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»Die Tageszeitung«, die um zwölf Uhr herauskam, war die erste Zeitung, die einen ausführlichen Bericht aber das seltsame Ereignis brachte. Die Zeitung behandelte das Geschehnis recht ausführlich, da es nach Meinung der Redaktion keinen Zweifel gab, daß hier ein merkwürdiges und häßliches Verbrechen begangen sei. Die Zeitung legte das Hauptgewicht auf das mystische Verschwinden von Abbé Montrose.
Hier einige Auszüge aus dem Manuskript des Berichtes: »Das Verbrechen ist zwischen zwei und drei Uhr heute nacht begangen worden. Nach den Fußspuren im Garten zu urteilen, sind mindestens drei, wahrscheinlich aber noch mehr Personen, an dem Verbrechen beteiligt gewesen. Sie beabsichtigten Abbé Montroses Wohnung zu plündern, wo man teure Wertgegenstände vermutete. Hierin haben die Missetäter sich auch nicht geirrt. Abbé Montrose ist, wie bekannt, ein sehr reicher Mann, der eine ästhetische Vorliebe für alte Schmucksachen hatte und wahrscheinlich eine ganze Sammlung davon besaß. Einige davon bewahrte er in seiner Bibliothek in einem vierhundertjährigen alten venezianischen Wandschrank auf. Dieser Schrank ist zerbrochen und sein Inhalt verschwunden. Ferner hat man festgestellt, daß der Abbé tags zuvor zehntausend Kronen in der Bank erhoben hat, mit denen er die Wochenrechnungen des katholischen Hospitals bezahlen wollte. Abbé Montrose war nämlich der Kassenführer des Hospitals. Die Auszahlungen pflegten am Freitag stattzufinden. Daß das Verbrechen gerade in der Nacht zum Freitag begangen ist, kann der Polizei ein Fingerzeig sein, daß man die Verbrecher zwischen denen suchen muß, die mit den lokalen Verhältnissen vertraut waren. Diese zehntausend Kronen sind auch gestohlen.
Abbé Montrose« – fuhr die Zeitung fort – »hatte sein Schlafzimmer neben der Bibliothek. Wahrscheinlich ist er durch das Geräusch, das die Verbrecher in der Bibliothek machten, geweckt worden. Aber bereits hier zeigt sich der erste mystische Umstand. Anstatt nämlich gleich ins Nebenzimmer zu stürzen und die Diebe zu verscheuchen, hat Abbé Montrose sich gute Zeit zum Ankleiden gelassen und sich erst, nachdem er den Priesterrock übergeworfen hat, in die Bibliothek begeben. Was sich dann ereignete, ist schwer zu verstehen. Einer der Verbrecher mag eine Pfeife geraucht und sie beim Erscheinen des Abbés in seiner Kirchentracht, vor Schreck von sich geworfen haben; vielleicht war es die Absicht des Abbés, den Verbrechern zu imponieren. Die brennende Pfeife hat auf dem Teppich Feuer gefangen, das von den Schutzleuten gelöscht wurde. Die Blutspuren und der Zustand des Zimmers beweisen, daß ein furchtbarer Kampf stattgefunden hat. Abbé Montrose hat es verstanden, in der kurzen Zeit, wo er als Haupt der katholischen Gemeinde wirkte – wenn auch keine Freundschaftsverbindung, denn er ist ein sehr verschlossener Mann –, so doch höchste Anerkennung für seine Wohltätigkeit und großen wissenschaftlichen Verdienste zu erringen. Wir bedauern darum, der Ansicht Ausdruck geben zu müssen, daß dieser hochgeachtete Mann wahrscheinlich das Opfer eines Verbrechens geworden ist. Gleichzeitig aber müssen wir auf die Mystik hinweisen, die die Sache in ihr Dunkel einhüllt. Am merkwürdigsten ist der Umstand, daß die Verbrecher Zeit gefunden haben, den Abbé – tot oder lebendig – zu entführen. In welcher Absicht dies geschehen sein könnte, ist sowohl für die Polizei, wie für andere, die sich in diese merkwürdige Angelegenheit vertieft haben, ein bisher unlösbares Mysterium.
Bei Redaktionsschluß« – so endet die Darstellung – »erfahren wir, daß man noch nichts von dem Abbé weiß. Die letzte Spur des verschwundenen Priesters ist der Fetzen seines Rockes, den die Schutzleute an dem Gitter gefunden haben.«
Diesen Artikel las Asbjörn Krag, während er auf der Fensterbank in Detektiv Kellers Kontor saß. Nach beendigter Lektüre legte er die Zeitung beiseite und wandte sich dem Fenster zu. Die Räume des Polizeiamtes gingen auf einen großen, offenen Platz hinaus, auf dem mehrere Straßen mündeten und wo der Verkehr der Großstadt lärmte. Krag war allein im Zimmer, aber er schien auf jemanden zu warten, denn er sah mehrmals ungeduldig auf seine Uhr. Schließlich ging die Tür auf und Keller kam herein.
»Der Mann hat recht,« sagte Keller und reichte Krag ein Stück Papier. »Es scheint wirklich, daß Abbé Montrose seine Aufzeichnungen auf solche kleinen Papierfetzen machte. Ich habe mehrere gefunden.«
Während Krag den Zettel las, vertiefte Keller sich in die Tageszeitung, die Krag beiseite gelegt hatte.
Das Stück Papier, das Keller Krag gegeben hatte, war eine abgerissene Seite von einem Block, auf der folgendes stand:
»Habe Gartenarbeiter S. für sechs Arbeitstage dreißig Kronen ausbezahlt.« Dann kam das Datum: 1. Mai.
»Das ist eine Entlastung für ihn,« sagte Krag, »wir wollen ihn aber trotzdem in Haft behalten.«
»Natürlich,« antwortete Keller und blickte von der Zeitung auf. »Die Tageszeitung weiß übrigens noch nichts von der Verhaftung,« fügte er hinzu, »und das ist gut. Diese verfluchten Reporter mit ihrer Geschwätzigkeit verderben uns immer das Spiel. Der Abbé aber ist noch immer verschwunden und der Schreck in der Gemeinde ist groß. Mary, seine alte Haushälterin, hat den ganzen Vormittag geweint. Ich habe eben den Rapport von unserem fliegenden Korps bekommen, nirgends eine Spur, obgleich das ganze Mayonnaise-Viertel kreuz und quer durchsucht worden ist.« (Mayonnaise-Viertel wurde in der Polizeisprache jener unruhige und chaotische Stadtteil genannt, der hunderttausend mehr oder weniger zweifelhafte Individuen beherbergte und der seine schmutzigen Ausläufer bis zu dem vornehmen Viertel erstreckte, wo die katholische Gemeinde ihre Kirche, ihr Hospital und ihren großen Garten hatte.)
Keller schlug sich mit der zusammengefalteten Zeitung aufs Knie.
»Wenn ich nur begreifen könnte,« sagte er, »was mit der Entführung des Priesters bezweckt wird. Tot oder lebendig haben sie ihn mitgeschleppt. Was in aller Welt wollen die Herren Verbrecher damit erreichen? Ist es eine Erpressungssache, eine Entführung?«
»Warum gerade Abbé Montrose entführen, der weder Familie noch Freunde hat?« sagte Krag. »Und gesetzt den Fall, daß die Verbrecher ihn umgebracht haben, – aus einem Toten kann man doch kein Geld mehr herausschlagen.«
»Nein eben. Wozu dann aber all diese Umstände? Bedenken Sie, die Verbrecher haben ihn über das Gartengitter und mit in die Mayonnaise geschleppt. Ist es nicht auch seltsam, daß keiner Zeuge dieses ungewöhnlichen Schauspiels gewesen ist? Wozu wollen Sie nun greifen? Dem Arrestanten noch weiter zu Leibe gehen?«
»Nein,« antwortete Krag, »ich will ihn bis auf weiteres in Ruhe lassen. Ich erwarte eine Mitteilung vom Hafen. Ich kann nämlich das alte Seemannslied von den bunten spanischen Farben nicht vergessen.« –
Dieses Gespräch fand ungefähr um ein Uhr mittags zwischen den beiden Detektiven statt. Das Gespräch verriet, daß sich etwas Wichtiges ereignet hatte: Man hatte eine Verhaftung vorgenommen. Diese Verhaftung war noch ein Geheimnis für die große Öffentlichkeit.
Was war es, was sich ereignet hatte?
Folgendes. Asbjörn Krag und Keller hatten, nachdem der vorgeschriebene Rapport mit dem dazugehörigen Verzeichnis über die gefundenen Sachen abgeschlossen war, die übrigen Beamten fortgeschickt. Darauf hatten die beiden Detektive in einer Konferenz die Umstände zu sammeln versucht, die für die augenblickliche Lage Bedeutung haben konnten. Es gab genügend Spuren.
»Eines ist sicher: Die Verbrecher sind überrascht worden. Ein heftiger Kampf hat stattgefunden, höchstwahrscheinlich zwischen ihnen und dem Abbé. Er hat sich tüchtig verteidigt. Darauf deutet das Aussehen des Zimmers und der Sachen, die die Verbrecher in der Hitze des Gefechts verloren haben. Diese Gegenstände, das Halstuch, die Photographie, der Tabaksbeutel usw. verraten gleichzeitig, daß die Verbrecher wahrscheinlich zwischen dem Pack zu suchen sind, das sich in dem Schlupfwinkel des Mayonnaise-Viertels aufhält. Mehrere dieser Sachen leiten zu direkten Spuren hin, vor allen Dingen die Photographie.«
»Es ist die Photographie einer jungen Dame,« fuhr Krag fort, »eines jener hübschen, sympathischen, jungen Mädchen, wie man sie zu Tausenden in den Zigarren- oder Modegeschäften der Stadt findet. Wahrscheinlich ist sie die Braut eines der Verbrecher und heißt Anni, oder Dolli oder Polli oder dergleichen. – Die Photographie ist augenblicklich der beste Wegweiser, der zur Aufklärung des Verbrechens führen kann. Lassen Sie uns dem Wegweiser folgen.
Auf der Rückseite der Photographie steht nämlich Name und Adresse des Ateliers, abgesehen von der Nummer 2,007 und dem bekannten Satz: ›Die Platte wird für Nachbestellungen aufbewahrt.‹ Ferner ist die Photographie ziemlich schmutzig und scheint seit längerer Zeit von dem Besitzer in der Tasche getragen zu sein. Eine genaue Untersuchung wird wahrscheinlich Fingerabdrücke und weitere Merkmale an den Tag bringen.«
Das alles war der Grund, weshalb Photograph Arendorff bereits morgens um sechs Uhr aus dem Bett geholt wurde und die beiden Herren in sein Atelier begleiten mußte. Eine Minute später war man sich darüber klar, daß die Photographie die Frau des Arbeiters Arnold Singer, Husarenweg 28, darstellte.
Um sieben Uhr befanden Krag und Keller sich vor Nummer 28 auf dem Husarenweg. Hier stießen sie auf einen Mann, dem sie die Photographie zeigten, und der sagte:
»Das ist das Bild meiner Frau und die Photographie gehört mir.«
Die Einzelheiten bei der Begegnung zwischen den Detektiven und diesem Mann aber waren derartig, daß sie die größte Bedeutung für die Entwicklung dieser sonderbaren Sache bekommen sollten.
Darum ist es nötig, ausführlicher auf das Geschehene einzugehen, von dem Augenblick, wo die Detektive das Atelier des schlaftrunkenen Photographen verließen, bis zu der Begegnung mit dem Mann auf dem Husarenweg.
Also: Krag und Kellner verließen den Photographen. –