Otto Ernst
Semper der Jüngling
Otto Ernst

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XIII. Kapitel.

Frühlings- und Ferienlust; Wiederauftreten des Herrn Morieux; ein längerer Blick der »Dame in Trauer«, ein Aufstieg ins Gebirge und ein Gärtner mit einer Schere.

In der Tat, das einzige Gute, das solche Prüfungen haben, sind die Ferien, die sich ihnen gewöhnlich anschließen. Drei Wochen hatte er nun frei – er warf sich daheim aufs Sofa und streckte die Beine, als wenn er sie gleich durch die ganzen drei Wochen hindurchstrecken wollte. Und auch gefeiert wurde er! Frau Rebekka, die nun endlich ganz beruhigt war, fragte ihn feierlich, was er denn heute essen wolle. Das war noch nicht dagewesen. Und Asmus nahm seinen Flug bis zum Gipfel der Imagination und sagte nach einigem Erwägen: »Pfannkuchen mit Pflaumenmus.« »Sollst du haben,« sagte Frau Rebekka und flog in die Küche an den Herd.

Was sein Vater ihm gab, war anderer Art. Asmus saß mit einem Buch an seinem gewohnten »Schreibtisch«, und Ludwig Semper saß an seinem Arbeitstisch und machte Zigarren. Und obwohl Asmus ihn nicht ansah, wußte er wieder ganz genau, daß die Augen seines Vaters auf ihm ruhten, und er hütete sich wohl, den Blick zu erheben und die zärtlichen, sommerwarmen Augen seines Vaters zu verscheuchen. Er las nicht mehr, er sah immer auf dasselbe Wort und dehnte sich in der Juliwärme dieses Blickes, dehnte sich langsam, kaum merklich, aus Furcht, die Sonne möcht' es merken und sich verhüllen; er fühlte sich von einem heiligen Licht umflossen und sah in diesem Licht wie goldene Stäubchen die Millionen seligen Erinnerungen seiner Kindheit wirbeln.

Und noch ein andres Herzensglück sollten diese Tage ihm bringen. Als Asmus eines warmen Frühlingstages am Fenster stand und auf seiner Zehn-Marks-Geige nach einer Notenschrift in den Wolken fantasierte, wurde heftig geklopft. Im selben Augenblick sprang auch schon die Tür auf, und wer trat herein? Morieux. Morieux mit bleichem, verzerrtem Gesicht und weit vorgestreckter Hand.

»Ich wollte dir die Hand zur Versöhnung bieten,« sagte er.

»Bravo!« rief Asmus, indem er klatschend einschlug, »wie geht's dir? Was machst du? Komm, setz' dich ins Sofa! Steck' dir eine Zigarre an, eine feine Brasil. Trinkst du lieber Bier oder Kaffee?«

Er war nahe daran, seinem Freunde Kost und Logis für drei Monate anzubieten; denn er mußte reden, um seiner Gemütsbewegung Herr zu werden. Er schämte sich viel mehr als sein Freund; er war über und über rot geworden, lief planlos im Zimmer hin und her und stellte seinem Gast die beiden besten Stühle hin, obwohl er ihn ins Sofa gebeten hatte.

Morieux fing an, von seinem Verschulden zu sprechen.

»Aber ich bitte dich!« rief Asmus, »sprich nicht davon. Wenn ich mich vertrage, hab' ich alles Vergangene vergessen. Ich hatt' es sowieso schon vergessen. Da – hier – spiel' mir was vor!« Er drückte ihm die Geige in die Hand. »Bitte, bitte, die F-Dur-Romanze!«

Und Beethovens Töne schwemmten alle Kleinigkeiten hinweg.

Drei Wochen sollte er so genießen! Was konnte man da für Spaziergänge machen, für Bücher lesen, für Duette spielen, für Gedichte machen – es war nicht auszudenken! Ganze Epopöen konnte man dichten! Er begann auch sofort mit einer breit angelegten Dichtung »Niobe«, in der die vierzehn Kinder der bejammernswerten Tantalstochter einzeln starben. Ach ja, Ferien waren doch noch schöner als die schönsten Unterrichtsstunden! Auch als Junge war er – wenn seine Mitschüler ihn nicht peinigten – mit Lust zur Schule gegangen, ja, die Geschichts- und Geographie- und Physikstunden des Herrn Cremer waren ihm zuzeiten das Liebste auf der Welt gewesen; aber das Allerliebste blieben doch die Ferien. Als er noch in der Klasse des Herrn Rösing gewesen war, da war eines Morgens ein Lehrer gekommen und hatte gesagt: »Ihr könnt wieder nach Hause gehen, Herr Rösing ist krank.«

»Hurra!« hatte die ganze Klasse geschrien. Da hatte der Lehrer gerufen: »Jungens, seid ihr des Teufels? Wenn euer Lehrer krank ist, brüllt ihr Hurra?«

Aber das war eine tendenziöse Zusammenstellung. Sie dachten gar nicht an die Krankheit des Herrn Rösing; sie dachten nur an ihre Freiheit. Sie gönnten dem Lehrer jedes Wohlbefinden, wenn er nur nicht kommen wollte. Und auch Asmus hatte Hurra geschrien . . .

Aber seine Ferien waren noch nicht ganz; einige Tage mußte er noch in die Schule zum Unterrichten, und dann mußte er noch eine Prüfung ablegen: prüfend sollte er geprüft werden. Da der kranke Lehrer noch immer nicht wieder erschienen war, so mußte Asmus »seine« Klasse bei der öffentlichen Prüfung vorreiten. Das war wieder eine bange Stunde; denn hinter ihm, neben ihm, an den Wänden entlang und auf den Bänken der Kinder saßen und standen sämtliche Damen und Herren des Kollegiums. Auch Laura war natürlich da und die beiden Leonoren; und ganz hinten auf der letzten Bank saß Beatrice, oder, wie sie eigentlich hieß: Hilde Chavonne. Sie hatte zum ersten Male die Trauer abgelegt, wenn auch nur in ihren Kleidern; sie trug ein leuchtend braunes Kleid, und in diesem Kleide, mit ihrem reichen braunen Haar und ihren melancholisch-braunen Augen war sie brünetter, hübscher und stolzer denn je. Und mit einem Male sprang in Asmussens Seele ein Imperativ empor: dieser Stolzen sollst du imponieren. Den Blick dieses Mädchens wählte er sich zum Leitstern durch die schwere Stunde, und nichts gibt der Arbeit eines Siebzehnjährigen einen feurigeren Aufschwung, als wenn auf ihr der Blick eines Weibes ruht.

Als die Prüfung vorüber war, sagte der Oberlehrer nichts; er wiegte nur wohlwollend auf und ab das Haupt. Als die Damen das Zimmer verließen, sah Asmus, daß Fräulein Chavonne sich mit einer Kollegin über ihn unterhielt; denn diese blickte ihn wiederholt von der Seite an; Hilde Chavonne aber heftete, bevor sie hinausschritt, noch einmal den Blick auf ihn, als habe sie den kleinen Herrn erst heute kennen gelernt, und was das Merkwürdige war: sie wandte den Blick nicht weg, wie es sonst die Mädchen zu tun pflegen, wenn der Blick eines Jünglings ihrem beobachtenden Auge begegnet; nein: offen, fest und ernst blickte sie ihm ins Auge.

Nach völlig beendigter Prüfung wollte Semper sich von den Herren des Kollegiums verabschieden.

»Was fällt Ihnen ein!« rief einer der Herren, »Sie müssen mit uns.«

Asmus erklärte, er könne nicht, er habe »furchtbar viel zu tun,« und als der joviale Herr ihn nicht lassen wollte, sagte er leise: »Ich habe kein Geld.«

»Wofür halten Sie mich denn?« rief der Lehrer lachend, »wenn ich Sie einlade, brauchen Sie doch kein Geld.«

Nun ging es in eine halbländliche Kneipe, wo man in Lauben saß und der Wirt noch ein Käppchen trug. Asmus war glücklich und stolz; die Herren behandelten ihn nicht nur als Kollegen, sie nannten ihn sogar so. Und sie waren über die Maßen lustig und erzählten sich in seiner Gegenwart die ausgelassensten Schnurren. Asmus saß mit weit offenen, lachenden Augen da. Er hatte mit jener scheuen Ehrfurcht, die er vor allem Unbekannten hegte, diese Herren für Halbgötter gehalten, die hoch über der Lust gewöhnlicher Sterblicher dahinwandelten. Die Entdeckung, daß sie fröhliche Menschen waren, war ihm ein fröhliches Wunder. So gefielen sie ihm noch viel besser.

Einer der Herren zog Asmus in ein Gespräch über Rousseau. Er meinte, das Leben Rousseaus sei tadelnswert und seine Theorien seien nicht ausführbar. Aber Asmus war schon beim dritten Glas und verteidigte seinen Liebling wie eine Löwin ihr Junges. Rousseau sei der beste der Menschen gewesen, und alle seine Ideen seien ausführbar, wenn man nur wolle.

»Na, Herr Semper,« warf ein etwas eingetrockneter Herr aus der Runde ein, »darüber können Sie doch wohl noch nicht urteilen.«

»Wissen Sie, was Schiller sagt?« rief Asmus.

»Nee,« sagte der Herr.

Und Asmus rezitierte mit hochgeröteten Wangen:

»Monument von unsrer Zeiten Schande,
Ew'ge Schmachschrift deiner Mutterlande,
Rousseaus Grab, gegrüßet seist du mir!
Fried' und Ruh' den Trümmern deines Lebens!
Fried' und Ruhe suchtest du vergebens;
Fried' und Ruhe fand'st du hier.

Wann wird doch die alte Wunde narben?
Einst war's finster, und die Weisen starben;
Nun ist's lichter, und der Weise stirbt.
Sokrates ging unter durch Sophisten,
Rousseau leidet, Rousseau fällt durch Christen,
Rousseau – der aus Christen Menschen wirbt.«

Die Worte» Schande«, »Schmachschrift«, »Sophisten« und »Christen« hatte Asmus mit anzüglicher Betonung hervorgehoben.

»Ja, das ist ja sehr formvollendet,« sagte der Gedörrte mit einer empörenden Kälte, »aber Schiller ist für mich auch nicht maßgebend.«

»Was? Schiller –?«

Asmus wollte aufspringen; aber jener andere Herr legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: »Ich werde Ihnen mal Rousseaus »Bekenntnisse« leihen; die werden Sie interessieren.«

»O ja! Herzlichen Dank!« rief Asmus, und am nächsten Tage stürzte er sich in die »Bekenntnisse«.

Das war Öl ins Feuer. Den Kopf in beide Hände vergraben, las er stundenlang mit heißen und heißeren Wangen. Da plötzlich sprang er auf, warf die Arme nach beiden Seiten und rief ganz laut: »O Gott – o Gott!« Er hatte die Stelle gelesen, wo Rousseau sich vor dem Leser zu jenem Diebstahl bekennt, den er hartnäckig geleugnet hat. Wohl eine Stunde lang stürmte Asmus im Zimmer auf und ab, oder er warf sich ins Sofa, vergrub das Gesicht in beide Hände und atmete schwer. Welch ein Mut, welch ein Wahrheitsmut! Welch eine erschütternde Liebe zur Wahrheit! Asmus wollte weiterlesen; aber kaum hatte er das Buch berührt, so schlug er es heftig zu. Er konnte nicht weiterlesen; eine geheimnisvolle Macht verwehrte ihm, die heiligte, größte Stunde seiner Jugend selbst zu töten. Er lief ins Freie, rannte durch Felder und Wiesen und sah von Feldern und Wiesen nichts; er fühlte nur eine unaufhörliche Brandung gegen die Wände seines Herzens schlagen. Gegen Abend kehrte er ruhiger nach Hause zurück. Wieder schlug er das Buch auf, und langsam, zärtlich, mit ferngewandtem Blick machte er es wieder zu. Wie der Bergwanderer, der einen höchsten Grat erstiegen und nun die freie und reine Herrlichkeit der Täler und Gipfel erschaut, sich nicht entschließen kann, wieder dort hinabzusteigen, wo alles das ihm entschwinden wird, so konnte es Asmus nicht über sich gewinnen, die Höhe zu verlassen, wo himmlische Lust sein Herz durchbraust hatte.

Und zu diesem Rousseau würde nun bald im Seminar Pestalozzi kommen und Comenius und die Alten: Plato, Aristoteles, die Kirchenväter – er hatte Einblick in den Lehrplan des Seminars bekommen – ach: was gab es da nicht alles in der Psychologie, in der Logik, in der Methodik, in Literatur und Geschichte, Mathematik und Naturwissenschaften – ihm lief das Wasser im Munde zusammen wie einem Schlemmer, der vom Gastmahl des Trimalchion liest, von einem jener römischen Gelage, wo ganze Ochsen und Eber auf goldenen Wagen herangefahren wurden und Speisen und Getränke aus der Decke, aus den Wänden und aus dem Boden hervorkamen. Das alles, was da in dem Lehrplan stand, sollte er studieren dürfen, bis in die tiefsten Schachte der Wissenschaft hinein, und zu Hause würde er noch Zeit haben, noch ebensoviel dazu zu lernen –

»O Erd', o Sonne,
O Glück, o Lust!«

das war der tägliche Text seines Herzschlages, die immer wiederkehrende Melodie seines Gedankenreigens. Was sich draußen golden und grün über Felder und Hecken breitete und was sich golden und grün über unendliche Fluren in seinem Herzen dehnte: es war derselbe Frühling, derselbe lerchenfrohe Lebensmorgen.

Der alte Moor fiel ihm ein, der, seines Erstgeborenen gedenkend, erzählt: »Da ihn die Wehmutter mir brachte, hub ich ihn gen Himmel und rief: »Bin ich nicht ein glücklicher Mann?«

Im Übermute seines Herzens mußte er es still in sich hineinrufen: Bin ich nicht ein glücklicher Mann?

Freilich: der alte Moor war dann nichts weniger als glücklich geworden.

»Aber ich bin glücklich!« rief Asmus in sich hinein »und ich werde glücklich sein, ich weiß es.«

Mit solchen Empfindungen überschritt er an einem Aprilmorgen zum ersten Male die Schwelle des Seminars.

Er hörte nicht die Schere klingen, die Schere des Gärtners, der herankam, sein Glück zu beschneiden.


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