und addierte den ganzen Morgen mit einer seligschmerzlichen Spannung in der Brust, und der Schmerz kam daher, daß er sich sagte: Ich kann ja noch lange nicht heiraten. Und wenn ich heiraten kann, hat sie ein anderer geholt. Die andern beiden Jünglinge kokettierten in unschuldiger, aber fleißiger Weise mit den beiden Mädchen. Asmus dachte nicht daran, auch nur den Versuch zu wagen, weil er von seiner vollkommenen Tölpelhaftigkeit in dieser Hinsicht durchaus überzeugt war. Und eines Tages machte er dennoch den Versuch, zu imponieren. Das Zimmer war überheizt, wie alle Schreibstuben, und man klagte darüber. »Ja,« sagte Asmus, der nahe dem Ofen saß, »hier sitzt man wie die Sau am Spieß«; denn er hatte das Gefühl, daß eine kraftvolle Ausdrucksweise den Mann verrate. Aber, o weh: die Damen fuhren wie wild mit den Köpfen in ihre Arbeit und kicherten, wie nur Backfische kichern können. Sie denken: das ist ein Bauerntölpel, sagte sich Asmus, und fühlte, daß er von den Haarwurzeln bis unter den Halskragen erröte. Und die männlichen Kollegen Asmussens, Herr Münz und Herr Morieux, betrachteten ihn mit überlegen-mitleidigen Blicken, als wollten sie sagen: Ist das ein ungebildeter Mensch. Aber als wenige Tage darauf von Rousseaus »Emile« die Rede war, da zeigte sich, daß nur Asmus wußte, was wirklich darin steht, und die Braune hielt ihre braunen Augen so lange auf ihn gerichtet, als wenn sie ihn heute zum ersten Male sehe.