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Illustration: Theophile Schuler

IV

Gibt es auf Erden etwas Angenehmeres, als sich mit drei oder vier guten Freunden im alten Speisezimmer der Vorfahren an den gedeckten Tisch zu setzen, sich mit ernsthafter Miene die Serviette unter das Kinn zu heften, die Schöpfkelle in eine gute, fein duftende Krebsschwanzsuppe zu tauchen, die Teller weiterzureichen und dabei zu sagen: »Jetzt probiert einmal, Freunde, und sagt mir, ob's schmeckt«?

Ach, glücklich ist doch, wer so ein Essen geben kann, während die Fenster vor einem blauen Frühlings- oder Herbsthimmel geöffnet sind.

Wenn man das große Messer beim Hirschhorngriff nimmt und saftige Scheiben aus der Keule schneidet oder andächtig mit dem silbernen Spatel einen herrlichen, im eigenen Saft erkalteten Hecht mit dem Maul voll Petersilie längs zerteilt – wie ergriffen die anderen dabei zusehen!

Dann greift man hinter seinen Stuhl und holt noch eine Flasche aus dem Kühler, nimmt sie zwischen die Knie, um leise den Korken zu ziehen, und alle fragen sich schmunzelnd: »Was kommt denn jetzt?«

Ach, ich sage Euch, es ist ein großes Vergnügen, seine alten Zechkumpane auszuhalten und dabei zu denken, »so geht's jedes Jahr aufs neue, bis der Herrgott uns zu sich winkt und wir friedlich in Abrahams Schoß ruhen.«

Und wenn sich bei der fünften oder sechsten Flasche die Gesichter beleben, wenn die einen plötzlich das Bedürfnis an den Tag legen, den Herrn zu loben, der uns mit seinen Segnungen überhäuft, während die anderen den Ruhm des alten Deutschland mit seinen Schinken, Pasteten und edlen Weinen feiern; wenn Kaspar gerührt den Michel um Verzeihung bittet, weil er ihm etwas nachgetragen habe, wovon Michel niemals etwas ahnte; wenn Christian den Kopf auf die Schulter sinken lässt und leise lacht, während er an Vater Bischoff denkt, der seit zehn Jahren tot ist und den er längst vergessen hatte; wenn alle durcheinander über die Jagd und Musik sprechen, aber von Zeit zu Zeit innehalten und in ein Lachen ausbrechen – dann wird es richtig gemütlich, dann ist das Paradies, das wahre Paradies auf Erden.

Genauso ging es bei Fritz Kobus gegen ein Uhr nachmittags her. Der alte Wein hatte seine Wirkung getan.

Der lange Friedrich Schulz, der früher Sekretär des alten Kobus und davor Feldwebel bei der Landwehr von 1814 gewesen war, trug seinen weiten blauen Gehrock und eine gezopfte Perücke. Mit langen Armen und Beinen, flachem Rücken und spitzer Nase erläuterte er unter den drolligsten Gesten, dass er sich beim Frankreichfeldzug in irgendeinem Dorf im Elsass totgestellt und dadurch gerettet hatte, während ihm zwei Bauern die Stiefel ausgezogen hatten. Er raffte seine Lippen, weitete die Augen, breitete die Hände aus, als ob er noch in derselben üblen Lage sei, und rief: »Ich hab mich nicht gemuckst! Ich dachte, wenn du dich bewegst, sind sie imstande und stecken dir ihre Mistgabeln in den Rücken!«

Dies erzählte er dem dicken Steuereinnehmer Hahn Diese Figur ist wahrscheinlich dem Phalsbourger Steuereinnehmer Bougel nachempfunden, der ein Freund des Hauses Erckmann war ( Benoit-Guyod (s. Fußnote 4 zum Vorwort), S. 37 und 113)., der ihm zuzuhören schien. Er hatte einen runden Bauch wie ein Gimpel und ein purpurrotes Gesicht. Seine Krawatte war gelockert, die dicken Augen waren von Tränchen verschleiert, und er lachte, weil er an die Eröffnung der nächsten Jagdsaison dachte. Manchmal räusperte er sich, als ob er etwas sagen wollte, lehnte sich dann aber wieder langsam in den Sessel zurück. Seine schwere Hand mit den vielen Ringen lag neben seinem Glas auf dem Tisch.

Josef sah ernst aus; sein kupferfarbenes Gesicht spiegelte tiefe Betrachtung wieder. Er hatte das dicke wollige Haar zurückgeworfen, und sein schwarzes Auge verlor sich im Himmelblau oben hinter den großen Fenstern.

Kobus kicherte so sehr über die Geschichte des langen Friedrich, dass seine gerümpfte Nase sein Gesicht halb verdeckte. Er platzte aber nicht laut heraus, obwohl seine edlen Wangen aussahen wie eine Komödiantenmaske.

»Also prost!« sagte er, »noch einen Schluck! Die Flasche ist noch halbvoll.«

Die anderen tranken und ließen die Flasche von Hand zu Hand gehen.

Gerade in diesem Augenblick trat der alte David Sichel ein, und man kann sich die heiteren Rufe vorstellen, mit denen er empfangen wurde.

»He, David! ...David ist da! Pünktlich! ...Er kommt!«

Der alte Rabbiner ließ einen spöttischen Blick über die angeschnittenen Torten, zerwühlten Pasteten und leeren Flaschen spazieren, verstand sofort, dass das Fest auf den Höhepunkt zusteuerte, und schmunzelte in sein Bärtchen.

»He, David, das wurde aber Zeit«, rief Kobus ausgelassen, »zehn Minuten später, und ich hätte dich durch die Gendarmen holen lassen. Wir warten schon eine halbe Stunde lang.«

»Wenigstens nicht inmitten der Seufzer von Babylon Vgl. Ps 137, 1«, sagte der alte Rebbe scherzend.

»Das hätte uns gerade noch gefehlt«, sagte Kobus und bot ihm einen Sitzplatz an. »Komm, Alter, nimm einen Stuhl und setz dich. Nur schade, dass du diese Pastete nicht probieren darfst, sie ist nämlich köstlich!«

»Ja«, rief der lange Friedrich, »aber's geht nicht; sie ist trejfe D.h. eine nach dem Gesetz Mose unreine Speise, vgl. Lev 11, 7 und 8 sowie Dtn 14, 8.. Der Herr hat den Schinken und die Schweinswürste nur für uns gemacht.«

»Die Verdauungsbeschwerden auch«, sagte David mit leisem Lachen. »Oft hat mir dein Vater Johann Schulz davon erzählt. Das ist wohl ein Familienwitz, der bei euch vom Vater auf den Sohn übergeht wie die Zopfperücke und die Samthosen mit den beiden Schnallen. Dein Vater wäre noch frisch und munter wie ich, wenn er den Schinken und die Schweinswürste weniger lieb gehabt hätte. Doch keiner von euch Schaute will es hören, und daher geht ihr nach und nach in die Falle wie die Ratten, nur weil ihr den Speck so sehr mögt.«

»Da schaut einmal an, wie der alte Posche Jisroel Furcht vor Verdauungsbeschwerden vorschützt«, rief Kobus, »als ob ihm nicht das mosaische Gesetz im Weg wäre.«

»Schweig«, unterbrach ihn David näselnd, »ich sag's nur für diejenigen, die nicht einmal die besten Gründe verstehen würden. Für euch genügt dieser, weil er zu einem Feldwebel der Landwehr passt, der sich in einem Schlammloch im Elsass die Stiefel abziehen lässt, denn Verdauungsbeschwerden sind ebenso gefährlich wie Stiche mit der Mistgabel.«

Jetzt erscholl von überall ein gewaltiges Gelächter, und der lange Friedrich hob den Finger und sagte:

»David, das zahl ich dir noch heim!«

Er wusste aber nicht, was er noch antworten sollte, und der alte Rabbiner lachte aus vollem Herzen mit den anderen.

Die große Fränzel vom Gasthaus zum Roten Ochsen hatte den Tisch abgeräumt und brachte jetzt ein Tablett mit Tassen aus der Küche. Hinter ihr kam Katel, die ein weiteres Tablett mit der Kaffeekanne und den Flaschen voll Hochgeistigem auftrug.

Der alte Rebbe setzte sich zwischen Kobus und Josef. Friedrich Schulz nahm ernst eine dicke Ulmer Pfeife aus der Tasche seines Gehrocks, und Fritz holte eine Zigarrenkiste aus dem Schrank.

Kaum war Katel hinaus, und die Tür stand noch offen, als ein frisches, munteres Stimmchen aus der Küche erklang:

»Hallo, guten Tag, Fräulein Katel. Mein Gott, was für ein großes Essen! Die ganze Stadt spricht ja davon.«

»Pst!« rief die alte Magd, und die Tür fiel zu.

Im Speisesaal hatten sich alle Ohren aufgestellt. Der dicke Steuereinnehmer Hahn sagte:

»Meine Güte, so eine hübsche Stimme! Habt ihr das gehört? Hehehe, Kobus der alte Hecht, schau einer an!«

»Katel, Katel!« rief Kobus und drehte sich erstaunt um.

Die Küchentür ging wieder auf.

»Haben wir etwas vergessen, Herr Kobus?« fragte Katel.

»Nein, aber wer ist denn da draußen?«

»Das ist Suselchen, Sie wissen doch, die Tochter von Christel, Ihrem Gutsbauern im Meisental. Sie kommt mit den Eiern und frischer Butter.«

»Ach, die kleine Susel, schau einer an... Ja, schick sie doch herein! Ich habe sie schon seit fünf Monaten nicht mehr gesehen.«

Katel wandte sich um.

»Susel, Herr Kobus bittet dich herein.«

»Oh mein Gott, Fräulein Katel, ich bin ja nicht passend angezogen!«

»Susel«, rief Kobus, »komm doch!«

Da erschien ganz verschämt und mit gesenktem Kopf ein blondes und rosiges Mädchen Die Figur der Sûzel ist der wesentliche Daseinsgrund des Romans L'ami Fritz, denn Emile Erckmann wollte sich damit seine Jugendliebe aus der Seele schreiben ( Benoit-Guyod (s. Fußnote 4 zum Vorwort), S. 39 f und 112 f). In Sûzel ist zum einen die Tochter eines Phalsbourger Richters verewigt, die große, schlanke, blonde, blauäugige, oft in blau gekleidete Léontine Bonat, mit der Erckmann gern Walzer tanzte. Vor allem aber trifft die Beschreibung der Sûzel (kluge Augen, kleine, gerade Stupsnase, geflochtenes brünettes Haar, ländliche Tracht mit freien Unterarmen) auf Mlle Charlotte zu, die Tochter eines elsässischen Jagdhüters. Sie wurde als etwa 16jährige in Philippe Erckmanns Laden angestellt, und Emile Erckmann verliebte sich auf den ersten Blick in sie, offenbarte ihr aber aus Scheu nie seine Gefühle. von sechzehn oder siebzehn Jahren auf der Türschwelle. Mit ihren blauen Augen, der kleinen geraden Nase mit den hübschen Nasenflügelchen, dem Röckchen aus weißer Wolle und der niedlichen Schoßjacke aus blauem Leinentuch sah sie frisch wie eine Wildrosenknospe aus.

Alle bestaunten sie, und Kobus war überrascht über ihren Anblick.

»Was bist du groß geworden, Susel«, sprach er. »tritt doch näher und hab keine Angst, wir fressen dich schon nicht.«

»Ach, ich weiß doch«, sagte das Mädchen, »aber ich bin nicht richtig angezogen, Herr Kobus.«

»Angezogen!« schrie Hahn, »hübsche Mädchen sind eben nicht immer angezogen!«

Fritz drehte sich herum, schüttelte den Kopf, zog die Schultern hoch und sagte:

»Hahn, Hahn, sie ist doch noch ein Kind! Na komm, Susel, trink Kaffee mit uns. Katel, bring der Kleinen eine Tasse.«

»Das kann ich doch nicht annehmen, Herr Kobus!«

»Ach was – nun mach schon, Katel.«

Als die alte Magd mit einer Tasse zurückkam, saß Susel bereits aufrecht auf der Kante des Stuhls zwischen Kobus und dem alten Rebbe und war rot bis an die Ohren.

»Also, wie geht's auf dem Hof, Susel? Ist Vater Christel gesund?«

»Ja, ja, Herr Kobus, Gott sei Dank«, sagte das Mädchen, »es geht ihm sehr gut. Er lässt Sie vielmals grüßen, und meine Mutter auch.«

»Herzlichen Dank, das ist sehr nett. Habt ihr heuer viel Schnee gehabt?«

»Zwei Fuß rund um den Hof drei Monate lang, aber binnen acht Tagen war er geschmolzen.«

»Dann war die Saat ja gut zugedeckt.«

»Oh ja, Herr Kobus, alles wächst jetzt, und der Boden ist schon grün bis tief in die Furchen hinein.«

»Sehr schön, aber trink doch, Susel, magst du denn den Kaffee nicht? Möchtest du lieber ein Glas Wein?«

»Oh nein, ich trinke gern Kaffee, Herr Kobus.«

Der alte Rebbe sah das Mädchen zärtlich und väterlich an und wollte ihr selbst Zucker in den Kaffee geben. Dabei sagte er:

»Das ist ein liebes Mädchen, ja, ein liebes Mädchen, bloß ein wenig zu scheu. Na los, Susel, trink ein Schlückchen, das gibt dir einen Schubs.«

»Danke, Herr David«, antwortete das Mädchen leise.

Der alte Rebbe richtete sich zufrieden auf und schaute gütig zu, wie sie ihre rosigen Lippen in die Tasse tauchte.

Alle sahen entzückt dieses hübsche, sanfte und scheue Mädchen an. Sogar Josef lächelte. Sie hatte etwas vom Duft der Wiesen an sich, einen Hauch von Frühling und frischer Luft, etwas Beschwingtes und Zartes wie das Zwitschern der Lerche über einem Kornfeld. Wenn man sie ansah, glaubte man sich aufs Land versetzt, auf den alten Gutshof, gleich nach der Schneeschmelze.

»Also, da draußen wird jetzt alles wieder grün«, fuhr Fritz fort. »Habt ihr schon im Garten angefangen?«

»Ja, Herr Kobus, der Boden ist noch etwas kalt, aber in den letzten acht Sonnentagen hat alles zu wachsen angefangen. In zwei Wochen gibt's schon Radieschen.

Ach ja, mein Vater würde Sie gern sehen, wir sehnen uns alle sehr nach Ihnen und warten jeden Tag auf Sie. Mein Vater möchte einiges mit Ihnen besprechen. Die Bless hat letzte Woche gekalbt, und das Kleine wächst gut heran. Es ist ein weißes Kälbchen.«

»Ein weißes Kälbchen, na wie gut.«

»Ja, die weißen geben mehr Milch und sind auch hübscher als die anderen.«

Es wurde still. Kobus sah, dass Susel ihren Kaffee ausgetrunken hatte und sehr verschämt war. Er sagte zu ihr:

»Also, mein Kind, es war schön, dich zu sehen. Wenn du dich vor uns aber so genierst, kannst du jetzt zu der alten Katel gehen, sie wartet schon auf dich. Sie soll dir ein gutes Stück Pastete in den Korb legen, hörst du, sag's ihr, und eine Flasche guten Wein für Vater Christel.«

»Danke, Herr Kobus«, sagte das Mädchen und stand schnell auf.

Sie machte einen artigen Knicks und war schon draußen.

»Vergiss nicht, zu Hause anzusagen, dass ich spätestens in zwei Wochen hinkomme«, rief Fritz ihr nach.

»Nein, Herr Kobus, ich werd's nicht vergessen. Alle werden sich freuen.«

Sie hüpfte davon wie ein Vogel aus dem Käfig, und der alte David, dessen Augen vor Vergnügen funkelten, rief:

»Das nenn' ich ein hübsches Mädchen. Ich glaube, sie würde ein gutes kleines Hausfrauchen abgeben.«

»Ein gutes kleines Hausfrauchen, aber ja doch«, rief Kobus und lachte hell. »Der alte Posche Jisroel kann kein Mädchen und keinen Jungen sehen, ohne sich sofort zu überlegen, wie er sie verheiratet, hahaha!«

»Aber ja doch!« rief der alte Rebbe mit gesträubtem Bart, »ich hab's gesagt und ich sag's noch einmal: Ein gutes kleines Hausfrauchen! Was ist denn daran so schlimm? In zwei Jahren kann Suselchen heiraten; sie kann dann sogar schon ein rosiges Kindchen im Arm haben.«

»Ach sei doch still, du faselst ja schon.«

»Ich fasele... nein, du faselst, du Apikaures. Du magst ja sonst vernünftig sein, aber wenn's zum Kapitel der Heirat kommt, bist du ein wahrhafter Narr.«

»Also gut, ich bin ein wahrhafter Narr, und David Sichel ist ein Vernunftmensch. Welcher Teufel reitet bloß diesen alten Rebbe, dass er alle Welt verheiraten will?«

»Ist das denn nicht die Bestimmung von Mann und Frau? Hat nicht Gott bereits am Anbeginn gesprochen: ›Seid fruchtbar und vermehrt euch! Vgl. Gen 1, 22.‹? Ist es denn nicht verrückt, gegen den Willen Gottes anzugehen und allein zu...«

Da lachte Fritz derart, dass der alte Rebbe vor Empörung bleich wurde:

»Du lachst«, sagte er und nahm sich dabei sehr zusammen, »lachen ist leicht. Wenn du bis ans Ende aller Tage ›hahaha, höhöhö, hihihi‹ lachen könntest, dann hättest du's allen gezeigt, nicht wahr? Wenn du nur einmal vernünftig mit mir diskutieren wolltest, wie ich dich drankriegen würde! Doch du lachst bloß, öffnest deinen großen Mund – hahaha, deine Nase breitet sich auf deinen Wangen aus wie ein Fettfleck – und glaubst, mich besiegt zu haben. So geht's nicht, Kobus, so redet man nicht vernünftig.«

Während er sprach, ahmte der alte Rebbe Kobus' Art zu lachen mit derart grotesken Grimassen nach, dass niemand im Raum das Lachen verkneifen konnte, und Kobus selbst musste sich den Bauch halten, um nicht herauszuplatzen.

»Nein, so geht's nicht«, fuhr David mit seltsamer Lebhaftigkeit fort. »Du denkst nicht nach, hast's nie getan.«

»Ich tue doch nichts anderes«, sagte Kobus und wischte seine breiten Wangen ab, wo die Tränen kleine Ströme bildeten. »Ich lache doch nur wegen deiner verrückten Ideen und weil du mich für dumm verkaufen willst. Seit fünfzehn Jahren lebe ich hier mit meiner alten Katel ruhig vor mich hin und hab's mir richtig bequem gemacht. Wenn ich spazieren gehen will, gehe ich spazieren; wenn ich mich hinsetzen und schlafen will, setze ich mich hin und schlafe; wenn ich einen Schoppen trinken will, trinke ich einen; wenn's mir einfällt, drei, vier, fünf Freunde einzuladen, dann lade ich sie ein. Und du willst, dass ich das alles ändere! Du willst mir eine Frau anschleppen, die hier alles auf den Kopf stellt? Nein wirklich, David, das ist zuviel des Guten!«

»Glaubst du denn, dass es immer so weiter gehen kann, Kobus? Mach die Augen auf, Junge, das Alter naht, und bei deiner Lebensweise wird dir schon bald dein großer Zeh mitteilen, dass der Spaß zu lange gedauert hat. Dann willst du bestimmt eine Frau!«

»Katel wird mir genügen.«

»Die alte Katel hat das Beste schon hinter sich, wie ich. Irgendwann wirst du eine andere Magd nehmen müssen, und die wird dich ausplündern, Kobus, sie wird dich bestehlen, während du mit der Gicht im Bein im Sessel sitzt und stöhnst.«

»Quatsch«, unterbrach ihn Fritz, »wenn's soweit kommt... dann muss ich eben aufpassen. Bis auf weiteres mache ich mir deswegen keine Sorgen. Wenn ich mir aber eine Frau nehmen würde – und ich stelle mir das gut vor, stelle mir eine ausgezeichnete Frau vor, eine gute Hausfrau und so weiter –, dann, David, müsste ich sie doch spazieren führen, mit ihr auf den Ball des Herrn Bürgermeisters oder der Frau Landrat gehen, müsste meine Gewohnheiten ändern, dürfte nicht mehr den Hut aufs Ohr oder in den Nacken schieben oder das Halstuch locker tragen, müsste die Pfeife aufgeben... und das wäre die grässlichste Verzweiflung. Ich zittere, wenn ich nur daran denke. Siehst du, ich kann meine kleinen Angelegenheiten ebenso gut überlegen wie ein alter Rebbe, der in der Synagoge predigt. Jedenfalls geht mir das Vergnügen über alles!«

»Das klingt nicht gut, Kobus.«

»Was – das klingt nicht gut? Streben wir denn nicht alle nach dem Glück?«

»Nein, das ist nicht unser Ziel, denn sonst wären wir alle glücklich, und man würde nicht so viele Elende sehen. Gott hätte uns die Mittel gegeben, um unser Ziel zu erreichen, wenn's Sein Wille gewesen wäre. Er will, Kobus, dass die Vögel fliegen, und die Vögel haben Flügel. Er will, dass die Fische schwimmen, und so haben die Fische Flossen. Er will, dass die Obstbäume im Herbst Früchte tragen, und sie tun's. Jedes Wesen bekommt die Mittel, um an sein Ziel zu gelangen. Da aber der Mensch nichts hat, um damit glücklich zu werden, da es in diesem Moment auf der ganzen Welt keinen einzigen glücklichen Menschen gibt, der auf Dauer glücklich bleiben kann, ist bewiesen, dass Gott das Glück nicht will.«

»Was will er denn, David?«

»Er wünscht, dass wir uns das Glück verdienen, und das ist etwas ganz anderes, Kobus, denn um sein Glück zu verdienen, gleichgültig ob in dieser Welt oder einer anderen, muss man erst einmal seine Pflichten erfüllen. Die erste dieser Pflichten besteht aber darin, eine Familie zu gründen, eine Frau und Kinder zu haben, ehrliche Menschen zu erziehen und anderen die Gabe des Lebens zu vermitteln, die uns gespendet wurde.

»Ganz schön verrückte Vorstellungen hat er, der alte Rebbe«, sagte Friedrich Schulz und goss Kirschwasser in seine Tasse, »man könnte meinen, dass er glaubt, was er da sagt.«

»Meine Vorstellungen sind nicht verrückt«, antwortete David ernsthaft, »sie sind richtig. Wenn dein Vater der Bäcker so gedacht hätte wie du, wenn er die Plackerei abgeworfen und anderen zur Last gelebt hätte, und wenn der alte Zacharias Kobus die Dinge ebenso gesehen hätte, dann wärt ihr nicht hier mit der roten Nase und dem Bauch am Tisch, um die Früchte ihres Fleißes zu verprassen. Lacht den alten Rebbe nur aus, aber wenigstens sagt er euch einmal die Meinung. Die Alten haben auch manchmal gescherzt, doch die ernsthaften Dinge bedachten sie ernsthaft, und mit dem Glück kannten sie sich besser aus als ihr, das sage ich euch. Erinnerst du dich an ihn, Kobus, an deinen Vater, den alten Zacharias, der so ernst bei Gericht war, wenn er zwischen elf und zwölf Uhr nach Hause kam mit seiner Schachtel unter dem Arm? Sah er dich von weitem unter der Tür spielen, wie änderte sich sein Gesicht, wie begann er zu lächeln, als ob ein Sonnenstrahl auf ihn gefallen wäre. Wenn er dich dann in diesem Raum hier, in dem wir jetzt sind, auf seinen Knien herumhüpfen ließ, während du tausend Flegeleien dahergesabbelt hast wie auf der Gasse, was war der arme Mann glücklich! Geh doch in deinen Keller und hol die beste Flasche Wein, stell sie vor dich hin und lass uns sehen, ob du so lachen kannst wie er, ob dein Herz so vor Glück springt, ob deine Augen so leuchten, und ob du so die Melodie von den drei Husaren Nach Prof. Etlin (Fußnote 10 zum Vorwort, Anhangsband, S. 9) ist damit wahrscheinlich ein erstmals 1776 aufgezeichnetes Volkslied gemeint, das mit Es ritten drei Reiter beginnt. Es gibt allerdings noch andere Volks- und Kunstlieder mit diesem oder ähnlichem Titel. vor dich hinsingst, wie er's getan hat, um dich zu unterhalten!«

»David«, rief Fritz gequält, »lass uns von etwas anderem sprechen!«

»Nein! All eure kindischen Genüsse, der viele alte Wein, den ihr miteinander trinkt, alle eure Scherze, all das ist wertlos... ist das reine Elend gegen das Glück in der Familie. Denn nur dort ist man wirklich glücklich, weil man geliebt wird; dort lobt man den Herrn für seinen Segen. Doch ihr versteht ja nichts von alledem. Ich erkläre euch, was wahr und richtig ist, und ihr hört gar nicht zu.«

Der alte Rebbe hatte sich in Schwung geredet. Der dicke Steuereinnehmer Hahn starrte ihn mit geweiteten Augen an, und Josef murmelte von Zeit zu Zeit wirres Zeug.

»Was hältst du davon, Josef?« fragte Kobus schließlich den Zigeuner.

»Ich denke wie der Rebbe David«, sagte der, »aber ich kann nicht heiraten, weil ich zu gern unterwegs bin, und dabei könnten meine Kleinen umkommen.«

Fritz war in Gedanken versunken.

»Ja, er spricht nicht schlecht für einen alten Posche Jisroel«, sagte er und lachte, »aber's bleibt dabei, Junggeselle bin ich und Junggeselle bleibe ich.«

»Du?« rief David, »also gut, hör zu, Kobus, ich habe nie den Propheten gespielt, aber heute sage ich dir voraus, dass du heiraten wirst.«

»Dass ich heirate – hahaha! David, du kennst mich wohl noch nicht.«

»Jawohl, du wirst heiraten!« näselte der alte Rebbe ironisch, »du wirst heiraten!«

»Ich wette dagegen.«

»Wette nicht, Kobus, du verlierst.«

»Also gut, wenn... ich wette... mal sehen... ich setze mein Rebstück am Sonneberg, du weißt doch, das Gärtchen, das so guten Weißwein hervorbringt, mein bestes, das du kennst, Rebbe, das setze ich...«

»Wogegen?«

»Gegen überhaupt nichts.«

»Das nehme ich an«, sagte David, »alle hier sind Zeugen, dass ich's annehme! Diesen Wein, der mich nichts kostet, den will ich trinken, und nach mir sollen ihn meine beiden Söhne auch trinken, hähähä!«

»Sei still, David«, sagte Kobus und erhob sich, » der Wein wird euch niemals zu Kopf steigen.«

»Es ist gut, ist gut, ich nehme an. Hier ist meine Hand, Fritz.«

»Und hier ist meine, Rebbe.«

Dann drehte Kobus sich um und rief:

»Na und – gehen wir nicht in den Großen Hirschen, auf eine Erfrischung?«

»Ja, gehen wir in die Schenke«, schrien die anderen, »das wird ein hübscher Tagesausklang. Um Gottes Willen, war das ein gutes Essen!«

Alle standen auf und nahmen ihre Hüte. Der dicke Steuereinnehmer Hahn und der lange Friedrich Schulz marschierten voraus, Kobus und Josef hinterher, und der alte David Sichel machte munter den Schluss. Arm in Arm gingen sie die Kapuzinerstraße hinauf und traten in die Schenke zum Großen Hirschen, gegenüber der alten Markthalle.


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