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XVII. Die Schlüssel

Es dauerte eine Weile, bevor die Gemüsehändlerin die Schachtel mit Schwefelhölzern in ihrer geräumigen Tasche fand, und währenddessen standen die beiden Polizeibeamten in völliger Finsternis und atmeten den seltsamen blumengesättigten Duft, der den Raum füllte.

Dieser Duft gab den Anwesenden eine visionäre Empfindung von der Nähe des Todes. Es war, als ob der verrückte Professor bereits vor ihnen nach Hause gekommen, oder als ob seine Seele von dem erdfeuchten, kalten Luftzug in dem alten Haus die Treppe hinaufgetragen sei und jetzt in dem Blumenduft schwebte. Ähnlich empfinden Lebende oft die Nähe kürzlich Verstorbener auf dem Kirchhof in dem Duft der Blumenpracht auf dem Sarge. Das Gefühl, in der Nähe von etwas Ungewöhnlichem zu sein, wurde bei Asbjörn Krag so stark, daß er mit lauter Stimme wiederholte:

»Machen Sie Licht!«

Endlich glückte es der Alten, ein Streichholz zu entzünden. Beim ersten flackernden Schein sahen die Detektive ein Gewirr von Farben im Zimmer, eine intensive Glut längs der Wände, und als die Lampe brannte, bekamen sie eine Erklärung für diesen Farbenschimmer und den betäubenden Blumenduft: in einer langen Reihe von Flaschen und Kruken standen alle möglichen prächtigen und seltsamen Blumen. Einige waren in voller Blüte, die meisten aber – und diese waren es, die den betäubenden Duft aussandten – waren bereits im Verwelken und hingen traurig und sterbend mit ihren Köpfen.

»Friedhofsdieb,« murmelte Keller und betrachtete kritisch einige wundervolle Tulpen, die in einer grünen Wasserkanne standen.

»Kaum,« antwortete Krag, der einen hastigen Überblick über die ungewöhnliche Blumenpracht genommen hatte, »diese Blumen sind nicht aus Kränzen oder Buketts herausgerissen, sie sind aus Beeten abgeschnitten.«

Während er leise die Namen der verschiedenen Arten murmelte, zuckte er die Achseln, als ob er das Schicksal dieser schönen Blumen bedaure. Er hob eine schwarze Likörflasche, in der zwei bezaubernde Sonnenrosen standen und sagte:

»Diese hier sind vor kaum vierundzwanzig Stunden in einem Treibhaus gepflückt worden.«

»Aber in welchem Treibhaus?« fragte Keller.

Krag antwortete indirekt:

»Abbé Montrose war ein großer Blumenliebhaber.«

Keller lachte und zeigte auf das kleine Zimmer.

»Haben Sie die wahnsinnige Zusammenstellung von Abbé Montrose und dem verrückten Professor noch nicht aufgegeben,« sagte er. »Betrachten Sie doch nur alle diese geleerten und halb geleerten Flaschen Branntwein, und Liköre von der allergewöhnlichsten Sorte. Ist das nicht Beweis genug, daß hier ein Trinker gewohnt hat? Und der Wahnsinn des Trinkers hat sich darin geäußert, daß er die leeren Flaschen mit schönen Blumen schmückte, wie man Leichen schmückt. Hier hat erst vor kurzem ein großes Begräbnis stattgefunden, er war ja auch total betrunken, als wir ihn trafen.«

»Er war fast immer betrunken,« schob die Gemüsehändlerin mit ihrem groben Baß ein.

Keller lachte, wie nur der lachen kann, der vollkommen überzeugt ist:

»Und wenn ich an den vornehmen und angesehenen Abbé Montrose denke, den berühmten Gelehrten, der den ganzen Tag in seiner Bibliothek saß, in seine Studien vertieft, dann bin ich leider nicht imstande, Ihnen in Ihren kühnen Mutmaßungen zu folgen.«

»Ich habe gar keine Mutmaßungen,« sagte Asbjörn Krag, der den Blumen noch immer seine unverwandte Aufmerksamkeit schenkte. »Ich behaupte etwas, was ich ganz genau weiß: diese Blumen sind nicht von einem Friedhof gestohlen, sie sind kürzlich in einem Treibbaus abgeschnitten worden. Wissen Sie nicht, lieber Freund, daß Abbé Monrrose ein großer Blumenliebhaber war, er hatte ein herrliches Treibhaus in seinem Garten. Diese Blumen gehören Abbé Montrose – mag er tot oder lebendig sein.«

»Sie können sich also immer noch nicht von dem Gedanken trennen, daß der verrückte Professor mit Abbé Monrrose identisch ist?«

»I bewabre, diesen Gedanken habe ich schon lange fallen lassen. Ich stelle nur fest, daß diese Blumen uns von neuem mit Abbé Montroses Garten, und dadurch mit dem Verbrecher in Verbindung bringen. Ich bedaure von neuem, daß der verrückte Professor tot ist, sonst hätte er uns das Rätsel leicht lösen können.«

Die Gemüsehändlerin brummte ungeduldig. Offenbar wollte sie ungern mit den Aufschlüssen, die sie geben konnte, einbrennen. Wie die meisten ihrer Gesellschaftsklasse war sie glücklich, wenn sie der Polizei einen Dienst erweisen konnte.

Sie erzählte, daß der verrückte Professor, der sich Warren nannte, vor zwei Jahren dieses Zimmer gemietet habe. Gleich von vornherein habe er sich so sonderbar benommen, daß es ihr aufgefallen sei.

»Erstens hatte er offenbar nichts zu tun,« sagte sie, »und Menschen, die nichts zu tun haben, sind mir immer verdächtig. Dagegen hatte er die Eigenschaft, daß er sich gern verkleiden mochte: als er mal in den Besitz eines Doktorhutes kam, so einem, wie man sie auf der Universität trägt, war er glücklich. Da trieb er sich hier in der Nähe auf den Straßen herum, redete Leute an, bis die Polizei ihm den Doktorhut fortnahm, weil er immer eine Volksmenge um sich versammelte und den Verkehr hinderte. Er trank fürchterlich, und wenn er betrunken war, hielt er lange und sonderbare Zwiegespräche hier oben in seinem Zimmer. Stundenlang konnte er predigen, als ob er auf einer Kanzel stehe. Häufig kam er mit Blumen nach Hause, die er unter seinem Mantel verbarg, und sobald er eine Flasche leer getrunken hatte, schmückte er sie mit Blumen. Gestern war er ganz wild vor Freude, weil er in den Besitz eines ganzen Priesteranzugs gekommen war, mit dem er sich ausstaffiert hatte.«

»Hatte er bisweilen Besuch?« fragte Krag.

»Selten,« antwortete Frau Großmann, »und dann waren es meistens Trunkenbolde, die er von der Straße aufgesammelt hatte und mit denen er zechte. Vor einigen Stunden aber waren hier zwei Männer, die nach ihm fragten.«

Krag bat sie, diese beiden Männer zu beschreiben und Keller war sich bald darüber klar, daß es die Männer waren, die ihn geknebelt hatten und dann durchs Fenster geflohen waren. Das teilte er Krag mit, und Krag schien sich nicht darüber zu wundern. Die Detektive begannen jetzt das Zimmer näher zu untersuchen, aber sie fanden nichts weiter als einige vertragene Kleidungsstücke und einige Bogen Papier, worauf seltsame Krähenfüße gemalt waren.

»Sind das assyrische Schriftzeichen?« fragte Keller und betrachtete das Papier neugierig.

Krag lachte.

»Entweder ist es die Schrift eines Geistesgestörten«, antwortete er, »oder auch eine Sprache, die kein Lebender deuten kann. Ich glaube ersteres, denn es sind Brocken von ursprünglichem Wissen und Kenntnissen dabei. Sehen Sie hier einige chinesische Schriftzeichen, hier einige Hieroglyphen, hier einen griechischen Satz. Hallo, was ist denn das?«

Krag hatte zufällig mit dem Arm an eine alte Jacke gestoßen, die in einer Ecke hing, und hörte ein klirrendes Geräusch.

Der Detektiv hielt die Jacke ans Licht. Er sah, daß sie frische Spuren von Erde hatte.

»Ist das seine Jacke?« fragte er.

Frau Großmann nickte, das Kleidungsstück war ihr wohl bekannt.

Vorsichtig, damit die Erde nicht abbröckelte, untersuchte Krag die Jacke.

In den Taschen lagen einige abgerissene, grüne Blatter.

»Er hat Blumen in dieser Jacke nach Hause getragen,« sagte Krag, »erst kürzlich, denn die Taschen sind noch feucht von den nassen Blättern, außerdem ist frische Erde auf dem Zeug. Sie werden sehen, daß es Erde aus Abbé Montroses Treibhaus ist.«

»Was aber klirrt dort in der linken Tasche?« fragte Keller ungeduldig.

Krag nahm vorsichtig ein Schlüsselbund aus der Tasche. Die Gemüsehändlerin trat näher, um besser zu sehen.

»Das sind nicht seine Schlüssel,« brummte sie.

»Woher wissen Sie das?«

»Was sollte er wohl mit all den Schlüsseln? Er hatte nur einen Schlüssel für das Haustor und einen für die Tür. Und die sind nicht dabei.«

Das Bund enthielt acht größere und kleinere Schlüssel, alle aus Stahl, blank und fein. Dazwischen war auch ein kleiner silberner Schlüssel, der offenbar zu einem Schrein gehörte. Und an dem Bund war ein kleines Schild von Silber befestigt, wie ein Schild gehämmert, wo der Buckstabe M eingraviert war.

»Derartige Funde gefallen mir,« sagte Krag vergnügt. »Lassen Sie mal sehen, was haben wir jetzt alles beisammen: vor allen Dingen die Quittung über die sechs Arbeitstage, dann das Halstuch in den leuchtenden spanischen Farben, ferner die Photographie von Clary Singer. Die Jacke mit den frischen erdigen Flecken, und schließlich dieses Schlüsselbund. Es sind allerdings sehr verschiedene Sachen, solche Dinge bilden aber doch schließlich eine Kette. Das Namenschild trägt den Buchstaben M, wie Sie sehen. Montrose?« fragte Krag nachdenklich.

»In dem Fall wären es Abbé Montroses Schlüssel,« sagte Keller, »und was dann?«

»Ja, was dann,« antwortete Krag und wog das Schlüsselbund in seiner Hand. Er zählte die Schlüssel.

»Acht,« sagte er, »wenn es Abbé Montroses Schlüssel sind, können wir durch seine Wohnung gehen und probieren, wo sie passen.«

»Und was kann uns das helfen?« fragte Keller.

»Nein, natürlich,« murmelte Krag halblaut und abwesend. Es war, als ob er laut dächte und sich um die anderen im Zimmer gar nicht kümmerte. »Aber,« fügte er hinzu, »wenn Schlüssel in diesem Bund sind, die zu keinem Schloß in der Wohnung des Abbés passen, zwei überflüssige Schlüssel, zwei Schlüssel, deren Verwendung uns unklar ist –«

»Was dann?« fragte Keller wieder.

»Ja, was dann,« antwortete Krag.

Da hörten sie Lärm auf der Treppe.


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