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Illustration: Theophile Schuler

X

Zwei oder drei Tage später kam das Gespräch abends im Kasino zufällig auf die alten Zeiten, und der dicke Steuereinnehmer Hahn feierte die Bräuche von früher. Er erzählte von den winterlichen Schlittenfahrten mit seinem guten Vater Christian, der in seinen mit Fuchspelz gefütterten Mantel und die dicken, mit Lammfell ausgelegten Stiefel geschlüpft war und sich die Kappe aus Fischotterfell über die Ohren und die Fäustlinge bis an die Ellenbogen hinauf gezogen hatte, um die ganze Familie bis zum Gipfel des Rothalps Damit könnte der Berg Rodalben in der Südpfalz gemeint sein, wenige km westlich von Dahn. zu fahren, wo man die reifbedeckten Wälder bewundern konnte. Die jungen Männer der Stadt seien zu Pferd gefolgt, um verstohlene, verliebte Blicke auf den Schwarm junger Mädchen zu werfen, die sich in Umhänge hüllten und ihre rosigen Näschen in schwanenweißen Kätzchen vergruben, weißer als Schnee.

»Eine schöne Zeit war das«, meinte Hahn. »Bald darauf erfuhr die ganze Stadt, dass der junge Ratsherr Lobstein oder der Herr Notarassessor Münz mit Lottchen, der hübschen Rosa oder der großen Wilhelmine verlobt war. Mitten im Schnee, vor den Augen der Eltern hatten sie sich ineinander verliebt. Man kam damals auch oft im Frauenzimmer Im Originaltext Madame-Hüte oder -Hütte genannt und als Tanzsaal erklärt. zusammen, und in der Stimmung gerieten alle Stände durcheinander, Adel, Bürgertum und Volk. Niemand kümmerte sich darum, ob jemand Graf oder Freiherr war, wenn er nur gut Walzer tanzen konnte. Versucht einmal, heute solche Ausgelassenheit zu finden! Die vielen Geadelten, die's jetzt gibt, fürchten sich doch viel zu sehr davor, mit dem gemeinen Volk verwechselt zu werden.«

Hahn pries auch die kleinen Konzerte und die schöne, elegante und schlichte Kammermusik, die neuerdings durch das Getöse der großen Ouvertüren und die düsteren Melodien der Symphonien verdrängt worden sei.

Wenn man ihm zuhörte, glaubte man den alten Ratsherrn Baumgarten in der mit Glanzpuder bestäubten Perücke und dem steifen Rock zu sehen, der das Violoncello gegen sein Bein stemmte und den Bogen quer über die Saiten strich. Neben ihm saß Fräulein Seraphia Schmidt zwischen zwei Leuchtern am Cembalo, und ringsumher spielten die Geiger mit den Augen auf den Notenheften. Der Freundeskreis stand im Schatten des Hintergrundes.

Diese Bilder machten alle nachdenklich. Der lange Schulz wippte auf dem Stuhl, hielt eins seiner spitzen Knie in den Händen, heftete die Augen auf die Zimmerdecke und rief:

»Ja, ja, diese Zeiten liegen weit zurück! Ach, wir werden alt... Welche schönen Dinge, welche lieben Erinnerungen du in uns wachrufst, Hahn! Bloß macht uns das nicht wieder jung.«

Auch Kobus hatte Hahns Gedanken im Kopf, als er durch die Kapuzinerstraße heimging.

»Er hat recht«, sagte er zu sich, »wir haben's erlebt, aber es kommt uns vor, als ob's ein Jahrhundert zurückliegt.«

Er schaute zu den Sternen auf, die zittrig am unendlichen Himmel standen, und dachte:

»Dort oben ist die Zeit nicht vorangeschritten, alles ist noch an seinem Platz. Nur wir haben uns geändert. Welch schreckliche Einsicht, dass man jeden Tag ein wenig altert, ohne es zu merken. Am Ende zieht man vor den Augen der jungen Generation grau und runzlig in den alten Kleidern und ehrwürdigen Perücken vorüber, die uns Hahn vorhin geschildert hat. Dagegen kann man nichts machen; es steht uns ebenso bevor wie allen anderen.«

Mit diesen Gedanken trat Fritz in sein Zimmer und legte sich schlafen.

Am nächsten Morgen hatte er bereits alles vergessen, als seine Augen auf das alte Cembalo fielen, das zwischen der Anrichte und der Tür stand. Es war ein Möbelchen aus Rosenholz, mit dünnen Beinen, die elegant gekrümmt ausliefen, und wies nur fünf Oktaven auf. Seit dreißig Jahren stand es da. Katel stellte vor dem Essen die Teller dort ab, oder Kobus warf seine Kleider darüber. Weil er es oft sah, hatte er nicht mehr darauf geachtet, aber jetzt kam es ihm vor, als habe er es wiedergefunden, nachdem es ihm lange gefehlt hatte. In Gedanken versunken zog er sich an. Dann schaute er aus dem Fenster und sah, dass Katel draußen auf dem Markt beim Einkaufen war.

Sofort trat er ans Cembalo, öffnete es und ließ die Finger über die gelben Tasten gleiten. Als ein dünner Klang aus dem Instrument erscholl, überflog der gute Kobus in weniger als einer Sekunde die letzten dreißig Jahre. Ein feines, bleiches Gesicht Das Gesicht der Mutter Emile Erckmanns ist so beschrieben worden ( Benoit-Guyod (Fußnote 4 zum Vorwort), S. 35). fiel ihm ein, das Gesicht seiner Mutter, der jungen Frau Kobus, die das Cembalo gespielt hatte. Neben ihr saß der Herr Amtsrichter Kobus, hatte seinen Dreispitz an die Stuhllehne gehängt und hörte zu. Fritz selbst war damals als Bübchen mit dem Pferd aus Pappe auf dem Boden gesessen und hatte »hüh, hüh!« gerufen, während der Vater den Finger hob und »leise!« mahnte. Das und vieles andere zog vor seinen Augen vorbei.

Er setzte sich und schlug ein paar alte Melodien an, den Sänger Im Originaltext Le troubadour. Es könnte sich um Johann Wolfgang Goethes Gedicht Der Sänger (1782, vertont von Reichardt) handeln. Weniger wahrscheinlich ist ein Anklang an den Troubadour von Verdi, denn dieses Werk wurde erst 1853 uraufgeführt (Hinweis von Prof. J. Etlin (Fußnote 10 zum Vorwort), Anhangsband S. 15). und die alte Romanze vom Kreuzfahrer Prof. J. Etlin (wie vorige Fußnote) meint, der hier angesprochene Croisé könne ein Lied aus der Oper Il crociato in Egitto von Giacomo Meyerbeer sein..

»Ich hätte nicht gedacht, dass mir davon auch nur eine Note einfallen würde«, dachte er. »Erstaunlich, dass das alte Cembalo noch so gut gestimmt ist. Mir ist, als ob ich's erst gestern gehört hätte.«

Er bückte sich und zog einige alte Notenhefte aus dem Kasten, die Belagerung von Prag Mit Le siège de Prague ist vermutlich das Lied aus dem Siebenjährigen Krieg Als die Preußen marschierten vor Prag gemeint., das Aschenbrödel Nach Prof. J. Etlin (wie Fußnote 80) wahrscheinlich die ›Zugnummer‹ aus der 1820 erstaufgeführten komischen Oper La Cenerentola von Gioacchino Rossini (1792-1868)., die Ouvertüre zur Vestalin La Vestale war eine der ersten sog. großen Opern mit vollständig vertontem Libretto, dramatischem Geschehen und Massenszenen. Geschrieben von Gasparo Spontini, wurde sie 1807 in Paris uraufgeführt ( Willi A. Koch: Musisches Lexikon (Stuttgart 1956: Alfred Kröner), Sp. 880). und alte Romanzen, kleine lustige Stücke, aber stets über die Liebe: Die lachende und die weinende Liebe; Liebe hier, Liebe dort!

Zwei oder drei Monate früher hätte sich Kobus über Lukas und seine rosa Strumpfbänder oder Arthur mit dem schwarzen Federbusch lustig gemacht. Er hatte einmal den Werther Die Leiden des jungen Werthers ist Johann Wolfgang Goethes Verarbeitung einer unglücklichen Liebesgeschichte, entstanden 1774 in Form eines Briefromans. gelesen und sich während der ganzen Geschichte die Rippen gehalten. Jetzt fand er das alles wunderbar.

»Hahn hat völlig recht«, sagte er zu sich, »so schöne Lieder werden nicht mehr geschrieben: Im Original lautet der folgende Liedtext: Rosette / si bien faite / donne-moi ton cœur, ou je vas mourir! Der ebenso triviale deutsche Text stammt vom Übersetzer.

Rosalind',
schönes Kind...
Schenk mir dein Herz, sonst leide ich Schmerz...
So einfach und natürlich!
Schenk mir dein Herz, sonst leide ich Schmerz...
Genau richtig! Das ist doch Poesie, es geht einem nahe, aber die Sprache ist ganz simpel. Und dann die Melodie!«
Er fing an zu spielen und sang:
»Rosalind',
schönes Kind,
Schenk mir dein Herz, sonst leide ich Schmerz!«

Unaufhörlich wiederholte er die Schnulze, und das ging wohl zwanzig Minuten, bis ein Geräusch von der Tür her zu hören war. Jemand klopfte an.

»Das ist David«, sagte er zu sich und schloss schnell das Cembalo, »der würde aber lachen, wenn er mich Rosalind' spielen hörte!«

Er wartete einen Augenblick. Als aber niemand hereinkam, ging er nachsehen. Man stelle sich seine Überraschung vor, als er hinter der Tür Susel mit ihrem weißen Schürzchen, dem himmelblauen Rock und einem Korb erblickte. Sie war errötet und völlig verschüchtert.

»Ach, du bist's, Susel!« sagte er erstaunt.

»Ja, Herr Kobus«, sagte das Mädchen, »ich warte schon lange in der Küche auf Fräulein Katel, und da sie nicht gekommen ist, habe ich gedacht, ich müsste doch meinen Auftrag erledigen, bevor ich gehe.«

»Welchen Auftrag denn, Susel?«

»Mein Vater schickt mich, um Ihnen mitzuteilen, dass die Gitter angekommen sind und wir mit dem Einbau nur auf Sie warten.«

»Nanu? Dafür schickt er dich extra her?«

»Oh nein, ich soll auch dem Juden Schmul sagen, dass er die Ochsen abholen soll, wenn er nicht für das Futter zahlen will.«

»Aha, sind die Ochsen verkauft?«

»Ja, Herr Kobus, für dreihundertfünfzig Taler.«

»Das ist ein guter Preis. Komm doch herein, Susel, du brauchst dich nicht zu genieren.«

»Ich geniere mich nicht.«

»Oh doch... ich seh's dir an. Sonst wärst du gleich hereingekommen. Bitte, setz dich hierher.«

Er schob ihr einen Stuhl hin und öffnete mit zufriedener Miene wieder das Cembalo.

»Geht's allen gut bei euch, Vater Christel und Mutter Orschel?«

»Allen geht's gut, Herr Kobus, Gott sei Dank. Wir freuen uns darauf, dass Sie kommen.«

»Ich komme, Susel, morgen oder übermorgen komme ich sicher herüber.«

Fritz hatte jetzt große Lust, für Susel zu musizieren, sah sie lächelnd an und sagte schließlich zu ihr:

»Ich habe vorhin ein paar alte Melodien gespielt und dazu gesungen. Du hast mich wahrscheinlich von der Küche aus gehört. Kam's dir komisch vor?«

»Oh nein, Herr Kobus, im Gegenteil, ich war ganz traurig, denn schöne Musik macht mich immer traurig. Ich wusste nicht, wer da so schön spielte.«

»Warte«, sagte Fritz, »ich werde dir etwas Heiteres spielen, was dich aufmuntert.«

Er wollte Susel gern sein Talent vorführen und begann mit der Königin von Preußen Dies könnte Friedrich de la Motte Fouqués (1777-1843) Lied Wilhelm komm an meine Seite sein, zu dem eine Melodie im Dreivierteltakt vorliegt. Man hat das Lied der preußischen Königin Luise (+ 1810) als Sterbelied in den Mund gelegt und es in der mündlichen Überlieferung z.T. auch mit Königin Luise, Königin Luise an ihren Gemahl oder Tod der Königin Luise betitelt.. Seine Finger hüpften vom einen Ende des Cembalos zum anderen, sein Fuß tappte den Takt, und er kniff die Lippen zusammen, wie man tut, wenn man Angst davor hat, falsch zu spielen.

Fritz musizierte wie für die ganze Stadt. Von Zeit zu Zeit blickte er auf in den Spiegel, um das Mädchen zu sehen. Susels große blaue Augen weiteten sich vor Staunen, und ihr rosa Mündchen stand halb offen vor Entzücken.

Als Fritz mit dem Walzer fertig war und sich voll Stolz zu ihr umdrehte, sagte sie:

»Oh, ist das schön, ist das schön!«

»Ach was«, sagte er, »das ist noch gar nichts. Jetzt kommt etwas Herrliches: Die Belagerung von Prag. Man glaubt, die Kanonen donnern zu hören. Pass auf.«

Er spielte die Belagerung von Prag und geriet dabei derart in Schwung, dass das alte Cembalo bis in seine dünnen Beinchen hinein dröhnte und zitterte. Als Kobus hörte, dass Susel andauernd leise »ach, ist das schön!« seufzte, kam er erst richtig in Fahrt und konnte sich vor Glück kaum fassen.

Nach der Belagerung von Prag spielte er das Aschenbrödel und die große Ouvertüre zur Vestalin. Als ihm dann nichts mehr einfiel und weil Susel andauernd »oh wie schön, Herr Kobus, ach, wie schön Sie spielen!« sagte, rief er:

»Ja, es ist schön, aber wenn ich nicht erkältet wäre, würde ich dir etwas Rechtes vorsingen, Susel! Na egal, ich versuch's doch. Nur schade, dass ich erkältet bin.«

Noch während er redete, sang er drauflos, und seine Stimme erklang hell wie die eines Hahns, der sich inmitten seiner Hennen regt.

»Rosalind',
schönes Kind,
schenk mir dein Herz, sonst leide ich Schmerz!«

Er wiegte den Kopf langsam hin und her und riss den Mund bis zu den Ohren auf, stemmte sich am Ende jeder Strophe gegen die Rückenlehne, steckte die Nase in die Luft und schwankte wie ein Verzweifelter, während er eine halbe Stunde lang weinerlich wiederholte:

»Schenk mir dein Herz,
schenk mir dein Herz,...
sonst leide ich Schmerz!...
sonst leide ich Schmerz!
Ich leide Schmerz ... Schmerz!... Schmerz!...«

Bis ihm schließlich der Schweiß übers Gesicht lief.

Susel war errötet und hatte sich vornüber geneigt, ohne Kobus anzusehen, als ob sie sich über das Lied schämte. Als er sich zu ihr umdrehte, um ihr »wie schön! Was ist das schön!« zu hören, sah er, dass sie mit den Händen auf den Knien und niedergeschlagenen Augen leise vor sich hin seufzte.

Zufällig schaute er in den Spiegel und bemerkte, dass er selbst purpurrot geworden war. Da er nicht wusste, was man in einer so unverhofften Lage tut, ließ er die Finger hin und her und her und hin über das Cembalo gleiten und machte »prrruh! Puuuh!« Sein Haar war wildgesträubt.

In diesem Moment hörte Fritz, dass Katel die Küchentür zuwarf. Da sprang er auf und schrie wie ein Ertrinkender: »Katel! Katel!«

Katel kam herein.

»Ach, gut...« sagte er. »Schau her, Susel wartet schon seit einer Stunde auf dich.«

Als Susel ihre verwirrten großen blauen Augen zu ihm erhob, fügte er hinzu:

»Ja, wir haben musiziert... ein paar alte Melodien... alte Klamotten!... Nun ja, ich habe mein Bestes gegeben... aber aus einem alten Strohsack kann man kein Korn dreschen.«

Susel hatte ihren Korb genommen und ging mit Katel hinaus. Sie sprach ihr »guten Tag, Herr Kobus!« derart sanft, dass Fritz keine Antwort einfiel. Länger als eine Minute blieb er wie angewurzelt mitten im Raum stehen und starrte entgeistert die Tür an. Dann sagte er zu sich:

»Na großartig, Kobus! Hervorragend hast du auf dem alten Kasten geklimpert... ja... ja... wunderbar... du kannst stolz auf dich sein... das steht dir gut in deinem Alter. Soll doch der Teufel in die Musik fahren! Wenn ich auch nur noch den Kapuzinerpater Im Original Père Capucin, vermutlich die elsässische Variante eines erotischen Volkslieds, das auch mit Die Beichte betitelt ist und im 19. Jahrhundert im Elsass und in Luxemburg populär war. Der Text beginnt mit Es war gerade hundert Jahr bzw. Es war einst vor fünfhundert Jahr. spiele, gehört mir der Hals umgedreht!«

Fritz wartete das Mittagessen nicht ab, sondern nahm Stock und Hut und ging auf den Wallanlagen spazieren, um dort gründlich über sein überraschendes Erlebnis nachzudenken.


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