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Schutzmann Nummer 314 steckte seine Signalflöte in die Tasche, blieb regungslos stehen und spähte die Straße hinunter. Die Uhr mochte ungefähr drei sein, es war eine ganz stille Frühlingsnacht und ziemlich dunkel. Der Himmel war von schwarzen Wolken bedeckt. Es hattehatte kürzlich geregnet, und die Luft war von einem betäubenden Blumenduft aus den Gärten gesättigt. Kein Wagenrollen und keine Schritte waren zu hören. Die asphaltierte Straße stieg sanft an und verschwand am Horizont. Zu beiden Seiten der Straße lagen Villen, unter den duftenden Blüten der Fruchtbäume halb begraben. Kein Licht in den Fenstern. Der Schutzmann lauschte noch immer, während er einen bestimmten Teil der Straße im Auge behielt, der von einem hohen und vornehmen Gitter aus Schmiedeeisen begrenzt war. Dahinter ragte die Silhouette eines schlanken Kirchturms zwischen den dunklen Kronen der Bäume hervor. Auch andere Teile eines Gebäudes waren zwischen den Bäumen sichtbar, der Schimmer von einer schönen Fassade, Bruchteile von Gesimsen und ein Stück Mauer. Von hier draußen sah es aus, als ob ein großer Herrensitz oder ein altes Schloß in der Stille des Gartens hinter den dichten Eisenstäben des Gitters träumte.
Endlich ertönte der Laut von Schritten weiter hinten in der Straße, die hastigen Schritte näherten sich, und der lauschende Schutzmann nickte erfreut. Ein Mann kam angelaufen. Kurz darauf schien er aus dem Schatten der Bäume aufzutauchen. Es war ein zweiter Schutzmann.
»Beeile dich,« rief Nummer 314. »Hier geht etwas vor.«
»Ich habe dein Signal gehört,« antwortete der andere atemlos. »Was ist denn los?«
Dieser Schutzmann trug in blanken Messingziffern die Nummer 12 auf seiner Uniformmütze.
314 zeigte auf das Gitter.
»Da drinnen,« antwortete er erklärend, während er den anderen mit sich zog, »Geschrei, Lärm und zersplitterte Fensterscheiben.«
»I du meine Güte,« rief Nummer 12 erstaunt. »Dort drinnen?«
Die beiden Schutzleute blieben vor dem großen Portal von kunstvoll geschmiedetem Eisen zwischen massiven Granitsockeln stehen, das den Eingang zu dem Besitztum bildete. Natürlich, das Tor war verschlossen.
314 überlegte einige Sekunden, und um keine Zeit mit unnötigen Erklärungen zu verlieren, sagte er laut:
»Es ist besser,« sagte er, »über das Gitter zu steigen, als um das Haus herum zu der anderen Straße zu laufen.« (Das große Besitztum breitete sich nämlich zwischen zwei Straßen wie eine Parkanlage aus.)
Nummer 12 war derselben Meinung, und wie geübte Turner kletterten sie schnell über das Gitter. Sie machten so wenig Lärm wie möglich, dennoch konnten sie es nicht verhindern, daß es um sie herum knackte, als sie von dem Gitter in das dichte Gebüsch hinuntersprangen. Ohne sich zu besinnen, rannten sie weiter auf das Gebäude zu, das jetzt deutlicher in dem hinteren Teil des Gartens zu sehen war.
»Schnell, schnell!« rief 314, indem er weiterraste, denn während sie liefen, hörten sie von neuem Lärm von Stimmen und zerbrochenen Fensterscheiben.
»Hörst du?« rief Nummer 12.
»Ja,« stieß der andere hervor.
»Sie schimpfen und fluchen. An so einem Ort, hu! Jetzt kneifen sie aus.« Klappernde und eilige Schritte von laufenden Menschen entfernten sich in die entgegengesetzte Richtung, man hörte das Krachen von Zweigen und Ästen. 314 setzte die Signalflöte an den Mund und pfiff höchst jämmerlich. Dann wurde alles still. Die Schutzleute wußten, daß die andere Straße nicht asphaltiert war. Darum konnte man dort laufen, ohne daß die Schritte auf dem weichen Boden zu hören waren. Die Gewalttäter, wer sie auch sein mochten, hatten sich wahrscheinlich schon zwischen den vielen Gäßchen dieses Stadtteils in Sicherheit gebracht.
Die Schutzleute hatten jetzt die Haupttür erreicht. Wieder dachte 314 laut. Es war ihm klar, daß ein Einbruch stattgefunden hatte. Ein losgerissener Fensterflügel mit zerbrochenen Scheiben hing lose in den Angeln und kreischte kläglich. Drinnen flackerte ein unruhiger, aber schwacher Feuerschein. Das bestimmte ihn.
»Steig durchs Fenster und sieh nach, was drinnen los ist,« sagte er zu Nummer 12. »Ich mach indessen, daß ich weiterkomme.«
Während der andere Schutzmann durch das offene Fenster stieg, lief 314 durch den Garten, um, wenn möglich, noch einen Schimmer von den Verbrechern zu erhaschen. Aber alles war jetzt wieder ganz still. Er konnte deutlich ihren Weg über die niedergetretenen Blumenbeete und an den geknickten Ästen vorbei verfolgen. Als er zum Gitter kam, sah er einen dunklen Stoffetzen von einer Eisenstange flattern. Er kletterte hinauf und nahm ihn an sich. Es war ein abgerissenes Stück von einem Priesterrock, wie die katholischen Priester ihn zu tragen pflegen.
314 blieb auf dem Gitter sitzen und sah sich spähend um. Aber es war nirgends ein lebendes Wesen zu entdecken. Die Straße war wie ausgestorben. Der dämmernde Frühlingsmorgen warf einen schwachen Schein in das Gäßchen hinab und blitzte auf Fenstern und Ladenschildern.
Dort in dem Straßengewirr, dachte 314 bei sich, verbergen sie sich. Und er seufzte, denn er wußte, daß es vorläufig hoffnungslos sein würde, die Verbrecher in diesem Großstadtchaos zu suchen, wo die Straßen sich kreuzten wie Risse in altem Lehm.
Nachdem er den Garten längs des Gitters vergeblich untersucht und keine Spur gefunden hatte, kehrte er mit dem Stoffetzen in der Hand zu seinem Kollegen zurück. Hätte Nummer 314 den geringsten Sinn für Naturschönheit gehabt, würde ihm die wunderbare Ruhe, die frühlingsmilde Stille, die nach dem Lärm im Garten herrschte, ans Herz gegriffen haben. Die Bäume neigten sich groß und unbeweglich über die weißen Gartenwege; die Blumenbeete, die noch feucht waren nach dem abendlichen Regen, strömten leise Wohlgerüche aus. In einer Laube von dichtem wildem Wein standen Liegestühle aus hellem Korbgeflecht, über dem einen Stuhlrücken hing achtlos eine vergessene Decke. Tiefer drinnen im Garten sah man über den Bäumen den Turm einer kleinen roten Ziegelsteinkirche – und gerade vor 314 lag das Wohnhaus, wo der Einbruch stattgefunden hatte, ein entzückendes kleines Fachwerkgebäude, von Beeten mit weißen und blauen Frühlingsblumen umgeben, die Mauern waren von dem dichten Grün der Schlinggewächse bedeckt und über dem Dach schwebten Kirschbaumkronen wie duftende Wolken. Das ganze Gebiet von der Kirchturmspitze bis zum Gitter schien nichts als seltsame, sanfte Ruhe auszudrücken, in die die Erinnerung an das Geschrei und den Lärm der zersplitterten Fensterscheiben wie etwas sinnlos Unzugehöriges hineinklang. Nichts von all diesem aber empfand Nummer 314, während er auf das niedrige Fachwerkgebäude zuschritt. Er rechnete nur trocken und planmäßig: Einbruch zehn Minuten vor drei Uhr – er dachte bereits an den Rapport. Und verständig wie er war, dachte er gleichzeitig an die Einwendungen, die gemacht werden würden: Warum, würde man ihn vielleicht auf der Polizeibehörde fragen, warum lief nicht einer von Ihnen auf die andere Seite des Hauses. Darum, wollte er antworten, weil man selbst bei hastigstem Lauf nicht weniger als fünf Minuten gebraucht hätte, um um das Haus herumzugelangen. Und von dem Augenblick, wo die Schutzleute beim Gitter standen, bis die Diebe verschwanden, waren kaum zwei Minuten vergangen. So dachte 314.
Als er in die Nähe des Hauses kam, wurde die breite Tür aufgerissen und in der Tür stand Nummer 12.
»Hier ist niemand,« sagte Nummer 12, »keine lebende Seele.«
Etwas Merkwürdiges in seiner Stimme weckte indessen 314's Aufmerksamkeit. 314 blieb auf dem Gartenweg stehen. Der Morgen wurde heller und heller. Die blauen Uniformen der Schutzleute hoben sich grell von dem gelben Sand ab. Die Stimmen der Polizeibeamten klangen fast metallisch scharf.
»Hast du was gesehen?« fragte 314.
»Es sieht schrecklich aus drinnen,« antwortete Nummer 12. »Alles ist durcheinander geworfen. Und überall ist Blut.«
»Aber das Feuer?«
»Das Feuer ist gelöscht.«
314 ging weiter. Der Sand knirschte unter seinen schweren Stiefeln.
Dies fand statt am 2. Mai im Garten der katholischen Gemeinde. Die Kirche, deren Turm und Dach zwischen den Bäumen sichtbar war, war die kleine katholische Kirche der großen protestantischen Stadt.
Und das Wohnhaus im Garten gehörte dem gelehrten Abbé Montrose.